# taz.de -- Interview mit Historiker Paul Ginsborg: "Italiener meckern gern über den Staat"
       
       > Die italienische Linke tut sich bis heute schwer, eine Position gegenüber
       > Berlusconi zu finden. Der Historiker Paul Ginsborg über Versäumnisse der
       > Opposition und die Zukunft Italiens.
       
 (IMG) Bild: Silvio Berlusconi muss sich seine Macht nicht teilen - für viele Italiener gibt es keine Alternative. Ginsborg nennt es "Tyrannenherrschaft".
       
       taz: Herr Ginsborg, Ihr Buch heißt "Italien retten" - ein Titel, der das
       Bild von einem Land am Abgrund nahelegt. Ist die Situation wirklich so
       dramatisch? 
       
       Paul Ginsborg: Ich wollte kein katastrophales Bild entwerfen. Im Gegensatz
       zu anderen Büchern, die in letzter Zeit auf den Markt kamen, ist meines ein
       Buch voller Vorschläge, am Ende sogar voller Hoffnung. Es ist ein Buch
       gegen den Strom, wie ich schon im Vorwort darlege, gegen alle Freunde und
       Kommentatoren, die Italien schon als erledigt betrachten. Ich habe
       einigermaßen die Nase voll von jenen, die immer nur das Schicksal des
       Landes bejammern. Ich frage nach möglichen Lösungen, ohne die Tiefe der
       Krise zu verschweigen.
       
       Niedergang und Dekadenz sind zwei Schlüsselwörter, wann immer in den
       letzten Jahren über Italien räsoniert wurde, und ein weiteres ist
       selbstverständlich Berlusconi. Welchen Zusammenhang gibt es da? 
       
       Der Niedergang ist unbestreitbar, und ich rede da absolut nicht nur von der
       Wirtschaft. Weitere Kriterien sind "das gute Leben" und die Regeln, die
       moralische Verfassung Italiens. Jedoch gehen ökonomischer und moralischer
       Niedergang Hand in Hand. Bevor wir über Berlusconi reden, ist festzuhalten,
       dass die Mitte-links-Parteien in den Jahren ihrer Regierung (wie von 1996
       bis 2001) in gravierender Weise ihre Gelegenheit verspielt haben. So haben
       sie es versäumt, in Schulen und Universitäten, sprich: in die Zukunft zu
       investieren. Aus 22-jähriger Erfahrung als Professor sage ich: Auf diesem
       Feld bietet sich uns ein Desaster.
       
       Und Berlusconi? 
       
       Er ist der andere Aspekt der Krise, eine Person mit einem Blick auf die
       Politik, der sehr wenig mit der Demokratie, sehr viel dagegen mit alten
       italienischen Untugenden zu tun hat wie Klientelismus, Familismus,
       fehlenden Respekt für die Gesetze, der Idee auch, er könne persönliche
       Probleme lösen, indem er dutzende Gesetze "ad personam" durchboxt.
       
       In Ihrem Buch sprechen Sie gelegentlich gar von "Diktatur", von
       "Tyrannenherrschaft". Ist das nicht überzogen? 
       
       Nein, ich denke, wir sind an diesem Punkt in Italien. Tyrannenherrschaft
       beschreibt, was Berlusconi will: Herrschen unter Konzession nur der
       geringsten Bewegungsspielräume für die Opposition. Berlusconis Busenfreund
       und Chef seiner Medienholding, Fedele Confalonieri, sagte das schon 1994
       ganz ungeschminkt, als Berlusconi in die Politik eintrat: Berlusconi sei
       kein Demokrat, sondern ein "aufgeklärter Despot". Formal ist Italien
       demokratisch. Ich kann Oppositionszeitungen kaufen, kann wählen gehen. Doch
       was ist der generelle Kontext? Wie viel zählt ein Oppositionsblatt
       gegenüber Berlusconis Kontrolle von sieben TV-Kanälen? Berlusconis
       unbegrenzte Finanzmittel führen dazu, dass die Wahlen eben nicht mehr
       "frei, fair und regulär" sind.
       
       Aber selbst scharfe Kritiker können nicht bestreiten, dass Italien von
       einer offenen Diktatur noch weit entfernt ist? 
       
       Es ist vor allem den Oppositionsbewegungen zu verdanken - auch den wenigen
       Künstlern und Intellektuellen, die Widerspruch einlegen -, dass Berlusconis
       Design bisher nicht komplett aufging. Für das Gros der italienischen
       Intellektuellen müssen wir aber Zynismus und Passivität verzeichnen.
       Immerhin meldete sich schon 2002 Nanni Moretti zu Wort, doch wie viele
       Regisseure haben es ihm gleichgetan? Gott sei Dank meldete sich auch
       Claudio Abbado, doch wie viele aus Musik und Theater erhoben seither ihre
       Stimme? Italien hat mutige Richter und Staatsanwälte. Diesen ist es zu
       verdanken, wenn Berlusconis Despotismus gleichsam im Zentaurenstadium
       verharrt und noch nicht zum galoppierenden Pferd geworden ist.
       
       Aber wie kommt es, dass ein skandalöser Politiker wie Berlusconi immer
       wieder gewählt wird? 
       
       Das ist ein Punkt, den ich in meinem Buch anspreche. Berlusconi
       repräsentiert in einem Land, in dem kleine Unternehmer weiter stark präsent
       sind, den bewunderten Selfmademan, der aus kleinen Anfängen heraus den
       Aufstieg packt. Für Italien ist der kleine, ja kleinste Unternehmer
       typisch. In deren Augen ist der Staat ein "Feind", der der ungezügelten
       Akkumulation entgegensteht. Dann sind da noch die Hausfrauen mit mehr als
       drei Stunden TV-Konsum, die massiv Berlusconi wählen. Und im Norden wählen
       ihn nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeiter, die in den
       Miniunternehmen beschäftigt sind. Und schließlich gibt es die konservativen
       Katholiken, die ihn womöglich nicht perfekt finden, ihn aber nach dem in
       Italien tief verankerten Motto bislang wählen: besser er als die
       Kommunisten.
       
       Der parlamentarischen Opposition werfen Sie in Ihrem Buch "Ideenarmut" vor.
       Auf was zielen Sie damit? 
       
       Vorneweg meine ich das völlige Fehlen einer Analyse des Berlusconismus. Die
       frühere Kommunistische Partei war gewiss alles andere als perfekt. Doch
       wenn die KPI mit tiefen wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen
       Veränderungen im Land konfrontiert war, organisierte sie immerhin große
       Tagungen, um die Phänomene zu begreifen. Die heutige Demokratische Partei
       und vor ihr die Linksdemokraten unter Massimo D'Alema versteiften sich
       geradezu darauf, die Augen vor dem Novum Berlusconi zu verschließen. Ich
       erinnere mich an eine furiose Diskussion mit D'Alema 2002 in Florenz. Ich
       vertrat die Auffassung, wir hätten es mit einem Regime mit deutlich
       antidemokratischen Zügen zu tun. D'Alema antwortete voller Herablassung:
       "Ich arbeite gut mit Berlusconi, wir werden zusammen die Verfassung
       ändern." Nie wurde Berlusconi als Phänomen begriffen, das außerhalb der
       demokratischen Regeln stand. Stattdessen wurde er als "normaler"
       Regierungs- beziehungsweise Oppositionschef gehandelt.
       
       Zugleich lässt sich ein hohes Maß an Sprachlosigkeit zwischen der
       politischen und der gesellschaftlichen Opposition gegen Berlusconi
       verzeichnen. 
       
       Da sprechen wir aber nicht von einem italienischen, sondern von einem
       weltweiten Phänomen. Die Parteien sind überall in der Krise. Egal ob wir
       auf die Zahl ihrer Mitglieder schauen, auf das ihnen entgegengebrachte
       Vertrauen oder die Wahlbeteiligung - die Zahlen belegen einen Trend zur
       Abwendung. Zugleich sehen wir aber auch gegenläufige Entwicklungen. Die
       Zivilgesellschaft hat bei den Bürgermeisterwahlen in Mailand und Neapel
       eine große Rolle beim Sieg der linken Kandidaten gespielt. Und auch Nichi
       Vendola, Chef der Linkspartei SEL, ist ein Politiker, der der
       Zivilgesellschaft zuhört.
       
       In Ihrem Buch sprechen Sie von den Ressourcen der italienischen
       Gesellschaft und stufen Italien als "sanftmütige Nation" ein. Was meinen
       Sie damit? 
       
       Frankreich oder Großbritannien leben von einem gleichsam ererbten Gefühl
       der Überlegenheit, das ich oft übertrieben finde. Wenn wir über die
       Tugenden von Nationen reden, in diesem Zusammenhang von den Tugenden
       Italiens, dann kann der Diskurs über die Sanftmut hochinteressant werden.
       Das ist ein enormer Beitrag, gerade in dieser Zeit des Übergangs. Wie kommt
       es, dass der erste Staat, der die Todesstrafe abschaffte, schon am Ende des
       18. Jahrhunderts das Großherzogtum Toskana war - ein Akt, zu dem die USA
       sich bis heute nicht in der Lage zeigen. Oder nehmen wir Giuseppe
       Garibaldi, den Helden der italienischen Einheit vor 150 Jahren. Als er den
       Schriftsteller Giuseppe Manzoni traf, überreichte er ihm nicht etwa ein
       Schwert oder eine Nationalfahne, sondern - einen kleinen Blumenstrauß, ein
       Symbol der Sanftmut, auch der Demut. Ein Bismarck war nicht mit
       Veilchensträußen unterwegs, nicht wahr?
       
       Eine weiterer Reichtum Italiens ist in Ihren Augen das "Land der 100
       Städte". Also das Land mit einer tief verankerten regionalen
       Selbstverwaltung. 
       
       Dieses Land der tief verankerten Selbstregierung hat nichts mit der Lega
       Nord zu tun, die die Sonderinteressen des reichen Nordens vertritt. Nicht
       umsonst haben Berlusconi und die Lega Nord an der Regierung die
       Handlungsspielräume der Kommunen weiter eingeengt. Die Selbstregierung im
       wahren Sinne des Wortes, wie sie von Carlo Cattaneo im 19. Jahrhundert
       theoretisiert wurde, gehört nicht zu den Themen der Lega Nord; auch sie
       denkt nur in Kategorien des Kommandos von oben.
       
       Ein weiteres Plus Italiens sei die tief proeuropäische Haltung seiner
       Bürger, sagen Sie. Zugleich stellen Sie fest, Italien sei "passiv
       proeuropäisch"? 
       
       Italien kann sehr viele Ideen zu einem wirklich geeinten Europa beitragen.
       Die Italiener reden gern sehr schlecht über ihren Staat. Sie leben mit der
       Tatsache, dass viele positive Entwicklungen - wie die
       Gleichstellungspolitik - gleichsam über den Umweg Europa zu ihnen gekommen
       sind. Das ist sehr vielen auch bewusst, und sie sind Europa zutiefst
       dankbar. Der Prozentsatz der Italiener, die an den europäischen Wahlen
       teilnehmen, ist nicht umsonst überdurchschnittlich hoch. Italiens Politiker
       könnten sich dies zunutze machen. Nicht umsonst spreche ich in meinem Buch
       immer wieder von Carlo Cattaneo, dem Mailänder und Schweizer - er lebte im
       Exil in Lugano -, der sagte: "Italien wird dann frei sein, wenn die
       Vereinigten Staaten von Europa Wirklichkeit geworden sind".
       
       19 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Braun
       
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