# taz.de -- Besuch beim Physiker Sebastian Pflugbeil: Die Geldmaschine
       
       > Der Physiker Sebastian Pflugbeil ist ein radikaler Kritiker der
       > Atomindustrie. Seine Gesellschaft für Strahlenschutz sprach als Erste vom
       > Super-GAU in Fukushima.
       
 (IMG) Bild: Ein sperriger und zäher Quertreiber: der Atomkritiker Sebastian Pflugbeil.
       
       "Die Atomindustrie kann jedes Jahr eine Katastrophe wie Tschernobyl
       verkraften." (H. Blix, Direktor der IAEO, 1986)
       
       Dr. Sebastian Pflugbeil, Physiker, radikaler Kritiker der Atomindustrie u.
       Präsident d. Gesellschaft für Strahlenschutz e. V., geb. 1947 in
       Bergen/Rügen. Schulbesuch u. Abitur in Greifswald (DDR), von 1966-1971
       Studium d. Physik a. d. Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu Greifswald.
       Danach Mitarbeiter d. Zentralinstituts f. Herz-Kreislauf-Forschung a. d.
       Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch. Seine dort begonnene Doktorarbeit
       wurde wegen regimekritischer Äußerungen behindert u. erst nach d. Wende
       anerkannt, nichtsdestotrotz blieb er unbequem und störrisch. Er war 1989
       Mitbegründer d. Neuen Forums u. saß als dessen Vertreter mit am Runden
       Tisch d. DDR. Februar 1990 wurde er Minister ohne Geschäftsbereich i. d.
       Regierung Modrow. Er erstellte f. d. Volkskammer ein Dossier über
       gravierende Sicherheitsmängel der AKWs, was zur Schließung des VEB
       Kombinates Kernkraftwerke "Bruno Leuschner" Greifswald führte u. z.
       Schließung d. AKW Rheinsberg. 1990-94 war er für d. NF Mitglied d.
       Abgeordnetenhauses Berlin. Seit 1993 Vorsitzender d. Vereins "Kinder von
       Tschernobyl". Er arbeitete zusammen mit der schleswig-holsteinischen
       Fachkommission zur Untersuchung der Leukämiefälle in der Elbmarsch u.
       Geesthacht. Ab 1999 Präsident d. Gesellschaft für Strahlenschutz e. V. 2001
       war er in Begleitung d. russ. Wissenschaftlers Tschetscherow unter dem
       Sarkophag im zerstörten Block IV von Tschernobyl (direkte Besichtigung d.
       Reaktortopfes), er fand d. Bestätigung von Tschetscherows ketzerischer
       Behauptung, dass d. größte Teil d. radioaktiven Materials bei d. Explosion
       1986 hinausgeschleudert wurde. Pflugbeil spricht fließend Russisch und
       machte rund 90 Reisen in die betroffenen Regionen, sprach mit zahlreichen
       Wissenschaftlern, Liquidatoren u. anderen Betroffenen, berichtete sowohl
       über d. technischen als auch d. sozialen Folgen d. Katastrophe (neuerdings
       auch in Japan). Seit März 2011 intensive Beschäftigung mit Fukushima, auf
       einem mehrwöchigen Japan-Besuch hielt er Vorträge u. traf Wissenschaftler
       u. Bürgerinitiativen. Pflugbeil lebt in Berlin. Seine Frau ist Internistin,
       sie haben vier erwachsene Töchter. Sein Vater war Kirchenmusiker in
       Greifswald, seine Mutter Cembalistin. 
       
       Herr Pflugbeil empfängt uns in seiner schönen Altbauwohnung in
       Berlin-Mitte. Wir trinken Tee und schweigen erst ein wenig. Er wirkt sehr
       ruhig, geradezu sanft. Man könnte darauf reinfallen, aber er ist ein
       sperriger und zäher Quertreiber. Nach Fukushima wurde er aus der Versenkung
       geholt und vor die Fernsehkameras gebeten. Seine Gesellschaft für
       Strahlenschutz hatte als Erste von einem Super-GAU in Fukushima gesprochen.
       Sehr bald wurden seine allzu offenen Ausführungen jedoch gekappt und er
       verschwand wieder in seiner Versenkung. In der hat er sich als
       Kernenergiekritiker eingerichtet. Er ist vogelfrei, wir sagen:
       vogelfreischaffend. Ab und zu, um sich zu regenerieren, macht er Hausmusik
       mit seinen Töchtern oder spielt auf dem Cembalo seiner Mutter. Ansonsten
       widmet er sich den Ursachen und Folgen der radioaktiven Katastrophen. Am
       Vortag kam er grade aus Fukushima zurück.
       
       "Es gab im Sommer erste Besuche der Japaner bei uns, sie haben sich
       angeguckt, was wir - beziehungsweise der Westen - damals gemacht haben nach
       Tschernobyl mit den Messstellen, welche Geräte man braucht, wie man damit
       umgeht, was man an Logistik benötigt. Und da hat jetzt ein Gegenbesuch
       stattgefunden und ich habe dort von den Erfahrungen erzählt und davon, was
       ich über Tschernobyl zusammengetragen habe. Auch über die nachfolgenden
       Gesundheitsschäden in Westeuropa. Also auch Gesundheitsschäden - und das
       ist ein wichtiger Punkt - bei relativ kleinen, zusätzlichen
       Strahlenbelastungen. Deren Gefährlichkeit wird ja immer geleugnet. Ich
       denke, die ersten Gesundheitsschäden, die in Fukushima als Erstes auftreten
       werden, sind: Totgeburten, Down-Syndrom, Schilddrüsenkrebs.
       
       Es entstehen jetzt unabhängige Strahlenmessstellen von Bürgerinitiativen,
       weil die Regierung nicht Willens und nicht in der Lage ist, die Bevölkerung
       darüber zu informieren, wie hoch die Strahlen- und
       Nahrungsmittelbelastungen sind. Die ersten Wissenschaftler kommen auch
       schon aus ihren Burgen raus und halten Vorträge über das kleine Einmaleins
       der Strahlenproblematik. Anfang September gab es ein von der
       Nippon-Foundation gesponsertes Expertensymposion in Fukushima-Stadt zu den
       gesundheitlichen Gefahren der Radioaktivität, die, wie erwartet, total
       heruntergespielt wurden. Daraufhin haben dann verärgerte Bürgerinitiativen
       und kritische Wissenschaftler im Oktober einen Gegenkongress organisiert
       zur Aufklärung über die wirklichen Gefährdungen. Ich war da auch als
       Referent.
       
       Es gab auch eine Reihe von Veranstaltungen, von Südjapan bis nördlich von
       Fukushima. Überall traf man auf Frauen, die mit ihren Kleinkindern aus
       Fukushima abgereist sind. Es ist sehr schwierig für alle Betroffenen. Dazu
       kommen Hürden der Bürokratie und finanzielle Probleme. Die Entschädigung,
       kann man sagen, die trägt die Katze auf dem Schwanz weg. Das sind 8.000
       Euro oder so. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das bisher vom
       KKW-Betreiber Tepco bezahlt worden. Da war die Portokasse dann wohl alle."
       ( Die Antragsteller müssen ein 60-seitiges Formular ausfüllen, für das es
       eine 100-seitige Anleitung gibt. Anm. G.G.) 
       
       "Gerade als wir abfuhren kam das raus, dass in einem wohlhabenden Tokioter
       Viertel eine Strahlenbelastung gefunden wurde, die haarscharf unter der
       Grenze zur Evakuierung liegt. Wenn die offiziellen Stellen sagen, es ist
       scharf drunter, dann ist es mit Sicherheit scharf drüber! Darüber wird noch
       gestritten. Ich habe vom Dach eines Hochhauses eine Probe genommen, dafür
       suche ich jetzt nach einem Labor. Die japanische Regierung hat momentan in
       der Problembewältigung eine ,abenteuerliche' Stoßrichtung, sie macht
       Propaganda dafür, dass alle Präfekturen Japans einen Teil des
       kontaminierten Mülls abnehmen und in Müllverbrennungsanlagen entsorgen. Die
       sind aber gar nicht auf die Rückhaltung von radioaktivem Dreck ausgelegt.
       Das wirkt dann wie ein Staubsauger, nur verkehrt herum. Der Dreck wird in
       die Luft geblasen und über ganz Japan verteilt. Das ist dermaßen
       schwachsinnig." (Am 3. November ist ein Zug mit Trümmern in Tokyo
       angekommen - es war verboten, die Strahlung zu messen -, sie wurden
       verbrannt im Tokyo Waterfront Recycle Power, einer Konzerngesellschaft der
       Tepco, der Betreibergesellschaft des AKW Fukushima. Anm. G.G.) 
       
       "Es regt sich in Japan jetzt immer mehr Widerstand. Auch wenn die
       Aufklärung systematisch behindert wird. Auch wenn Politiker vor laufender
       Kamera öffentlich verstrahltes Zeug essen oder ein Glas Wasser aus einer
       Pfütze von Fukushima-Daiichi trinken und dazu ,Rotkäppchen und der Wolf'
       erzählen. Die Leute glauben der Regierung und Tepco nichts mehr. Die
       Naturkatastrophe wurde, so lange es ging, in den Mittelpunkt gestellt. Bei
       uns hat man sich gewundert, dass die Leute dort so ruhig bleiben angesichts
       der eigentlichen Katastrophe. Das Desinteresse der japanischen Bevölkerung
       an Kernkraftwerken hat aber eine Tradition, das ist nicht Dummheit oder ein
       Versehen. Das ist gemacht worden über einen sehr langen Zeitraum.
       
       Ein frühes Beispiel dafür habe ich gesehen im Atombombenmuseum in
       Hiroshima. Es gibt dort frühe Fotos einer Ausstellung, da war im ganzen
       Erdgeschoss eine einzige Propagandaveranstaltung für die Kernkraft. Und das
       hat Gründe: Das Museum wurde nach dem Ende der Informationssperre in den
       fünfziger Jahren gebaut - die USA hatten ja eine komplette
       Nachrichtensperre nach den Bombenabwürfen verhängt, keine Fotos, keine
       Reportagen, keinerlei Nachrichten. Die medizinische Dokumentation war
       streng geheim. Dann sickerte das aber allmählich durch, so Anfang der
       fünfziger Jahre, und die Amerikaner haben befürchtet, dass ihre
       Atombombenstrategien behindert werden könnten durch die öffentliche
       Meinung. Sie haben nach einer Lösung gesucht und da hat Eisenhower dann vor
       der UNO 1953 das "Atom for Peace"-Programm erfunden, um in diesem
       Windschatten in Ruhe weiterhin Atombomben bauen zu können. In diesem
       Zusammenhang hat er in kleiner Runde etwas gesagt, was dann automatisch
       alle Atomstaaten übernommen haben - bis heute: Haltet sie im Unklaren über
       Kernspaltung und Kernfusion. Sie, das war die Weltöffentlichkeit.
       
       ## 50 Jahre Gehirnwäsche
       
       Die Amerikaner haben die gesamten japanischen Zeitungen bestochen, über
       Jahre, dass sie das sorgfältig unterscheiden: Bombe und Kernkraft. Und
       dafür, dass sie Propaganda machen für Kernkraftwerke. Das ist für viel Geld
       gelenkt worden. Diese gezielte Gehirnwäsche durch die Amerikaner hat mehr
       als 50 Jahre funktioniert, ist aber nach Fukushima allmählich immer
       unwirksamer geworden. Jetzt erst haben viele angefangen, darüber zu reden
       und nachzudenken. Auch die Hibakusha-Organisationen, also die überlebenden
       Atombombenopfer. Inzwischen ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen
       Kernkraftwerke und will raus. Die Regierung wiegelt ab und redet vage vom
       langfristigen Ausstieg, vom Stromsparen, und lässt die Bevölkerung im
       Unklaren über die Strahlenbelastung. Die Betreiber der japanischen KKWs
       stemmen sich natürlich dagegen, sie wollen auf so viel Geld nicht
       verzichten.
       
       In Japan haben sie über 50 KKWs, viele davon sind schon älteren Datums.
       Fukushima I lief bereits 40 Jahre. So lange alles funktioniert, spielt so
       ein abgeschriebenes KKW pro Tag bis zu einer Million Euro ein. Das ist eine
       reine Geldmaschine. Und selbst wenn was passiert, dann haben die Betreiber
       ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht und die Bürger haben den
       Schaden; wie man an Japan sieht. Beim KKW springt, wie bei systemrelevanten
       Banken, im Krisenfall der Staat ein. Tepco bekam, um die Pleite abzuwenden
       und Entschädigungen zu zahlen, aus einem Regierungsfonds bereits 8,4
       Milliarden Euro." (Es benötigt, so das Unternehmen, in den nächsten zehn
       Jahren weitere 23,3 Milliarden usf., um "die Folgen der Katastrophe zu
       bewältigen". Anm. G.G.) 
       
       "KKWs sind in der Regel nicht mal adäquat versichert. Bei uns ist es so,
       dass sie eine Haftpflichtversicherung über zwei Milliarden Euro abschließen
       müssen, nicht einzeln, alle zusammen! Fachleute haben durchgerechnet, wie
       hoch die Versicherungspolice sein müsste, und die wäre so hoch, dass sich
       der Strompreis von heute 16 bis 20 Cent auf bis zu etwa 67 Euro (!) pro KWh
       verteuern würde. Damit wäre das einfach platt. Wenn man den Ausstieg, der
       jetzt nach Fukushima bei uns beschlossen worden ist, wirklich wollte, ihn
       nicht bis 2022 hinzieht, dann würde eine adäquate Versicherung als Auflage
       vollkommen reichen. Das wäre das sofortige Aus! Da könnte auch kein
       Betreiber vor Gericht ziehen gegen die Abschaltung, und gegen nichts!
       
       Wenn wir jetzt aber mal die ganze Entwicklungsgeschichte sehen, dann stand
       eindeutig der militärische Aspekt im Mittelpunkt. Das war das treibende
       Moment. Dieses spätere wirtschaftliche Interesse an der Kernkraft, das war
       bei den großen Energieversorgern anfangs gar nicht vorhanden. Die mussten
       da geradezu hingetragen werden, überhaupt Kernkraftwerke zu bauen. Und das
       Motiv, weshalb das so vorangetrieben wurde, mit enormen staatlichen
       Subventionen, das ist für mich so sicher, wie das Amen in der Kirche: Die
       KKWs waren, wie schon erwähnt, eine hervorragende Ablenkung von den
       Strahlenproblemen und von dem Willen, ungestört weiter die militärische
       Seite ausbauen zu können.
       
       Skrupel gab es da keine. Im Zusammenhang mit dem Atomwaffenprogramm hat man
       in den USA auch Menschenversuche gemacht, von den Fünfzigern bis in
       siebziger Jahre, für die Risikoforschung. Man hat zum Beispiel Schwarzen in
       den Armenkrankenhäusern Plutonium gespritzt, ohne deren Wissen natürlich,
       um zu sehen, wie sich das auswirkt." (Wissenschaftler von Harvard und dem
       MIT haben von 1946 bis 1956 an geistig Behinderte in der Schule radioaktiv
       verseuchtes Frühstück verteilt. Anm. G.G.) "Mitte der 90er Jahre ist in den
       USA so eine große Kommission eingesetzt worden, die das alles aufgerollt
       hat. Wenn man die Berichte liest, wird einem schlecht! Bis heute bezieht
       man sich bei Plutoniumsachen auf diese ,Studien'.
       
       Genauso die Russen. Beispielsweise wurde das Atomwaffentestgebiet in
       Kasachstan - Semipalatinsk - gezielt ausgesucht vom ,Vater der russischen
       Atombombe' Kurtschatow und von Berija, dem Geheimdienstchef. Sie haben das
       Gebiet ausgesucht, nicht weil da eine Wüste ist, sondern weil das angenehm
       bevölkert war. Sie haben die Bevölkerung als Versuchskarnickel benutzt,
       haben ihnen gesagt, wenn die Erde wackelt, dann sollen sie mal schön aus
       den Häusern ins Freie gehen, damit ihnen kein Balken auf den Kopf fällt.
       Sie haben ihre Tests gemacht und die Leute anschließend minutiös
       untersucht. Nur untersucht. Nicht behandelt! Also das Ausmaß der Perfidie
       und Brutalität ist fast unglaublich, auf beiden Seiten, da haben sich die
       Großmächte nichts vorzuwerfen.
       
       Das war natürlich alles streng geheim. Weltweit war es immer die
       Hauptaufgabe der Regierungen, bis heute, alle Informationen zu blockieren
       oder herunterzuspielen, die irgendwie ein schlechtes Licht auf die Nutzung
       der Kernenergie werfen könnten. Und zwar auf beides, die militärische und
       die zivile Nutzung. Entsprechend agieren auch die internationalen
       Organisationen oder Kommissionen, wie IAEO, WHO, ICRP usf. mit ihrer
       Informationspolitik und ihren Empfehlungen. Beispielsweise gingen
       unabhängige Experten von 1,8 Millionen Toten weltweit aus, die in der Folge
       von Tschernobyl gestorben sind und noch sterben werden. Die IAEO hingegen
       sprach von 50 Todesopfern des Super-GAUs. Bei der Festlegung von
       Strahlenwerten wird nach den Interessen der Atomindustrie entschieden. Vom
       Medizinischen her ist das eine absolute Katastrophe. Ich halte diese Leute,
       die in solchen Gremien sich tummeln und die Risiken runterrechnen und
       wegdiskutieren, für absolut gefährlich. Auf meiner Messlatte sind die viel
       gefährlicher als die KKWs selbst!
       
       Auch bei uns tagen die Leute, die in diesen Reaktorsicherheits- und
       Strahlenschutzkommissionen sitzen, alle vertraulich, man kriegt keine
       Unterlagen, nichts! Wir haben jahrelang gesucht nach den Ursachen der
       Leukämie in der Elbmarsch und Geesthacht. Und von diesen Leuten, die das
       behindert haben, auch vom Forschungszentrum, da hat bis heute keiner
       ausgepackt. Ihre Schweigeverpflichtung bis ans Lebensende ist mit der Rente
       verknüpft, anscheinend. Die Kernforschungszentren sind übrigens vom
       Atomausstieg ausgenommen. Sie haben sich auch alle mehrfach umbenannt und
       sind nun zusammengeschlossen in der Helmholtz-Gemeinschaft. Das Wort Atom,
       oder später Kernenergie, kommt nicht mehr vor. Sie heißen jetzt schlicht
       Helmholtz-Zentrum für … Aber bei Geesthacht, da hat man noch mehr zu
       verbergen als das und den Unfall 1986. Da führt die Spur direkt zurück in
       die Geschichte, in die deutsche Atombombenforschung der Nazis."
       
       Ich fasse es mal kurz zusammen: 1956 gründeten der Kernphysiker,
       Sprengstoffexperte und Atomforscher Diebner mit dem Physiker E. Bagge die
       Gesellschaft für Kernenergie und Schiffahrt (GKSS) in Geesthacht (auf dem
       ehemaligen Gelände von Dynamit Nobel). Beide hatten, wie Heisenberg und
       seine Gruppe, am Uranprojekt, dem geheimen Atomwaffenprogramm der Nazis
       unter Heereswaffenamt und SS gearbeitet, aber waren 2. oder 3. Garnitur.
       Dennoch kamen nicht Hahn, Heisenberg und v. Weizsäcker zur Kernexplosion,
       sondern Diebner. Ihm soll 1945 in Thüringen eine erste "kleine" gelungen
       sein, bei der KZ-Häftlinge als Versuchspersonen eingesetzt und umgebracht
       wurden.
       
       Diebner und Bagge hörten nie auf, sich mit Atomwaffen zu beschäftigen. Sie
       haben den "Göttinger Appell" der deutschen Atomphysiker (auch derjenigen
       aus dem NS-Uranprojekt) als Einzige nicht unterschrieben. Diese
       Selbstverpflichtung, "sich nicht an Herstellung, Erprobung, oder Einsatz
       von Atomwaffen zu beteiligen", wäre ihrer Forschung zuwidergelaufen. Sie
       gaben für das GKSS die Fachzeitschrift Atomkernenergie heraus, in der auch
       ihre Forschungsergebnisse der Nazizeit mit Stolz präsentiert wurden.
       
       ## Unfall in Geesthacht
       
       30 Jahre nach der Gründung gab es einen ungeklärten Unfall beziehungsweise
       Brand auf dem Gelände der GKSS-Kernforschungsanlage Geesthacht. Er wurde
       sofort verharmlost und vertuscht. Das war 1986. In den neunziger Jahren gab
       es dann dort die "weltweit auffälligste Häufung von leukämiekranken Kindern
       in der Umgebung von Nuklearanlagen". Zu deren Aufklärung wurde 1992 eine
       unabhängige achtköpfige Leukämiekommission offiziell von Schleswig-Holstein
       eingesetzt. Die hochkarätige Kommission bestand aus Expertinnen und
       Experten aus den Bereichen Umwelttoxikologie, Strahlenbiologie, Physik,
       Nuklearmedizin, Medizin und Biochemie. Sie arbeitete zwölf Jahre
       ehrenamtlich und fand in Umgebungsproben nukleartechnisch hergestellte
       "PAC-Mikrokügelchen", was auf verbotene militärische Experimente schließen
       ließ.
       
       2004 traten, entnervt durch permanente Behinderungen und "eine Mauer des
       Schweigens", sechs der acht Mitglieder aus der Kommission aus. Sie
       verfassten einen eigenen Abschlussbericht, in dem man die Mitverursachung
       des AKW Krümmel an den Leukämieerkrankungen zwar einräumte, die
       entscheidende Kontamination aber auf geheimgehaltene kerntechnische
       Sonderexperimente auf dem Gelände des Forschungsreaktors zurückführte.
       Dieses Ergebnis gründlicher Analyse wurde als haltlose Verschwörungstheorie
       abgewiesen und verworfen. Prof. Langfelder, Gründer der Gesellschaft für
       Strahlenschutz und des Otto-Hug-Strahleninstituts (für Tschernobyl-Hilfe),
       Strahlenbiologe und Arzt, ein Mann mit umfangreicher Tschernobyl-Erfahrung,
       sprach von "Mechanismen von Verschleierung und Verdunkelung in Politik,
       Wissenschaft, Wirtschaft und Staatsverwaltung". Ein anderes Mitglied, der
       Biochemiker Prof. Scholz aus München, nannte es "Kumpanei von Wissenschaft,
       Politik und Industrie" und zog sich zurück.
       
       Pflugbeil sagt: "Wir mussten unsere Proben bis nach Weißrussland schicken.
       Prof. Mironov von der Internationalen Sacharow-Umwelt-Universität Minsk -
       sie wurde in der Folge von Tschernobyl gegründet - hat sie analysiert und
       unsere Annahmen vollkommen bestätigt. Wir sind permanent behindert worden,
       auch von allen Parteien, einschließlich der Grünen. Den Eltern, der ganzen
       Bevölkerung und uns wurde immer nur ,Rotkäppchen und der Wolf' erzählt. Das
       war lehrreich. Aber es war nur ein Beispiel für die Abschottung und für die
       Lügen auf diesem Gebiet. Für mich war Tschernobyl ein absolutes Beispiel
       dafür, wie von der ersten Minute an zielgerichtet gelogen wurde, es gab
       erst ein totales Informationsverbot von allen Ministerien und dem KGB,
       danach eine offizielle Version, die wir alle kennen.
       
       Ich will jetzt auf den 2. Sarkophag zu sprechen kommen, denn er dient nicht
       der Verhüllung einer gefährlichen Ruine, sondern zur Verhüllung von
       gefährlichen Lügen. Da gibt es eine ganze Menge Ungereimtheiten. Weltweit
       gilt zum Beispiel die Version, dass 95 Prozent des Kernbrennstoffs noch
       drin sind und davon eine Gefährdung ausgeht für die Ukraine und für ganz
       Westeuropa. Tschetscherow hat diese Behauptung eindeutig widerlegt und er
       geht von weniger als 10 Prozent aus, die noch drin sind. Er hatte 2001 den
       Auftrag vom Kurtschatow-Institut für ein Forschungsgutachten im
       Zusammenhang mit dem 2. Sarkophag. Er hat Raum für Raum untersucht,
       gemessen, fotografiert, hat Bohrproben genommen und seinen
       Forschungsbericht gemacht. Er kriegte eine hohe Auszeichnung dafür und der
       Bericht landete in der Schublade, für immer! Er stört die Geschäfte.
       
       Tschetscherow erzählte mir, bevor wir - in Begleitung eines kleinen
       Filmteams - in den zerstörten Reaktorblock IV reingingen, wie er da überall
       rumgekrochen ist, auch auf dem Reaktorboden. Und dass er bei der Vermessung
       des unteren Teils dort fünf Stunden gearbeitet hat. Er sagte, da gab es
       keine 200 Tonnen, 20 Tonnen vielleicht, realistisch aber sind 10 Tonnen. Im
       anderen Fall wären sie ja mausetot gewesen. Als wir dann drin waren, das
       war schon ein beklemmendes Gefühl für mich. Der Krach der Instrumente, kaum
       Licht, man musste aufpassen, wohin man tritt bei dieser Kletterpartie und
       man wusste nie, ob nicht gleich ein Betonbrocken von oben runterfällt. Es
       sind noch tausend Räume begehbar in dieser Ruine, unterschiedlich stark
       zerstört. Am Boden des Reaktortopfes, sag ich mal, liegen so ein paar
       Trümmerteile, die vom oberen Raum runtergefallen sind. Wir sind da drüber
       weg gestiegen. Drunter gibt's noch verschiedene Räume, in denen an ein paar
       Stellen auch diese ,Elefantenfüße' aus geschmolzenem Material zu sehen
       sind. Tschetscherow hat uns das alles gezeigt und die Filmleute haben es
       aufgenommen.
       
       Im Reaktortopf war nichts. Es ist alles mit enormer Wucht rausgeschleudert
       worden in einer kurzen und heftigen Explosion, die so stark war, dass sie
       den 2.000 Tonnen schweren Betondeckel abgehoben hat. Also die Energiequelle
       ist eindeutig Kernenergie gewesen und die Explosion war eine Kernexplosion!
       Die westliche Welt - wo ja gilt, Kernkraftwerke und Kernwaffen sind was
       vollkommen Verschiedenes - will das nicht wahrhaben, weil sonst klar würde,
       dass sich ein KKW mit einer Kernexplosion selbst zerstören kann. Im
       Lehrbuch aber steht, ein KKW kann das nicht. Es kann aber.
       
       Man muss fragen, wem nutzt der neue Sarkophag, ein Ding von gewaltigem
       Ausmaß, 100 Meter hoch, 250 Meter Spannbreite? Bis zum Juni 2011 hat die
       Ukraine Finanzzusagen in Höhe von 685 Millionen Euro bekommen. Ein großer
       Teil der internationalen Hilfsgelder des Tschernobyl-Fonds fließt wieder an
       Firmen aus den Geberländern. Alle großen internationalen Namen der
       Kernindustrie sind in Tschernobyl bereits im Geschäft. Die Gesamtkosten
       werden momentan auf etwa 1,6 Milliarden Euro geschätzt. Das wird
       ausgegeben, für etwas, das überflüssig ist. Und auf der anderen Seite ist
       praktisch kein Cent zu beschaffen für die medizinischen und sozialen Fälle,
       die da anstehen. Im März 2011 demonstrierten ehemalige Liquidatoren gegen
       die Kürzung ihrer finanziellen Zuwendungen.
       
       Diese Schere wollten wir zeigen mit dem Film. Der wurde ein paarmal
       gesendet 2002 im ZDF. "Tschernobyl, der Millionensarg". Im Internet auf
       Youtube kann man sich den gestückelt angucken. Vor der ersten Ausstrahlung
       hat der deutsche Ansprechpartner für den Sarkophag, die Gesellschaft für
       Reaktorsicherheit, versucht, beim ZDF-Intendanten zu intervenieren und die
       Sendung zu verhindern. Aber man kann ja heute alles öffentlich sagen,
       folgenlos.
       
       Und zu Tschernobyl noch eine letzte Bemerkung: Als ich 1990 für ein paar
       Wochen Minister war, kamen Leute aus dem Westen an - wir hatten ja die
       ersten heiße Drähte zur Ukraine, zu Tschernobyl - und die Leute haben
       gefragt, ob ich nicht vermitteln könnte, dass man den deutschen Atommüll in
       Tschernobyl unterbringt. Und heute ist es anscheinend so weit. Ich habe mir
       das angeschaut, jemand hatte mich hingebracht. In der Nähe von Tschernobyl
       haben westliche Firmen auf einem absoluten Riesenareal Lagerstrukturen mit
       unterschiedlichen Untergründen angelegt, zum Ablagern von Atommüll.
       Angeblich für Müll aus Tschernobyl, aber das ist viel zu groß angelegt. In
       Erwartung von Müll, der auch Geld bringt.
       
       28 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
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