# taz.de -- Kolumne Das Tuch: Wenn die Sehnsucht kommt und geht
       
       > Ein Abschied bedeutet oft Tränen – auch wenn man die nicht immer sieht.
       > Hasret weinte im Stillen in Deutschland, Medine im Stillen in der Türkei.
       
       Als Hasret das erste Mal weg war, suchte Medine sie überall. In Aufruhr
       durchkämmten die Bewohner der türkischen Kleinstadt Felder, Häuser und
       Bäche. Es wurde schließlich später Abend. Die Laternen der Suchenden, der
       Mond und die Sterne erhellten das Feld der Familie. Verzweifelt bahnte sich
       Medine den Weg durch die Orangen-, Zitronen- und Feigenbäume. Und während
       sie lief, fühlte Medine einen Schmerz, wie sie ihn nie zuvor gefühlt hatte.
       Weinend rief sie den Namen ihrer Tochter. Immer wieder.
       
       Am Berghang endlich entdeckte sie dann das kleine Mädchen. Hasret lag
       friedlich schlafend in dem Papphäuschen, das die Brüder ihr gebaut hatten.
       Der unbekannte Schmerz in Medines Herzen verschwand. Sie schloss ihr
       schlafendes Kind fest in ihre Arme. Als Medine ihre Arme wieder öffnete,
       waren zehn Jahre vergangen. Hasret war nun 13 Jahre alt und sollte bei
       Verwandten in der Großstadt leben und die gute Schule dort besuchen. Hasret
       ging und der Schmerz von damals nahm wieder Platz in Medines Herzen. Dieses
       Mal für immer. Jahre vergingen. Schul- und später Semesterferien waren es,
       an denen sie sich Mutter und Tochter sahen. Kaum dass Hasret da war, war
       sie wieder weg. So kam es, dass sie eines Tages als Braut in den Armen
       ihrer Mutter lag. Auf dem Weg nach Deutschland.
       
       Während sich Hasret in einem weißen Kleid von ihrer Mutter verabschiedete,
       wuchs Medines Schmerz nun auch in Hasrets Herzen. Hasret weinte in
       Deutschland, Medine in der Türkei. Es waren jedes Jahr die wenigen
       Sommertage in der türkischen Kleinstadt, in denen sie versuchten, ihren
       Liebesdurst zu stillen. Tränenreich wurde jedes Jahr der Abschied. Nie aber
       sah Hasret ihre Mutter weinen, nie sah Medine ihre Tochter weinen. Hasret
       weinte im Stillen in Deutschland, Medine im Stillen in der Türkei.
       
       "Mutter, komm nach Deutschland", sagte Hasret am Telefon. Einmal, nur
       einmal wünschte sie sich, ihre Mutter als Gast in ihrem Haus begrüßen zu
       dürfen. Medine zögerte. So weit war das Land, so fremd. "Wer soll das Feld
       bestellen?", fragte Medine. Als Medine zu alt wurde, hörte Hasret auf zu
       fragen.
       
       24 Sommer nachdem Hasret ihr Elternhaus in einem weißen Kleid verließ, hing
       nun auch in dem Zimmer ihrer Tochter ein weißes Kleid. "Komm nach
       Deutschland, Mutter. Sei dabei", bat Hasret am Telefon. "Ich wills
       versuchen. So Gott will", antwortete Medine zum ersten Mal.
       
       In dem kleinen Haus zwischen Feigen- und Zitronenbäumen wurde es bunt und
       fröhlich. Medine und ihr Mann waren beide alt und krank, aber die Aufregung
       verjüngte sie mit einem Mal. Sie ließ sich vier Kleider nähen und kaufte zu
       jedem Kleid passende Schuhe und Taschen. Sorgfältig legte sie ihre Kleider
       auf die Kommode, die Schuhe und Taschen daneben - immer in Sichtweite. Als
       es auch mit dem Visum klappte und die Flüge gebucht waren, ging es Medine
       immer besser. Sie war glücklich und jung. So sei es immer, sagen die Ärzte.
       So kurz vorher.
       
       Drei Tage vor der Hochzeit steigt Hasret in das Flugzeug. Um ein letztes
       Mal Abschied zu nehmen von ihrer Mutter.
       
       Hasret bedeutet Sehnsucht.
       
       25 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kübra Gümüsay
       
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