# taz.de -- Leben in Armut: An der Kleiderkammer scheiden sich die Geister
       
       > Reinickendorf-Süd, Wedding, Marzahn:In manchen Orten lebt jedes zweite
       > Kind unter der Armutsgrenze
       
 (IMG) Bild: Mehr Geld, mehr Spenden würden helfen.
       
       Mark hat es eilig. Zwar will der Zwölfjährige nach der Schule noch nicht
       nach Hause gehen. Aber vor dem Einkaufszentrum Marzahn Ost zerdeppert ein
       Betrunkener eine Bierflasche. "Bald hamwa nich ma was zu fressen. Scheiß
       Politik!", brüllt er. Mark geht schneller, nimmt eine Abkürzung durchs
       Gebüsch. Der Trampelpfad führt ihn zu einem in Regenbogenfarben
       gestrichenen Bungalow, der zwischen den grauen Plattenbauten fast surreal
       wirkt. "Jugendhaus Bolle" steht neben der Eingangstür.
       
       Hier verbringt der schmächtige Junge jeden Nachmittag. "Wenn es das Bolle
       nicht gäbe, würde ich auf der Straße chillen", sagt Mark. Früher habe er am
       S-Bahnhof Marzahn abgehangen. Jetzt sitzt er auf dem Sofa und spielt ein
       Gesellschaftsspiel, während es draußen stürmt.
       
       Mark trägt Sportkleidung, die ihm viel zu groß ist. Zu groß für eine
       Modeerscheinung. Ins Jugendhaus Bolle gehe er, "weil man hier ganz viele
       unterschiedliche Dinge ausprobieren kann". Es ist die Standardantwort der
       5- bis 15-jährigen Bolle-Besucher. Bis zu hundert kommen jeden Tag hierher,
       und tatsächlich ist das Angebot sehr breit: Tonstudio, Bibliothek,
       Toberaum. Es werden Ausflüge in Museen und Sport von Trampolin bis
       Basketball angeboten. Und Nachhilfe.
       
       Eins hat Eckhard Baumann, der Leiter des Jugendhauses Bolle, leider nicht
       parat: "Eine Antwort auf die Frage, warum man sich überhaupt anstrengen
       soll, wenn man später eh Hartz IV bekommt." Natürlich gebe es da die
       Standardphrase: lernen fürs Leben. "Aber in diesem Leben hier sehen die
       jungen Menschen oft keinen Sinn, sich anzustrengen." Ziel des
       spendenfinanzierten Jugendhauses sei es, die Kinderarmut zu bekämpfen.
       "Doch alles was wir tun können, ist, die Symptome zu lindern."
       
       Arm, aber sexy, heruntergekommen, aber kreativ. Das ist das Image Berlins.
       Aber in den Stadtteilen, die weder sexy noch kreativ sind, leben laut
       offizieller Statistik über ein Drittel, teilweise sogar mehr als die Hälfte
       der Kinder in Armut, sprich: sie leben von Existenzsicherungsleistungen.
       Für Kinderarmut gebe es viele Faktoren, sagt Igor Wolansky, Sprecher der
       Fachgruppe "Kinderarmut und Familie" der Landesarmutskonferenz Berlin:
       fehlende materielle Möglichkeiten, Arbeitslosigkeit der Eltern, hohe
       Kinderzahl. "Diese Faktoren treten in Ortsteilen wie Marzahn und Wedding
       besonders häufig auf. Kinder in diesen Familien sind von sozialer
       Ausgrenzung bedroht."
       
       ## Mit 13 auf der Straße
       
       "Westliche Innenstadt" und "östliche Außenstadt" heißen die besonders
       betroffenen Zonen in der vom Senat in Auftrag gegebenen Studie "Monitoring
       Soziale Stadtentwicklung 2010". Jugendbetreuer in diesen Gebieten berichten
       von emotionaler Vernachlässigung der Kinder, so Wolansky. Aus dem
       Jugendhaus Bolle kommt die Geschichte einer 14-jährigen Schülerin, die sich
       in der Pause neben die Lehrerin kniete und ihr den Kopf auf den Schoß
       legte. Oder von dem 13-Jährigen, den seine Eltern eines Tages nicht mehr in
       die Wohnung ließen und der fortan auf der Straße schlief.
       
       Bildungsarmut, sagt Anika Sommer, sei das Hauptproblem. Sommer leitet die
       Kita A13 in Wedding, ein Projekt des Berliner Kinderschutzbunds. In ihre
       Kita kommen schon Einjährige, deren Eltern sich die üblichen Kita-Beiträge
       nicht leisten können. Bei der A13 zahlen sie 23 Euro Essensgeld im Monat.
       Für manche ist selbst das zu viel. "Wir versuchen dann, immer eine Lösung
       zu finden", sagt Sommer.
       
       Früher arbeitete sie als Erzieherin in einem Stadtteil der gehobenen
       Mittelschicht. "Da wurden Probleme herbeidiskutiert. Im Wedding gibt es sie
       wirklich", sagt Sommer. Morgens um 8.30 Uhr ziehen Jugendliche an den
       Fenstern der Kita vorbei, mit Bier oder Energydrinks in der Hand.
       
       "Ich beobachte immer wieder, wie die Kinder sich beim Essen vollstopfen,
       aus Angst, nicht genug zu bekommen", erzählt die Kitaleiterin, während sie
       die kleine Simi füttert. Simi kommt aus einer großen Sinti-Familie, die in
       einer Einraumwohnung wohnt. Das Mädchen ist es nicht gewohnt, die Wohnung
       zu verlassen. Es findet sich in der Gruppe nur schwer zurecht, hat eine
       sehr geringe Konzentrationsspanne, die feinmotorische Entwicklung ist
       unterdurchschnittlich - wie bei den meisten Kindern der A13.
       
       Wenn sie einen Wunsch frei hätte, sagt Sommer, dann wäre es, dass die
       Gesellschaft aufwacht und erkennt, dass sie alle Kinder braucht. Nicht nur
       die mit guten Startvoraussetzungen. Eine Kleiderkammer für ihre Kita
       wünscht sie sich nicht. "Die Familien sollen sich nicht in ihrer Armut
       einrichten", sagt Sommer. Zwar gibt es für Notfälle warme Klamotten, die
       werden den Kindern aber nur geliehen. Es gehe um Hilfe zu Selbsthilfe,
       betont eine Sprecherin des Kinderschutzbundes. Deshalb sei das Gespräch mit
       den Eltern wichtig, wenn Kinder nicht ausrreichend bekleidet zur Kita
       kommen. Und auch das Reden mit den Kindern selbst. Anika Sommer liest zwei
       von ihnen aus einem alten Kinderbuch vor. Sie will sie stark machen für die
       Grundschule und alles was folgt.
       
       In einem von Armut geprägten Umfeld ist das schwierig. Mehr Geld, mehr
       Spenden würden helfen. "Man könnte, wie manche Einrichtungen es tun, öfter
       Journalisten einladen, die Fotos von den Kindern machen und die
       Aufmerksamkeit auf ihre Einrichtung lenken", sagt Anika Sommer. Sie lehnt
       das ab. Sie will die Kinder nicht als bedürftig und abhängig präsentieren.
       
       Die "Arche" macht es genau andersherum. "Es kommen viele Stars hierher"
       erzählt Rika stolz. "Mario Barth, Sido …", zählt die stämmige Neunjährige
       auf. Ein Star ist die "Arche" selbst: Seit der Gründung 1995 berichten
       Medien regelmäßig über das Projekt des "Christlichen Kinder- und
       Jugendwerks". Stars bringen Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit bringt Spenden.
       So viele, dass die Arche heute in acht Städten vertreten ist. Allein in
       Berlin hat sie vier Standorte. Reinickendorf ist der jüngste davon.
       
       ## Fotografieren erwünscht
       
       Rika ist jeden Tag da. Sie kommt nach der Schule und bleibt, bis die Arche
       schließt - nur Mittwochs muss sie früher weg, weil sie Arabisch-Unterricht
       hat. Sie ist es gewöhnt, Besucher herumzuführen. Auch fotografieren und
       interviewen könnte man sie. Ihre Eltern haben, wie die fast aller anderen
       Kinder, schriftlich erklärt, dass sie damit grundsätzlich einverstanden
       sind.
       
       Es gibt einen Schminkraum, "nur müsste da mal jemand aufräumen", sagt Rika
       und schließt verschämt die Tür. Richtig toll findet sie aber die
       Kleiderkammer und das kostenlose Essen. Über den Tischen stehen
       Verhaltensregeln. Etwa dass man seinen Teller zurückträgt und nicht damit
       wirft. Rika seufzt. "Das klappt bei uns nicht, obwohl wir uns das
       aufgeschrieben haben."
       
       Bei gemeinschaftlichen Aktivitäten müssen die Betreuer oft ein Mikrofon zur
       Hilfe nehmen, um zu den Fünf- bis 15-Jährigen durchzudringen. Auch die
       Arche unternimmt Ausflüge mit den Kindern. Zwölf Kinder waren sogar mal zur
       Delfintherapie in der Karibik. Gesponsert wurde das von einer Freundin von
       Barbara Becker, der Exfrau des Ex-Tennisspielers. "Vieles davon ist dem
       zuzurechnen, dass man die Arche kennt", sagt eine Betreuerin.
       
       Nur: Kinderarmut verschwindet nicht, indem man sie besser verwaltet. Abends
       geht Rika zurück in die mit öden Neubauten bepflasterte Arosaer Allee, wo
       sie mit ihren Eltern und Schwestern in einer ganz kleinen Wohnung wohnt.
       Von hier kann sie nur in die Arche entfliehen. Wie Mark auf der Straße
       "abhängen", das würde sie nicht wollen.
       
       Aber auch Mark ist, seit er das Jugendhaus Bolle für sich entdeckt hat, nie
       mehr an den S-Bahnhof zurückgekehrt, sagt er. Hier gibt es mehr zu tun.
       "Komm, wir nehmen einen Song auf!", ruft ein Junge aus dem Tonstudio. Mark
       springt vom Sofa und ruft: "Ich will ans Keyboard."
       
       24 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alissa Starodub
       
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