# taz.de -- Montags-Interview mit Nina Korn und Katja Popow: "Märchen sind höchst aktuelle Utopien"
       
       > Trifft man zwei Märchenerzählerinnen, muss man viel Zeit mitbringen. Bei
       > Tee und Ingwerkeksen liefern sich Nina Korn und Tochter Katja Popow einen
       > Erzählwettstreit.
       
 (IMG) Bild: Hinterm Märchenbrunnen: Nina Korn und Tochter Katja Popow.
       
       taz: In der DDR gab es mit Ilse Korn, Ihrer Mutter, Frau Korn, und Ihrer
       Großmutter, Frau Popow, eine einzige Märchen- und Geschichtenerzählerin.
       Sie beide setzen diese Tradition fort. Was fasziniert Sie so sehr am
       Erzählen? 
       
       Nina Korn: Die Crux in unserer Familie ist die, dass alle gerne reden.
       (lacht) Mein Vater, der Dichter Vilmos Korn, hatte eine wunderbar sonore
       Stimme und hörte sich selber gerne reden. Er hatte lange Zeit im Kerker
       gesessen und konnte mit niemandem reden. An seiner Seite wurde meine
       Mutter, eine buchbesessene Bibliothekarin, zur Märchenerzählerin. Sie
       erzählte - der berühmten Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb - aufgrund
       des Mangels an Kinderbüchern nach dem Krieg. Das Erzählen übertrug sich
       dann von Generation zu Generation.
       
       Katja Popow: Es ist meine Leidenschaft zu reden, mit meinen Worten Gefühle
       auszudrücken und für die Zuhörer so bildhaft zu machen, dass sie an meinen
       Lippen hängen.
       
       Wann war für Sie klar, Frau Korn, dass Sie in die beruflichen Fußstapfen
       Ihrer Mutter treten würden? 
       
       Nina Korn: Ganz lange nicht. Ich spielte leidenschaftlich gern Theater und
       wollte Schauspielerin werden. Für die Bühne war ich aber zu klein. Die
       Dramaturgie war dann für mich der glücklichste und schönste Beruf. 1961
       konnte meine Mutter nicht mehr, sie war krank und streckte die Waffen. So
       fing ich an. Aber ich hatte damals nicht das Gefühl, dass das mein Leben
       ausmachen würde so wie heute.
       
       Was war passiert, dass aus der Vertretung Ihrer Mutter eine Leidenschaft
       wurde? 
       
       Nina Korn: Wenn Kinder an meinen Lippen hängen, mich anschauen, mitgehen,
       die Luft anhalten und lächeln, dann ist das eine kaum zu beschreibende
       Kommunikation. Eins zu werden mit den anderen, auch bei Erwachsenen. Ich
       bekomme Entzugserscheinungen, wenn ich nicht erzählen kann. Ich leide dann
       wie ein Hund und könnte pausenlos die Wohnung aufräumen.
       
       Sie, Frau Popow, sind gelernte Sekretärin. Wie fing es bei Ihnen an? 
       
       Katja Popow: Lange Zeit fand ich es toll, eine erzählende Großmutter zu
       haben und als diese nicht mehr da war, eine erzählende Mutter. Mitte der
       80er Jahre habe ich in einer Bibliothek gearbeitet und ein kleines
       Puppentheater mit alten Handpuppen mitbegründet. Da stellte ich fest, dass
       mir die Beschäftigung damit Spaß machte. Aber das Wort Märchenerzähler
       reduziert uns in bestimmten Kreisen als Märchentanten oder Lügenbarone.
       Viele setzen Märchen mit Lüge gleich, wenn zum Beispiel auf Politiker
       geschimpft wird, die Märchen erzählen würden. Das ist eine totale
       Verdrehung, die mich wahnsinnig ärgert.
       
       Nina Korn: Märchen ist ein urdeutsches Wort. Es kommt von Maer und ist eine
       Begebenheit, ein Ereignis.
       
       Was hat sich in den vielen Jahren, in denen Sie beide Märchen und
       Geschichten erzählen, am meisten verändert? 
       
       Katja Popow: Das Sprachvermögen und das Vermögen, Deutsch zu verstehen,
       nimmt bei Kindern rapide ab. Wir stellen seit 20 Jahren einen unglaublichen
       Wortverlust bei Kindern und Jugendlichen fest. Ich muss in einer dritten
       oder vierten Klasse davon ausgehen, dass mich 70 Prozent nicht verstehen.
       Sie verstehen den Sinn der Worte nicht.
       
       Nina Korn: Einmal fragte mich ein Kind nach einer Erzählstunde etwas, das
       mir einen unvergesslichen Denkanstoß gab. Ich hatte von drei Prinzen
       erzählt und das Wort "betrübt" benutzt. Ein Mädchen, Jenny hieß sie, fragte
       mich, ob ich ihr sagen könne, was betrübt heißt. Ich konnte es nicht
       fassen, dass sie dieses Wort noch nie gehört hatte.
       
       Sprechen Sie von deutschen Kindern oder von Kindern aus türkischen,
       arabischen oder anderen nichtdeutschen Familien? 
       
       Nina Korn: Von deutschen Kindern. Die anderen sind noch schlechter dran. Im
       Anschluss an diese eben erwähnte Märchenstunde bat ich die Kinder, noch zu
       bleiben, und fragte sie nach dem Wort betrübt. Nur zwei haben sich gemeldet
       und wussten, dass betrübt traurig heißt. Dann habe ich gramvoll,
       kummervoll, leidvoll und niedergeschlagen hinzugefügt. Bei niedergeschlagen
       lachten alle, einschließlich Jenny, weil sie nur die eine Bedeutung
       verstanden, nämlich jemandem eine runterhauen.
       
       Katja Popow: Meine Mutter sammelt seitdem eine Liste mit vielen hundert
       Worten, und auch ich erzähle seitdem für Kinder anders.
       
       Was haben Sie verändert? 
       
       Katja Popow: Ich halte öfter inne und verwende Synonyme, um sicherzugehen,
       dass die Kinder alles verstehen. Wie viele Kinder wissen nicht, was das
       Wort purpurfarben heißt! Von nicht wenigen Lehrern bekommen wir fast schon
       vorwurfsvoll zu hören, dass wir Hochsprache machen würden. Wenn ich Kinder
       aber erreichen kann und mir Siebtklässler sagen, dass ich eine schöne
       Stimme habe und sie alle Wörter verstanden haben, dann gehe ich wie auf
       Flügeln nach Hause.
       
       Nina Korn: Neulich, in einer dritten oder vierten Klasse, fragte ich die
       Kinder, wer sich aus einer Bibliothek ein Märchenbuch holen würde. Ich
       bekam zwei, höchstens drei Hände zu sehen, die nach oben gingen. Kinder
       hören gerne Geschichten, aber selbst Bücher lesen, diesen Impuls lösen nur
       die Eltern aus. Die bildungsnahen Eltern! Ich möchte etwas ergänzen, was
       wenige Jahre zurückliegt. Ich hatte mit zwei fünften Klassen zu tun mit
       vielen türkischen, vietnamesischen, chinesischen und russischen Kindern und
       drei deutschen Kindern, deren Eltern noch nicht weggezogen waren. Ich hatte
       vorgeschlagen, Schneewittchen in einer türkischen Version zu erzählen, von
       der ich hingerissen bin, weil sie nicht so grausam wie die deutsche Version
       ist, und wollte die Geschichte vor beiden Klassen erzählen, um nicht
       zweimal hintereinander das Gleiche zu machen. Die beiden Lehrerinnen
       schauten mich an, als wäre ich nicht ganz dicht, und sagten, die Kinder
       würden niemals zuhören. Ich bot an, das Geld zurückzugeben, wenn die Kinder
       nicht zuhören. Diese beiden Lehrerinnen werde ich mein Leben nicht
       vergessen! Sie saßen mit offenen Mündern da und konnten nicht glauben, dass
       die Kinder tatsächlich zuhörten.
       
       Wie haben Sie es geschafft, die Kinder zu fesseln? 
       
       Nina Korn: Mit ihrer Erlebnisfähigkeit!
       
       Katja Popow: Solche Situationen kenne ich sehr gut. Es fängt schon damit
       an, dass ich, wie meine Mutter auch, darauf bestehe, dass die Kinder in
       einem Kreis sitzen und nicht in irgendwelchen Kuschelecken liegen. Ich bin
       keine Schlafunterhalterin. Ich brauche zum Erzählen wache, angeregte
       Geister, die mich ansehen.
       
       Nina Korn: Ja, das Sitzen im Schneidersitz ist ein entspannendes
       orientalisches Sitzen und eine Grundvoraussetzung zum aufmerksamen Zuhören.
       
       Katja Popow: Zum anderen erwarte ich, dass die Lehrer oder Erzieher in der
       Erzählstunde nicht in die Cafeteria gehen, sondern dabei sind. Sowohl
       Erwachsene als auch Kinder merken, ob derjenige, der etwas erzählt, es
       ernst meint. Kinder riechen es förmlich, ob man dahintersteht oder nicht.
       Dann kann es sogar im Jahr 2011 passieren, dass Kinder nach einer Erzählung
       mit Zauberern und fliegenden Teppichen fragen, ob das alles wahr sei. Das
       ist die Kunst des Erzählens.
       
       Wie viele Auftritte haben Sie pro Monat? 
       
       Katja Popow: Das kommt auf die Jahreszeit an. Von September bis März sind
       es bei mir im Durchschnitt drei bis vier Auftritte.
       
       Davon alleine können Sie also nicht leben oder? 
       
       Katja Popow: Nein. Wir wohnen dafür in der falschen Stadt. Berlin ist die
       Stadt der Kleinkunst. Sie müssen nur gucken, was es jedes Wochenende an
       Amüsement der unterschiedlichsten Art gibt. Wenn meine Großmutter als erste
       und einzige Märchenerzählerin in der DDR auftrat, kamen die Leute in
       Scharen.
       
       Wovon zahlen Sie dann Ihre Miete? 
       
       Katja Popow: Ich bin selbständig und arbeite für eine kleine Werbeagentur.
       Das mache ich seit zehn Jahren. Es ist nicht mein Traumberuf, aber er
       vereinigt zwei Dinge, die ich kann: reden und Leute überzeugen. Dazu kommt
       mein grafisches Können. Mir bleiben im Schnitt 250 Euro im Monat zum Leben.
       Was ich im Winter verdiene, versuche ich, für den Sommer zurückzulegen.
       Viel ist das aber nicht.
       
       Nina Korn: In Berlin gibt es etwa 200 Märchenerzähler, vom Anfänger bis zum
       Könner. Und es werden jedes Jahr immer mehr. Die Hochschule der Künste
       macht unseligerweise aus Schauspielern, die nicht unterzubringen sind,
       Märchenerzähler. Ich bin jetzt seit nunmehr 13 Jahren Rentner. Davor war
       ich zehn Jahre arbeitslos und habe daher eine relativ niedrige Rente, die
       meine Lebenshaltungskosten nicht trägt. Ich müsste wohl auf der Stelle tot
       umfallen, wenn ich nicht erzählen könnte. Ich hatte mir damals das Leben in
       der Bundesrepublik anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte als Rentner
       mehr reisen.
       
       Sie erzählen Märchen, Geschichten und Sagen aus der ganzen Welt und haben
       selbst nur einen kleinen Teil der Welt gesehen? 
       
       Nina Korn: So ist es. Ein einziger Traum ging gleich nach der Wende - auf
       geradezu märchenhafte Weise - in Erfüllung. Jemand aus Apenrade, ehemals
       Schleswig-Holstein, jetzt Dänemark, lud mich ein. Ich habe in der
       Geburtsstadt von Hans Christian Andersen ein paar Tränen verdrückt. Auf
       eigene Kosten sind wir später auch noch in die Türkei gefahren. Die
       sonstigen Träume haben sich nicht erfüllt, weil das Geld fehlt.
       
       Muss man, um möglichst authentisch Geschichten aus fremden Ländern zu
       erzählen, dort gewesen sein? 
       
       Katja Popow: Nach der Wende wollten wir als Allererstes natürlich in den
       Orient, weil von dort die berühmteste Märchenerzählerin der Welt kommt,
       Scheherazade. Reisen nach Tunesien, in die Türkei und nach Zypern haben
       meinen Bedarf am Orient gedeckt. Durch Freunde hatte ich die Möglichkeit,
       zweimal nach Irland zu reisen. Aber ich weiß nicht, ob meine Liebe zu
       irischen Märchen größer geworden ist, weil ich über irische Heide gelaufen
       bin.
       
       Nina Korn: Eine Einschränkung würde ich aber doch machen. Als ich das erste
       Mal in der Türkei gefahren bin, gab es etwas, was ich bis dahin nie gesehen
       und wovon ich in keinem Märchen jemals gehört hatte. Ich hätte mir die in
       türkischen Märchen beschriebenen Berge niemals so vorstellen können, wie
       sie wirklich sind! Durch diese unbeschreibliche Bergwelt zu fahren, gab mir
       plötzlich einen ganz anderen Blick. Aber ich glaube, das ist die Ausnahme.
       
       Welchen Stellenwert haben Märchen heutzutage? 
       
       Katja Popow: Mir ist erst in den letzten Jahren aufgefallen, wie aktuell
       viele Märchen und Geschichten sind. Nehmen Sie nur die Eurokrise. Wie viele
       Märchen gibt es, die von Habgier, Gold und Geld handeln! Märchen sind
       höchst aktuelle Utopien. Wir leben in einer unmoralischen Gesellschaft, in
       der alles möglich ist, in der man alles darf und dem Individualismus so
       lange frönen darf, bis man gegen alle Regeln des Zusammenlebens verstößt.
       Es gibt bei Wilhelm Hauff ein Märchen, "Die Höhle von Steenfoll", in der
       das Leben eines schwulen Paares erzählt wird, ohne dass natürlich das Wort
       schwul auftaucht. Aber es sind zwei grundunterschiedliche Männer, die
       zusammenleben. Einer ist ganz mütterlich und für den Haushalt zuständig,
       der andere ist ein Kaufmann, der nach draußen drängt. Der findet eine
       winzig kleine Goldkugel am Strand und all der Fleiß von vorher, der Aufbau
       eines bescheidenen Wohllebens, gehen den Bach herunter wegen der Hoffnung
       auf einen großen Schatz, auf das schnell verdiente Geld, für das er nicht
       nur die eigene Seele verkauft, sondern auch die des Freundes dazu. Oder im
       Italienischen: Da gibt es eine Wette zwischen Don Dinero und Donna Fortuna.
       Der eine will es mit Geld regeln, aber ohne das Glück geht es nicht.
       
       Nina Korn: Die alten Volksmärchen erzählen von der Sehnsucht, satt zu
       werden, von einem gerechten König, der endlich aufhört, ein maßloser Tyrann
       zu sein. Es geht immer um Hoffnung. Märchen sind erzählte Träume. Das ist
       für mich ein Schlüsselwort, warum ich Märchen erzähle. Ich träume auch von
       Gerechtigkeit und davon, dass es so ausgeht, wie es die Mehrheit der
       Menschen wünscht, und nicht, wie es sich einige wenige vorstellen.
       
       Gibt es Länder und Kulturen, an denen Ihr Herz besonders hängt? 
       
       Katja Popow: Ich hatte schon immer eine große Affinität zur russischen
       Literatur und zu russischen Märchen. Ich habe auch einen Russen geheiratet.
       Die Ehe hat zwar nicht gehalten, aber den Namen habe ich behalten, weil er
       wie ein Umhang zu mir passt. Russische Märchen sind witzig und herzlich.
       Sie haben einen ganz eigenen Blick auf die Welt und sie haben mit der Baba
       Jaga eine ganz wunderbare Hexe.
       
       Nina Korn: Russische Märchen kommen auch meinen Gefühlen sehr nah. Aber ich
       habe zunehmend auch nördliche Länder wie Norwegen und Finnland für mich
       entdeckt.
       
       Wenn Sie einen schlechten Tag hatten oder es Ihnen nicht gut geht, finden
       Sie dann Trost in Märchen und Geschichten? 
       
       Katja Popow: Ja, unbedingt! Ein Märchen, eine fantasievolle Geschichte,
       generell Literatur, oder auch ein Märchenfilm kann mich geradezu
       wegkatapultieren aus einer Malaise.
       
       Nina Korn: Ich hatte im vorigen Jahr Depressionen und habe nur ans Sterben
       gedacht. Das ist zum Glück ganz weg. Ich kann mich also wieder hinlegen,
       der Körper ist müde, der Geist aber nicht, und dann ziehen vor meinem
       inneren Auge Märchen vorbei.
       
       Wenn Sie, wie im Märchen, einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich
       wünschen? 
       
       Nina Korn: Dass ich so gesund bleibe, wie ich mich momentan wieder fühle,
       und meine Stimme bleibt, wie sie ist. Dann kann ich noch bis 75 erzählen.
       
       Katja Popow: Ich wünschte mir, von meiner Arbeit leben zu können. Für
       Erzähler wird es immer ein Publikum geben, davon bin ich überzeugt. Aber
       die Frage ist, wer das finanziert. Oder ich lese irgendwann für eine
       Dauerwurst und Brot.
       
       19 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Bollwahn
       
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