# taz.de -- Kolumne Macht: "Wo waren Sie, als Silvio zurücktrat?"
       
       > Rücktritte, Boxkämpfe, Raumfahrten. Wann stellt sich das Gefühl ein,
       > etwas Historisches erlebt zu haben?
       
       Die Nachricht, dass Joe Frazier gestorben ist, rief Erinnerungen wach: an
       Nächte vor dem Fernseher in einem Alter, in dem die Eltern seltsamerweise
       sonst streng auf Bettruhe bestanden.
       
       Man hatte seinerzeit keine Ahnung, warum die Kämpfe gegen Muhammad Ali
       wichtig waren oder warum dieser gewinnen sollte, aber der Eindruck war
       schon damals unauslöschlich, bei einem historischen Ereignis zugeschaut zu
       haben. Das vermutlich bedeutender war als die Mondlandung, das andere
       nächtliche Fernseherlebnis. Jedenfalls tat sich beim Boxkampf mehr.
       
       In jeder Kindheit und Jugend gibt es Augenblicke, die als historisch
       empfunden werden. Im Sport, in der Politik, in der Technologie. "Wo waren
       Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?" Die Erinnerungen an den Sieg der
       DDR-Mannschaft über das Team der Bundesrepublik bei der
       Fußballweltmeisterschaft 1974 füllen sogar ein Buch.
       
       Wie man von Kennedys Ermordung gehört hat oder vom Fall der Mauer, was man
       beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt getan hat und was bei der Wahl von
       Barack Obama zum US-Präsidenten: Derlei Reminiszenzen prägen eine
       Generation.
       
       Wenn sich solche einschneidenden Ereignisse mit einzelnen Personen
       verbinden, dann müssen die weder geliebt worden sein noch einen Sieg
       errungen haben, um sich einen freundlichen Platz im kollektiven Gedächtnis
       verdient zu haben. Es genügt, dass sie sich mit voller Kraft für etwas
       eingesetzt haben, als es darauf ankam.
       
       Wie immer die Eurokrise sich entwickelt: In vielen Ländern Europas werden
       sich sogar Kinder, die heute noch die Grundschule besuchen, später daran
       erinnern. Zu viele Eltern und Großeltern sorgen sich um ihre Ersparnisse,
       als dass ihnen dies verborgen bleiben könnte. Und woran werden sie sich
       noch erinnern, außer an ein unbestimmtes Gefühl der Angst?
       
       Es ist nicht davon auszugehen, dass griechische Mädchen und Jungen in
       einigen Jahren liebevoll an das würdige, ernste Ringen der politischen
       Führungsspitze ihres Landes um die beste Lösung in einer sehr schwierigen
       Situation denken werden. Zu bezweifeln ist auch, dass sich deutschen
       Kindern derzeit tief einprägt, wie respektvoll die Bundeskanzlerin mit
       EU-Partnern umgeht, die in Not geraten sind. Oder welche Achtung sie vor
       dem Willen des Volkes hat, im eigenen Land und anderswo. Und woran werden
       sich italienische Kinder erinnern? Ach, du lieber Gott.
       
       "Wo waren Sie, als Berlusconi zurücktrat?" Es steht noch lange nicht fest,
       dass sich diese Frage tatsächlich bald wird beantworten lassen. Solange er
       nicht wirklich weg ist, so lange wage ich nicht daran zu glauben, dass dem
       ewig hämisch lächelnden Kriminellen nicht doch noch ein Winkelzug einfällt,
       der ihn an der Macht hält. Und selbst wenn er wirklich zurücktreten sollte,
       kann Italien durchaus vom Regen in die Traufe kommen. Ein respektabler,
       aussichtsreicher Nachfolger ist nicht in Sicht.
       
       50 Vertrauensabstimmungen im Parlament hat Silvio Berlusconi gewonnen. Wenn
       die Kinder von heute erwachsen sind, dann werden sie wissen, dass einem
       menschenverachtenden Gauner wieder und wieder in demokratischen Wahlen eine
       Mehrheit beschert worden ist.
       
       Es steht derzeit nicht nur die Zukunft des Euro auf dem Spiel. Sondern auch
       die Frage, ob die Politikerverachtung ein Ausmaß erreicht, das langfristig
       die Demokratie gefährdet. Boxkämpfe sind lustiger.
       
       11 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Gaus
       
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