# taz.de -- Computer in der Pathologie: Leichen gucken in die Röhre
       
       > Die Gerichtsmedizin der Charité hat einen neuen Mitarbeiter: Der
       > "Obduktionscomputer" scannt die Leichen, noch bevor der Pathologe das
       > Skalpell ansetzt.
       
 (IMG) Bild: Nimmt Leiche noch in Augenschein: Muss der Tatort-Gerichtsmediziner Boerne (r.) bald umsatteln?
       
       Lautlos gleitet die schwere Tür zur Seite. Der Raum, den sie freigibt und
       in dem seit dem Sommer der ganze Stolz der Berliner Gerichtsmedizin steht,
       ist enttäuschend nüchtern: An der Decke verlaufen Röhren und Kabelschächte,
       an der linken Seitenwand ist ein Fenster zu einem der traditionellen
       Obduktionsräume, wie man sie in jeder Pathologie findet. Daneben stehen
       zwei niedrige altertümliche Schränkchen und etwas quer in der Mitte jene
       technische Errungenschaft, von der Institutsleiter Michael Tsokos sagt:
       "Damit ist die Berliner Rechtsmedizin im 21. Jahrhundert angekommen."
       
       Salopp ausgedrückt könnte man das Gerät einen Obduktionscomputer nennen, in
       der Fachsprache ist es ein "Multi Slicer Computertomograph" (MSCT).
       "Unspektakulär, nicht wahr", frotzelt Tsokos Leitender Oberarzt, Lars
       Oesterhellweg, über das Gerät: "ein Tisch und ein Loch". Doch der Eindruck
       täuscht, die Maschine leistet Erstaunliches, wie die beiden Mediziner
       vorführen.
       
       Langsam und so lautlos wie die Tür bewegt sich der Tisch mit dem zu
       untersuchenden Leichnam in das Loch. Unsichtbar für den Beobachter drehen
       sich im Innern des Lochs eine Röntgenröhre und ein Detektor um den Körper
       und scannen ihn aus den verschiedensten Winkeln. Sechzehn virtuelle
       Schnitte macht der MSCT bei jedem Durchlauf, 2.000 bis 2.800 Schnitte
       können die Pathologen bei Bedarf fertigen. 10 bis 15 Minuten dauert so eine
       Untersuchung, die auf einen Bildschirm übertragen wird. Der steht auf der
       anderen Fensterseite unmittelbar im eigentlichen Obduktionsraum neben einem
       Stahltisch und Waschbecken. So kann der Pathologe auch während des Scans
       bereits erste, noch unvollständige und etwas unscharfe Ergebnisse
       begutachten und - wenn erforderlich - bestimmte Regionen näher analysieren
       lassen.
       
       ## Untersuchung ohne Blut
       
       Bis der Computer die Ergebnisse endgültig berechnet und in dreidimensionale
       Bilder umgesetzt hat, vergehen rund weitere 20 Minuten. Per Tastendruck und
       Mausclick können nun einzelne Körperregionen betrachtet, gedreht,
       vergrößert oder auch entfernt werden. Getrennt von einander lassen sich so
       Skelett, Hautoberfläche, Organe, Blutgefäße, Zähne und anderes analysieren.
       Innere Blutungen oder Luftansammlungen im Körper können gesondert
       dargestellt werden. Ohne dass Blut geflossen ist, weiß der Obduzent nun
       schon, wie etwa ein Schusskanal verläuft, wo er nach dem Geschoss suchen
       muss oder wo im Körper sich etwa eine abgebrochene Messerspitze befindet.
       
       So erfreut sich der neue Robotkollege bei den BeamtInnen der
       Mordkommissionen und der Spurensicherung schon großer Beliebtheit. Die
       Mordermittler stehen direkt mit am Monitor und können im Wortsinne "ins
       Bild gesetzt" werden, müssen nicht mehr unbedingt auf die schriftlichen
       Obduktionsergebnisse warten, um zu wissen, in welche Richtung sie ermitteln
       müssen. Auch die Leute von der Spurensicherung (SpuSi) können den Körper
       eines Opfers gegebenenfalls gezielter nach Spuren absuchen. Denn der MSCT
       macht Analysen auch durch einen geschlossenen Leichensack möglich, sodass
       erste Ergebnisse schon vorliegen können, bevor die SpuSi anrückt. Solche
       Ermittlungsvorteile hat auch die Staatsanwaltschaft entdeckt. "Machen wir
       vorher mal eine CT", hört der 44-jährige Tsokos immer öfter.
       
       Seit August hat die Wundermaschine rund 100 der jährlich etwa 2.100
       Obduktionen vorbereitet. Alles kann sie allerdings nicht: Die aktuelle
       Farbe von Blut, Vergiftungen oder Drogenkonsum etwa kann die Maschine nicht
       erkennen. Was sie in Moabit aber kann, ist, die Arbeit von Tsokos,
       Oesterhellweg und der KollegInnen zielgerichteter ausführen zu lassen. Ihre
       Klienten sind unklare Todesfälle, Selbstmörder und Mordopfer.
       
       Die Seziermesser können also nicht ganz weggelegt werden. Und deshalb steht
       der Monitor auch direkt neben der Blutablaufrinne des Obduktionstischs.
       "Wir brauchen auch die Farbe und den Geruch", sagt der 39-jährige
       Oesterhellweg. Geschnitten und gesägt werden muss auch weiterhin, aber
       durch die vorherige "zerstörungsfreie Untersuchung" gibt es mehr Sicherheit
       bei der direkten Arbeit am menschlichen Körper. Weitere Analysen kann
       Oesterhellweg später vom PC in seinem Büro erledigen. Auch das spart Zeit.
       
       Das Scannen beherrschen inzwischen alle MitarbeiterInnen in der Pathologie,
       die computergestützte Auswertung immerhin drei Personen. So ist auch die
       Rund-um-die-Uhr-Auswertung gewährleistet. Demnächst stehen gleich um die
       Ecke beim Landgericht in der Turmstraße die ersten Prozesse an, bei denen
       die forensischen Gutachten auf der Grundlage des MSCT angefertigt wurden.
       
       ## Teure Technik aus Japan
       
       250.000 Euro kostet das neue Werkzeug; da dies der Charité auf einen Schlag
       zu teuer war, wurde es für 50.000 Euro pro Jahr geleast. Weitere rund
       70.000 Euro hat der Ausbau des Standraums samt kompletter Bleiverkleidung
       verschlungen. Schon aufgrund solcher Kosten verfügen nur 4 der 27 deutschen
       Rechtsmedizinischen Institute über ein solches Gerät: Heidelberg, Hamburg,
       Ulm und nun auch Berlin. Doch nur in der Hansestadt und in Tsokos Institut
       wird es auch im routinemäßigen Tagesbetrieb eingesetzt, ansonsten wird
       damit nur Forschung betrieben. Denn bei aller Weiterentwicklung von Medizin
       und Wissenschaft "schneiden wir im Grunde noch genauso so wie damals
       Leonardo da Vinci", sagt Oesterhellweg.
       
       Die Technik selbst kommt aus Japan. Die Ersten, die darauf aufmerksam
       wurden und sie außerhalb des asiatischen Inselstaates angewendet haben,
       sind dem Vernehmen nach die Israelis. Auf europäischem Boden ist die
       Schweiz hier führend und hier wiederum das Rechtsmedizinische Institut der
       Universität Bern. "Die Schweizer sind uns auf diesem Gebiet mindestens zehn
       Jahre voraus", erzählt der Oberarzt. Er selbst hat zwei Jahre lang in Bern
       gearbeitet und die Möglichkeiten der "postmortalen Multi Slicher
       Computertomographie" (pm MSCT) dort kennengelernt. Oesterhellweg war es
       letztlich auch, der die Technik nach Berlin geholt hat. "Er hat mich davon
       überzeugt", gibt Tsokos unumwunden zu. Zweieinhalb Jahre hat es dennoch
       gedauert, bis Tsokos auch seinen Arbeitgeber vom Sinn der kostspieligen
       Anschaffung überzeugen und ein Gerät in Japan ordern konnte. Kaum war die
       Bestellung raus, kamen im März der Tsunami und der Reaktor-Crash in
       Fukushima dazwischen "und Japan ging unter". Doch nun steht das Gerät da
       und hat reichlich zu tun.
       
       Denn die Rechtsmediziner um Tsokos haben weitere Pläne. Gemeinsam mit den
       Spezialisten für die neue digitale Verkehrsunfallaufnahme bei der Polizei
       und die digitale Tatortrekonstruktion beim Landeskriminalamt soll eine
       Zusammenführung der Techniken erprobt werden. Aber das ist eine andere
       Geschichte.
       
       15 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Otto Diederichs
       
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