# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Jenseits der Börse
       
       > Wie sich die großen Finanzinstitute in Brüssel am Vorabend der
       > Finanzkrise maßgeschneiderte neue Regeln schufen und den kontrollierten
       > Börsenhandel abschafften.
       
 (IMG) Bild: EU-Kommissar Michel Barnier hat sich in die Materie namens "Mifid" eingearbeitet.
       
       Montag, 20. September 2010. Brüssel, Rue de la Loi, Charlemagne Building.
       Im Alcide-de-Gasperi-Saal herrscht drangvolle Enge wie bei einem
       Großereignis.
       
       Michel Barnier, der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen,
       eröffnet die Sitzung mit einer "persönlichen Erinnerung": "Als ich mich vor
       einigen Monaten auf meine Funktion als EU-Kommissar vorbereitete, habe ich
       intensiv mit meinen Fachabteilungen gearbeitet. Der Generaldirektor sagte
       damals zu mir: 'Die Mifid muss überarbeitet werden.'‘ Ich muss zugeben,
       dass ich damit damals nicht viel anfangen konnte."
       
       Inzwischen hat sich Barnier in die Materie eingearbeitet. Die Europäische
       Kommission hat die Revision der Finanzmarktrichtlinie (Markets in Financial
       Instruments Directive, abgekürzt: Mifid) angepackt, die seit 2007 für eine
       europaweite Deregulierung des Börsenhandels gesorgt hatte.
       
       Mit der Mifid wurde der Rahmen für eine Art europäischen "Markt für die
       Märkte" geschaffen, der sich strikt an der neoliberalen Logik
       unbeschränkter Konkurrenz orientierte. Entsprechend wurde die
       Konzentrationsregel aufgehoben (die bis dahin unter anderem in Frankreich
       existiert hatte), derzufolge alle Transaktionen über die Börse laufen
       müssen.
       
       Die 2004 verabschiedete Richtlinie trat zum 1. November 2007 in Kraft.
       Ironischerweise also fast punktgenau zum Ausbruch der Finanzkrise.
       
       Historisch sind die Börsen als Regulierungsinstrumente entstanden. Die
       Händler und die Regierungen, von denen sie gegründet wurden, wollten mit
       ihrer Hilfe den Warenhandel kontrollieren. Die Pariser Börse zum Beispiel
       wurde offiziell 1724 eröffnet, nachdem das von John Law errichtete System
       gescheitert war.(1) Die neuen, offiziellen Handelsplätze sollten dreierlei
       gewährleisten: die formale Gleichheit von Käufern und Verkäufern, einen
       geregelten Wettbewerb und offene Informationen über die Transaktionen, die
       unter Kontrolle eines Aufsichtsgremiums auf dem jeweiligen Territorium
       abliefen.
       
       ## Dark Pools mit Supersoftware
       
       Statt dieses klassischen Modells installierte die EU-Finanzmarktrichtlinie
       von 2007 die Konkurrenz zwischen den Börsen – die bereits zu privaten, oft
       selbst börsennotierten Unternehmen geworden waren – und anderen privaten
       Handelsplattformen, wo die Transaktionen zur Freude der großen
       Finanzdienstleister gänzlich unbeaufsichtigt und undurchsichtig abgewickelt
       wurden.
       
       Zu den wichtigsten Erfindungen gehören die zu Recht so genannten dark pools
       (intransparente Handelsplattformen). Sie wurden von den großen
       Finanzinstituten in den Grauzonen der EU-Gesetzgebung entwickelt und
       ermöglichen anonyme Transaktionen, ohne deren Umfänge und Preise
       offenzulegen. Eine weitere Neuheit sind crossing networks, mittels derer
       Banken die Kauf- und Verkaufsorder ihrer Kunden direkt zusammenzuführen.
       Solche von der Mifid als Konkurrenz zu den Börsen gedachten Plattformen
       vermehren sich wie Heuschrecken. In Europa gibt es inzwischen mehr als
       hundert multilaterale Handelssysteme (Multilateral Trade Facilities, MTF).
       
       Solche MTFs, die Transaktionen unter weniger strengen Aufsichtsbedingungen
       und damit kostengünstiger ermöglichen, haben den Aktivitäten der
       historischen Börsen stark zugesetzt. Nun hat es zwar schon immer Händler
       gegeben, die am Rande des traditionellen Börsengeschehens operieren und
       diskret große Aktienmengen bewegen. Doch die Finanzmarktrichtlinie macht
       die Ausnahme zur Regel. Kein Wunder, dass seit 2010 weniger als die Hälfte
       aller Transaktionen an der Börse abgewickelt werden.(2)
       
       In diesem Raum jenseits der Börsen finden die Banken also die Instrumente,
       um sich von den organisierten Märkten frei zumachen. Das zweitgrößte
       Handelssystem für Aktien in Europa heißt Chi-X. An ihm ist die Crème der
       Finanzwelt beteiligt: Instinet, eine Tochter der japanischen Finanzholding
       Nomura (die von Lehman Brothers deren europäischen Geschäftszweige
       aufgekauft hat), Goldman Sachs, UBS, Crédit Suisse, BNP Paribas, die
       Société Générale und zwei Fonds, die auf elektronischen Hochfrequenzhandel
       spezialisiert sind: der US-amerikanische Citadel und der niederländische
       Optiver.
       
       Angesichts dieser Konkurrenz umgarnen die traditionellen Börsen ihre
       wichtigsten Kunden– also genau die Banken und Fonds, die zugleich ihre
       Hauptkonkurrenten sind –, indem sie die Kommission pro Transaktion
       verbilligen. Dafür werden immer mehr Kosten für die Überwachung der
       Transaktionen auf kleinere Trader und an der Börse zugelassene Unternehmen
       abgewälzt.
       
       ## "Wir wollen überleben, also passen wir uns an"
       
       Um ihre alte Position zurückzugewinnen, gehen die Börsen auf
       Expansionskurs. Die Londoner Börse hat versucht, die kanadische zu kaufen,
       die Deutsche Börse verbündet sich mit NYSE Euronext, die selbst aus der
       Fusion der New Yorker Börse mit ehrwürdigen europäischen Häusern (Paris,
       Amsterdam, Brüssel, Lissabon) und der Londoner Terminbörse (Liffe)
       entstanden ist. Inzwischen hat die Londoner Börse das MTF Turquoise
       gekauft, während NYSE Euronext einen eigenen dark pool entwickelt hat.
       
       All das sind bereits Folgen des Wettbewerbs, der durch die
       Finanzmarktrichtlinie angestoßen wurde. Dass diese die Grenzen zwischen dem
       unbeaufsichtigten Handel und den reglementierten Börsen verwischt hat,
       musste auch Dominique Cerruti, Vizechef von NYSE Euronext, bei seiner
       Anhörung durch eine Untersuchungskommission des französischen Parlaments
       zugegeben: „Wir wollen überleben …also passen wir uns an. Wenn die
       Gesetzgebung dark pools und MTFs erlaubt und wenn ein paar kleine
       Schlaumeier das System ausnutzen wollen, um uns in die Hölle zu treiben,
       spielen wir das gleiche Spiel wie sie.“(3 )
       
       Die enorme Streuung der Transaktionen, die aus der Konkurrenz von hunderten
       MTF-Handelsplattformen resultiert, hatte auch zur Folge, dass die an der
       Börse zugelassenen Unternehmen, aber auch Regulierungsstellen sehr viel
       schwerer an wichtige Informationen herankommen.(4) So gestand der
       Unternehmenschef Martin Bouygues vor der französischen
       Marktaufsichtsbehörde AMF: „Ich weiß nicht, was mit meinen Aktien
       passiert.“ Über deren Umsätze im Börsenhandel könne er „keine klaren
       Auskünfte erhalten“.(5) Und der Präsident der AMF gestand den sprachlosen
       Parlamentariern: „Seit einem Jahr ist uns bewusst, dass wir nicht mehr
       imstande sind, unsere grundlegende Aufgabe der Überwachung der Finanzmärkte
       zu erfüllen.“(6 )
       
       In der Tat können nur die größten transnationalen Händler das teure
       Computerequipment finanzieren und teure Spezialisten bezahlen, die imstande
       sind, alle verstreuten Informationen zusammenzuführen, die für die
       Hochfrequenzspekulation in einer Unzahl von Handelssystemen notwendig
       ist.(7) Ein Banker meinte ganz unverblümt: „Die Aktienmärkte finanzieren
       nicht mehr die Wirtschaft. Sie sind dazu da, den Profis zu gestatten, die
       Amateure zu arbitrieren“.(8) Mit anderen Worten: sie zu schröpfen.
       
       Die Profis nutzen ihren durch technologische Überlegenheit erworbenen
       Informationsvorsprung, um auf Kursdifferenzen zu spekulieren, die Amateure
       und selbst kleine und mittlere Trader gar nicht mitbekommen. Eine der
       einfachsten Manipulationen gleicht dem Angeln mit lebendem Köder: Der Kurs
       einer Aktie, die man abstoßen will, wird durch sehr viele Kauforder
       „hochgekitzelt“. Wenn die Käufer angelockt sind, wird die Kauforder im
       Bruchteil einer Sekunde annulliert. Damit sind die Aktien zu einem
       künstlich aufgeblähten Preis an die Deppen verkauft. Solche
       Hochfrequenztransaktionen erhöhen allerdings nicht nur die Profitchancen
       mittels Kursmanipulation, sondern auch das Risiko für das gesamte System.
       
       ## 27.000 Transaktionen in 14 Sekunden
       
       Am 6. Mai 2010 fiel der Dow-Jones-Index in den USA innerhalb von 15 Minuten
       um mehr als 9 Prozent. Vor allem die Aktien des Konsumgüterkonzerns Procter
       & Gamble und des Beratungsunternehmens Accenture stürzten in den Keller.
       Was damals passiert ist, haben die beiden US-Börsenregulierungsbehörden in
       einer aufwendigen, fünf Monate währenden Untersuchung rekonstruiert.
       
       Der Algorithmus eines Händlers in Kansas hatte als Reaktion auf die
       Bewegung eines Börsenindex 75.000 Terminaufträge programmiert, und zwar
       ohne Preislimit. Deren automatische Ausführung löste eine Panik auf den
       anderen Hochleistungsrechnern der Banken und Investmentfonds aus: Binnen 14
       Sekunden spulten sich 27.000 Transaktionen ab, die zu dem Kurseinbruch
       führten.
       
       Dieser Vorfall zeigte abermals, dass die Märkte nicht durch die Ausweitung
       des Wettbewerbs unter mit Hightech ausgerüsteten Händlern kontrolliert
       werden können. Dieses Versagen hat aber keineswegs dazu geführt, das
       Grundprinzip der heutigen Börsenaktivitäten in Zweifel zu ziehen, nämlich
       die absolute Freiheit der Geldanleger. Nach diesem Prinzip müssen die
       Kapitaleigentümer – oder präziser: diejenigen, die mit diesem Kapital
       arbeiten – jederzeit die Möglichkeit haben, ihrem Interesse entsprechend
       Geld anzulegen oder abzuziehen. Damit wird der kurzfristige Zeithorizont
       der Finanzmärkte der Realwirtschaft und ihren Unternehmenszyklen
       unmittelbar aufgezwungen. Und damit ebenso der Politik und ganzen Völkern.
       
       Dieses Prinzip wird auch nicht in dem Gutachten hinterfragt, dass Christine
       Lagarde noch als französische Finanzministerin zur Revision der
       EU-Finanzmarktrichtlinie in Auftrag gegeben hat. Der im Februar 2010
       veröffentlichte Report von Pierre Fleuriot, Präsident von Crédit Suisse
       France und vormals Generaldirektor der Commission des opérations de Bourse
       (COB), stellt die in der EU herrschende Deregulierungslogik an keiner
       Stelle infrage.
       
       In Brüssel sieht es nicht besser aus. Der Bericht für das Europäische
       Parlament, der von der konservativen Abgeordneten Kay Swinburne verfasst
       wurde, zählt zwar die schädlichen Folgen der Finanzmarktdirektive auf,
       belegt aber zugleich den unerschütterlichen Glauben der Verfasserin an die
       prinzipiell segensreiche Wirkung von Konkurrenz.(9 )Was nicht weiter
       verwundert, wenn man weiß, dass Swinburne eine Karriere im internationalen
       Finanzsektor hinter sich hat.
       
       Fußnoten:
       
       (1) Der schottische Ökonom John Law wurde 1715 von König Louis XV.
       beauftragt, eine Art französische Zentralbank zu gründen.
       
       (2) „The Structure, Regulation, and Transparency of European Equity Markets
       under MiFID“, CFA Institute, Januar 2011.
       
       (3) Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss der französischen
       Nationalversammlung über „die Mechanismen der Spekulation, die das
       Funktionieren des Wirtschaftslebens beeinträchtigen“, 24. November 2010,
       [1][www.assemblee-nationale.fr].
       
       (4) Laurent Grillet-Aubert, „Négociation d’actions: une revue de la
       littérature à l’usage des régulateurs de marché“, "Les Cahiers
       scientifiques, Nr. 9, Paris, Autorité des marchés financiers (AMF), 9. Juli
       2010.
       
       (5) Les Echos, Paris, 17. Dezember 2009.
       
       (6) Anhörung von Jean-Pierre Jouyet vor dem Untersuchungsausschuss (Anm.
       2), 8. September 2010.
       
       (7) Ungefähr zweihundert Handelsunternehmen sind europaweit aktiv, aber bei
       den zehn wichtigsten, meist britischen, finden drei Viertel der
       Transaktionen statt (Association française des marchés financiers,
       „Révision de la directive MIF“, 7. Januar 2010).
       
       (8) Le Figaro, 11. November 2010.
       
       (9) Kay Swinburne, „Bericht über die Regulierung des Handels mit
       Finanzinstrumenten – ’Dark Pools‘ usw.“, Ausschuss für Wirtschaft und
       Währung, EU-Parlament, 16. November 2010.
       
       Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
       
       30 Oct 2011
       
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