# taz.de -- Ärztin mit sozialer Verantwortung: Der heiße Stein
       
       > Die Ärztin Dörte Siedentopf organisiert seit 20 Jahren
       > Erholungsaufenthalte für Tschernobyl-Kinder. Sie ist fassungslos über den
       > Umgang mit Fukushima.
       
 (IMG) Bild: Geisterstadt Pripjat in der Ukraine: Die Bewohner wurden nach dem Unglück für immer evakuiert.
       
       Dr. med. Dörte Siedentopf, geboren 1942 in Oldenburg, daselbst Schulbesuch
       und Abitur, ab 1961 Studium der Humanmedizin in Würzburg, Berlin,
       Göttingen. 1966 Examen, Promotion 1968. 1967 Heirat, zwei Kinder, ab 1970
       dann im hessischen Dietzenbach tätig als niedergelassene Ärztin für
       Allgemeinmedizin und Psychotherapie in Gemeinschaftspraxis. Seit 2003 im
       Ruhestand.
       
       Sie ist (seit der Gründung 1981) Mitglied im IPPNW (Internationale Ärzte
       für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung). Sie
       initiierte die Verlegung von "Stolpersteinen" in Dietzenbach und gründete
       Anfang der 90er Jahre den "Freundeskreis Kostjukovitschi e. V. Dietzenbach,
       der u. a. zweimal jährlich Hilfstransporte nach Weißrussland schickt, mit
       medizinischem Gerät, Kleidung, Fahrrädern, Nähmaschinen, Computern usw.
       
       Seit 20 Jahren werden für Tschernobyl-Kinder Erholungsaufenthalte in
       Deutschland organisiert. Gastfreundliche Dietzenbacher Familien nehmen
       jeden Sommer weißrussische Kinder auf. Der Freundeskreis hat inzwischen
       zahlreiche Mitglieder und viele Freundschaften in Kostjukovitschi
       geschlossen. Eine Reihe von tatkräftigen Helferinnen und Helfern des
       Freundeskreises kümmert sich um alles, auch um das Einsammeln von Geld- und
       Sachspenden. Seit 2009, zum 23. Jahrestag von Tschernobyl, besteht eine
       Städtepartnerschaft. Frau Dr. Siedentopf ist verheiratet mit einem
       Mediziner, auch beide Kinder haben Medizin studiert. Ihr Vater war
       Landarzt, ihre Mutter Hausfrau und Lehrerin. 
       
       ***
       
       Frau Dr. Siedentopf empfängt uns in ihrer kleinen Berliner Dachwohnung
       Anfang Dezember in Pankow am Bürgerpark. Bei Tee und Keksen erzählt sie uns
       von ihren Hilfsaktivitäten und Erfahrungen.
       
       "Das Schlimmste ist, dass die Verantwortlichen nichts gelernt haben aus
       Tschernobyl. Ich bin fassungslos über den Umgang mit der Reaktorkatastrophe
       in Fukushima, die ja noch umfangreicher ist als die von Tschernobyl.
       Darüber, dass die Regierung die Evakuierungszone nicht entsprechend
       ausgeweitet und Frauen und Kinder nicht sofort in den Süden des Landes in
       Sicherheit gebracht hat, kann man nur hilflose Wut empfinden. Stattdessen
       wird die Bevölkerung systematisch belogen, sie wird gar nicht oder falsch
       informiert über die wirklichen Gefahren. Das ist vollkommen
       unverantwortlich. Was da jetzt auf die Japaner zukommt, an Erkrankungen und
       Problemen, das ist unvorstellbar. Und das nehmen Politik und Atomwirtschaft
       wirklich alles in Kauf! Weltweit!
       
       Am Beispiel von Tschernobyl kann man sich das Ausmaß in etwa vor Augen
       führen. Viele Leute denken, das ist lange her, Tschernobyl ist eine
       vergangene Katastrophe, über die man auf Wikipedia nachlesen kann. Aber die
       Menschen in den radioaktiv verseuchten Gebieten leben von 1986 bis heute
       mit Tschernobyl. Die Folgen lassen nicht nach. Anders als bei
       Naturkatastrophen, nehmen sie mit der Zeit zu statt ab - und das für die
       nächsten 300 Jahre, mindestens. Ich gehe nachher noch genauer darauf ein."
       (Siehe dazu auch den Bericht der "Gesellschaft für Strahlenschutz " u.
       IPPNW: "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 20 Jahre nach der Reaktor-
       Katastrophe", Anm. G.G.)
       
       ## Menschen lebten Jahrzehnte im verstrahlten Gebiet
       
       "Vorher will ich noch kurz etwas zu den Ursachen sagen und weshalb wir uns
       zu einer Hilfsaktion in Weißrussland entschieden haben. Es ist so, dass der
       größte Teil des verstrahlten Gebietes in Weißrussland liegt. 70 Prozent der
       Radioaktivität ging nieder auf die damalige Sowjetrepublik Weißrussland.
       Ein Viertel der Landesfläche wurde verstrahlt. Etwa 15 Kilometer vom
       Reaktor entfernt ist die weißrussische Grenze.
       
       Und als der Wind die Wolke dann Richtung Moskau bewegte, da hat man
       zusätzlich noch schnell künstlich abregnen lassen, mit Silberjodit.
       Natürlich ohne die Bevölkerung zu informieren. Anfang Mai, bei
       wunderschönem Wetter, kam plötzlich ein klebriger, gelber Regen runter,
       erzählen die Leute. Man hat die Bevölkerung jahrelang im Unklaren gelassen,
       es gab nur Umsiedelungen, Anordnungen, Beschwichtigungen. Dosimeter waren
       strengstens verboten.
       
       Besonders betroffen waren die Gebiete Gomel und Mogiljow. Im Mogiljower
       Gebiet liegt auch das Städtchen Kostjukovitschi, in das ich seit 20 Jahren
       fahre. Diese beiden Gebiete wurden großflächig verstrahlt und etwa eine
       Million Menschen mussten umgesiedelt werden, dazu musste man erst mal in
       den Großstädten und Bezirken Häuser bauen. Um Minsk herum ist eine riesige
       Stadt gebaut worden. Viele Leute lebten zehn Jahre auf den verstrahlten
       Gebieten, bis sie neue Wohnungen beziehen konnten, und viele leben immer
       noch auf kontaminiertem Boden und treiben Landwirtschaft.
       
       Für alles muss ja, seit dem Untergang der Sowjetunion, der weißrussische
       Staat aufkommen. Allein in ,unserem' Kreis sind 8.000 Menschen umgesiedelt
       worden. 26 Dörfer wurden abgetragen und eingegraben. Viele Dörfer in den
       verstrahlten Gebieten stehen leer, in einige sind alte Leute zurückgekehrt
       oder auch Kriegsveteranen aus Tschetschenien oder Afghanistan, die nicht in
       der Stadt leben können.
       
       Vergleichbares gibt es in der Sperrzone um Tschernobyl herum. Menschen
       leben in den alten Dörfern, ohne Strom, ohne Leitungswasser und versorgen
       sich selbst, so gut sie können. Dort ist überall sandiger Boden, wie in
       Berlin - die Birken gehen von hier bis nach Moskau. Das Grundwasser ist
       sehr niedrig, d. h., wenn die Radioaktivität 2 Zentimeter pro Jahr in den
       sandigen Boden sinkt, dann ist die also jetzt bei 50 Zentimeter angekommen
       und nicht mehr weit entfernt vom Grundwasser.
       
       ## Die Hälfte des Haushalts
       
       Es hat also gewaltige Umwälzungen gegeben dort. Die Kosten für
       Weißrussland, auch die gesundheitlichen, waren immens. Die ganzen
       Erdarbeiten, die in den zehn, fünfzehn Jahren nach Tschernobyl gemacht
       worden sind, die Dekontaminierung der Schulhöfe, die ganzen Abtragungen -
       was weiß ich, wohin sie das gebracht haben. Also das alles hat der Staat
       Belarus bezahlt. Ich glaube, die Hälfte seines Haushalts ist in die
       Beseitigung von Tschernobyl-Folgen geflossen.
       
       Und eines Tages konnte und wollte man die vergleichsweise großzügigen
       Regelungen aus sowjetischen Zeiten nicht weiterhin erfüllen. Deshalb hat
       Präsident Lukaschenko Tschernobyl quasi als überwunden erklärt, als
       museales Ereignis. Es gehen von den ehemals verstrahlten weißrussischen
       Gebieten keine Gefahren mehr aus, wurde offiziell erklärt.
       
       Bis 20 Jahre nach der Katastrophe hatte es immer noch Vergünstigungen
       gegeben, es wurde ein sogenanntes Sarggeld bezahlt, an Leute, die als
       Liquidatoren ihren Ausweis hatten. Aber auch Leute, die umgesiedelt wurden,
       hatten einen Anspruch. Diese Zahlungen wurden weitgehend eingestellt. Es
       war nicht viel Geld, aber dazu kam noch kostenfreie medizinische
       Versorgung, die jetzt auch abgeschafft wurde. Und die Anerkennung
       bestimmter Krankheiten, als Folge von Tschernobyl, ist auch nicht mehr
       selbstverständlich.
       
       Fast eine Million ,Aufräumarbeiter' - meist junge Männer - wurden in
       Tschernobyl und Umgebung eingesetzt. Ein großer Teil von ihnen kam aus
       Weißrussland. Heute sind die meisten Liquidatoren invalide, haben Lungen-
       und Schilddrüsenkrebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Erkrankungen der Nieren,
       des Magen-Darm-Bereichs, Leukämie und auch psychische Erkrankungen. Etwa
       100.000 sind bislang gestorben, im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. Viele
       begingen Selbstmord. Und da wurde einfach gesagt, Tschernobyl ist vorbei.
       Es hat Proteste gegeben in Minsk. Und gerade jetzt ist in Kiew wieder
       protestiert worden, mit einem Hungerstreik der Liquidatoren, gegen die
       krassen Einschnitte, die auch die Ukraine an Renten und Vergünstigungen
       vorgenommen hat.
       
       ## In den Dörfern sind die Kosten niedriger
       
       In Weißrussland war zum Beispiel für Betroffene der Kindergarten kostenlos,
       das Schulessen war kostenlos, die Kinder bekamen auch besondere Vitamine,
       und Kuren - die bekommen sie zwar jetzt auch noch, einmal pro Jahr, aber
       ansonsten wurde alles zurückgefahren. Auch das vitaminreiche Essen für die
       Schulen und Kindergärten. Also der Ausweis, den sie alle haben, den haben
       sie uns gezeigt, aber der gilt eigentlich nicht mehr. Alle ehemaligen
       Ansprüche sind gestrichen.
       
       Wenn man ohnehin nur wenig hat und auch noch krank ist, dann wirken sich
       die Streichungen und Kürzungen sehr empfindlich aus. Jetzt gerade haben sie
       wieder - wie jedes Jahr - die kommunalen Abgaben erhöht, also Wasser und
       Wärme. Und die Wärme für die Stadt, für die großen Häuser und Blocks, die
       läuft im Winter in unisolierten Rohren über das Feld, da geht schon jede
       Menge verloren, was ja auch bezahlt werden muss. Deswegen leben auch viele
       Leute lieber in den Dörfern, dort können sie ihre Kosten reduzieren.
       
       Die hohe Staatsverschuldung, die alle Menschen einschränkt und bedrückt,
       ist sicher einerseits durch Tschernobyl bedingt, aber auch durch massive
       Misswirtschaft. Es gibt eine Hyperinflation in Belarus, momentan sind das
       etwa 113 Prozent. Der Durchschnittsverdienst liegt bei 150 bis300 Euro im
       Monat. Arbeiten im Ausland ist nicht erlaubt.
       
       ## Keinerlei Opposition wird geduldet
       
       Die Grenzen zu den neuen EU-Mitgliedstaaten Polen, Lettland, Litauen sind
       dicht für Weißrussen. Aber es ist nicht nur das Geld, der drohende
       Staatsbankrott, es gibt auch eine ungeheure Unfähigkeit, wirklich in 20
       Jahren irgendwas an Staat überhaupt aufzubauen, an Demokratie. Keinerlei
       Opposition wird geduldet. Dennoch kommt es zu Protestdemonstrationen. So
       auch gegen den ungeheuerlichen Beschluss, ein AKW zu bauen.
       
       Weißrussland hat kein AKW. Aber unmittelbar nach Fukushima hat Lukaschenko
       gesagt, er will jetzt eins bauen, mit russischer Hilfe, in Ostrowez, 20 km
       von der litauischen Grenze entfernt. Der Vertrag wurde inzwischen von
       Lukaschenko und Putin besiegelt. Es wird mehr als 5 Milliarden Euro kosten,
       wurde gesagt, das AKW soll modern und vollkommen sicher sein, saubere und
       preiswerte Energie liefern und Arbeitsplätze schaffen, all diese
       Propagandageschichten. Da ist die Atomindustrie in Ost und West gleich.
       
       Also das sind so andeutungsweise die äußeren Bedingungen. Vieles kenne ich
       aus eigener Anschauung. Angefangen hat das so: Wir haben damals, 1990 -
       nach Glasnost und Perestroika - an einer Gruppenreise nach Minsk für
       Versöhnung und Völkerverständigung teilgenommen. Veranstalter war ein
       kirchlicher ,Arbeitskreis Frieden' in Bonn/Bad Godesberg."
       
       (Die Republik Weißrussland hatte am meisten unter dem Überfall der
       deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zu leiden, unter den Gräueltaten
       von Militär und Sondereinsatzgruppen. Nach drei Jahren Besetzung war das
       Land verwüstet und ausgeraubt, es verlor viele Einwohner, und fast die
       gesamte jüdische Bevölkerung war ermordet. In der Nähe von Minsk
       errichteten die Deutschen das größte Vernichtungslager auf sowjetischem
       Boden. Anm. G.G.) 
       
       "Das hat mich auch deswegen interessiert, weil mein Vater lange Jahre… es
       gibt Briefe aus Brest. Festung Brest. Es gibt Bilder…, auch im Lazarett.
       Das war eben, wie heißt das? Heeresgruppe Mitte, eines der Lazarette, die
       sie da hatten. Briefe und Bilder… und wie er da so… Irgendwie dachte ich
       immer, ich muss das mal sehen. Wir haben natürlich nie mit ihm über all
       diese Dinge geredet. Und 1963 ist er dann gestorben, an einer bösartigen
       Erkrankung auch. Ich weiß nur noch, meine Mutter kolportierte, dass er mal
       gesagt hat: ,Wenn wir den Krieg verlieren, dann gnade uns Gott!'"
       
       ## Die Kinder mit den Narben
       
       Frau Dr. Siedentopf hat sich wieder gefangen und erzählt weiter: "Wir haben
       alles angeschaut, auch das ehemalige Getto. Und eher zufällig haben wir
       fünf Ärzte aus der Gruppe dann auch eine Klinik besucht, außerhalb von
       Minsk. Da erholten sich Kinder, die behandelt wurden nach
       Schilddrüsenkrebs. Das waren die ersten Opfer, die wir sahen, in einem
       ehemaligen Erholungsheim für Funktionäre. Alle Kinder waren blass und mit
       einer roten Narbe am Hals.
       
       Da ist uns das erst klar geworden, dass Tschernobyl nicht vorbei ist. Eine
       Ärztin sagte uns dann, dass ihnen eigentlich nicht so sehr Versöhnung und
       Völkerverständigung helfen könnten, sondern dass sie konkrete medizinische
       Hilfe brauchen. Wenn wir helfen möchten, sollen wir in die Provinz gehen,
       die großen Kliniken in Minsk seien schon relativ gut versorgt. Da war die
       Frankfurter Uniklinik engagiert. Und wir bekamen eine Anschrift und sagten,
       wir überlegen das mal. Und bald darauf sind wir dann zu zweit nach
       Kostjukovitschi gefahren. Das liegt etwa 180 Kilometer Luftlinie von
       Tschernobyl entfernt, im Osten Weißrusslands.
       
       Meine Stadt Dietzenbach hat 35.000 Einwohner, etwa so viele wie
       Kostjukovitschi. Wir besuchten dort den Chefarzt in einem alten Krankenhaus
       von 1905, es war unglaublich, Baracken, so im Gelände verteilt, ohne
       irgendwas. Er zeigte uns alles, und wir lernten dann auch die
       hochschwangere Apothekerin Larissa kennen, die bis heute unsere
       zuverlässige Verbindungsfrau und auch Freundin ist. Sie zeigte uns ihre
       Apotheke, die ebenfalls sehr schlecht ausgerüstet war. Es fehlte an
       Verbandsmitteln, an Verbrauchsmaterial. Für Kinder, hieß es, gibt es keine
       Zäpfchen. Sie konnte auch keine selbst herstellen, denn es fehlte die
       Rohsubstanz Kakaobutter.
       
       Und warum macht ihr keine Augen- und Ohrentropfen? Es gibt keine
       Pipettenfläschchen, erklärte sie. Und da begann dann unser Projekt erst mal
       mit der medizinischen Hilfe. Es ging um die Folgekrankheiten von
       Tschernobyl, darum, da irgendwie behilflich zu sein. Und mit diesen
       Menschen, dem Chefarzt, der Apothekerin und noch einer Kinderärztin, haben
       wir dann eigentlich zehn Jahre lang ein sehr intensives medizinisches
       Projekt gehabt.
       
       Wir haben für das Apothekenprojekt geschickt - oder gebracht -, was an
       Substanzen benötigt wurde. Sie haben es dort selbst verarbeitet. Die
       Kinderzäpfchen wurden dann kostenlos oder ganz billig abgegeben. Eine
       wichtige Hilfe waren auch gynäkologische Präparate, Frauenzäpfchen. Nach
       zehn Jahren war das dann nicht mehr möglich, weil die Medikamentenzuteilung
       zentralisiert wurde, die Apotheken waren nur noch Verkaufsstellen und
       durften nichts mehr selbst herstellen.
       
       Zu dieser Anfangszeit hatte das auch schon angefangen, dass Kinder
       eingeladen wurden nach Deutschland. 1990 waren die ersten Kinder in der DDR
       eingeladen zu Erholungsaufenthalten. Die konnten dort ja auch Russisch und
       hatten schon Kontakte. 1991 fing es dann auch bei uns an. Unsere Stadt hat
       gesagt, sie wird die Finanzierung von 50 Kindern aus der Tschernobyl-Gegend
       übernehmen für einen Urlaub im Taunus. Aber ich sagte, sie sollen doch
       Kinder aus Kostjukovitschi nehmen und auch unsere Familien in Dietzenbach
       sollen sich mit dem Thema beschäftigen.
       
       ## Ich war etwa 40-mal in Weißrussland
       
       Und so wurde es dann gemacht, wobei zwei, drei Jahre es noch die Stadt
       finanzierte und danach unser ,Freundeskreis Kostjukovitschi e. V.', der
       sich dann auch juristisch gegründet hat, damit wir die Spendengelder
       richtig abrechnen konnten. Die Familien und die Kinder haben sich trotz
       Sprachschwierigkeiten und Fremdseins sehr schnell miteinander angefreundet.
       Viele dieser Freundschaften haben sich erhalten über die Jahre. Bis heute
       waren mehr als 900 Kinder und 250 Erwachsene in Dietzenbach unsere Gäste.
       Viele freundschaftliche Gegenbesuche haben stattgefunden. Und ich bin
       seitdem etwa 40-mal in Weißrussland gewesen.
       
       Vom ersten Jahr an eigentlich haben wir immer auch - neben der
       medizinischen Hilfe - fehlende Gegenstände für das Alltagsleben in dieser
       Mangelgesellschaft gesammelt. Erst in meiner Praxis, später bekamen wir
       dann eigene Räume. Es wurden Pakete geschickt, es fahren zweimal jährlich
       Transporte mit Lastwagen, wir sammelten alles, Kleidung, Fahrräder,
       Nähmaschinen, Spielzeug, Musikinstrumente, Computer, Sportgeräte usw. Wir
       hörten uns auch dort um, was so gebraucht wird, eine Kunstschule wünschte
       sich einen Brennofen.
       
       Ein Altenheim auf dem Dorf brauchte alles: Betten, Matratzen, Bettzeug,
       Kleidung, Teppiche, Möbel, Geschirr usw. Da waren wir sehr engagiert, es
       gab auch eine Einrichtung für das Kabinett des Arztes, der da ab und zu
       hinkommt, Liege, Apparate. Oder auch für Kinderärzte haben wir Stethoskope
       und Ohrspiegel geschickt, an denen es fehlte, oder Spekula, mit denen man
       in die Nase guckt, solche Dinge. Ach ja, auch kleine Spiegel, mit denen man
       in den Kehlkopf guckt, schickten wir. Die sind aber immer nach einem Jahr
       schon blind geworden, und wir haben gefragt, was sie denn damit machen. Die
       wurden sterilisiert in der allgemeinen Sterilisation, die die Spiegel
       kaputt machte. Dann haben wir einen eigenen kleinen Sterilisator besorgt,
       und ab da lief es dann.
       
       Ein anderes Projekt sind Kindergärten. Wir gingen in die Dörfer und haben
       gesehen, dass sie nichts haben an pädagogischem Einrichtungsmaterial. Nicht
       mal Bauklötzchen oder Puppenwagen. Mit dem nächsten Transport haben wir
       dann so eine Grundausstattung geschickt. Und als ich mal wiederkam, im
       Winter, da waren nur noch drei Kinder da. Und man erklärte mir, nein, die
       sind nicht krank, die Eltern können das nicht bezahlen, wir sind zwar ein
       Umsiedlungsdorf, aber die Hilfen wurden gestrichen.
       
       Und im Winter haben die Eltern keine Arbeit auf der Kolchose, da behalten
       sie die Kinder zu Hause. So haben wir dann die Kosten übernommen, und es
       kamen noch viele andere Kindergärten dazu. Der kleinste, den wir zurzeit
       finanzieren, das ist einer mit fünf Kindern. Sie leben in einem Ort, wo es
       nichts mehr gibt. Kolchose ist nicht mehr da, Schule ist weg, nur noch den
       Kindergarten gibt es. Und ganz wichtig für Kindergartenkinder ist, es gibt
       dort mehrere Mahlzeiten, vitaminreiches, gesundes Essen.
       
       Nun will ich zum Gesundheitszustand kommen, über den man wohlweislich hier
       nichts zu hören bekommt. Es ist wichtig, dass man sich mal klarmacht: Mit
       dem Abstand zum Ereignis werden die Folgen für die Menschen und das
       biologische Leben immer katastrophaler. Das wollen unsere Regierungen und
       Medien genauso wenig sehen wie Lukaschenko, der das Ereignis per Beschluss
       für MUSEAL erklärt.
       
       ## Die versteckten Mütter
       
       Nach Tschernobyl gab es verschiedene katastrophale Wellen. Die erste betraf
       einerseits Erwachsene: Liquidatoren, Ärzte, Leute, die in die verstrahlten
       Dörfer gingen, und die Bevölkerung dort auch. Da sind viele recht bald an
       Krebs gestorben. Und andererseits waren dann gleich die Kinder betroffen.
       In dieser Gegen Weißrusslands herrscht Jodmangel - sie haben ja keine Küste
       wie die Japaner zum Glück -, und so wurde das radioaktive Jod massiv
       aufgenommen von der kindlichen Schilddrüse. Es hat eine kurze Halbwertzeit,
       also das ist in den ersten zehn Tagen aufgenommen worden.
       
       Man hat nach Tschernobyl versucht, bei allen betroffenen Schwangeren
       abzutreiben. Die Mütter haben sich aber zum Teil versteckt. Und direkt in
       dem Jahr danach gab es auch bei diesen Kindern Schilddrüsenkrebs. Eine
       Krankheit, die es vor Tschernobyl bei Kindern gar nicht gab. 4.000
       Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern in Weißrussland sind offiziell
       bestätigt, die sind operiert, die sind nachbestrahlt, die müssen lebenslang
       Hormone nehmen, sonst werden sie zu Kretins. Aber das müssten sie
       eigentlich kostenlos kriegen, auch heute, 25 Jahre danach noch, und auch im
       Falle der später aufgetretenen Funktionsstörungen.
       
       Wir haben jetzt bei der nächsten Generation vermehrt auftretende
       Bluterkrankungen. Wir sagen: TSCHERNOBYL WÜTET IN DEN GENEN. Und das ist
       die nächsten 300 Jahre so, weil Strontium und Caesium eine Halbwertzeit von
       30 Jahren haben und das mit 10 multipliziert. Das ist die Faustregel.
       Sieben bis acht Generationen, mindestens. Ganz zu schweigen vom Plutonium,
       das eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren hat. Ein Problem ist Diabetes, bei
       Kindern und Erwachsenen. Besonders bei Neugeborenen. Das gab es früher auch
       nicht.
       
       Und es ist so, dass der Staat zwei Sorten Insulin einkauft, und damit
       müssen alle klarkommen. Kinder brauchen aber mindestens noch eine dritte
       Sorte, und die gibt es nicht, außer es kümmern sich NGOs darum. Die
       betreiben auch die fehlende Aufklärung. Ein anderes Problem sind
       Augenstörungen bei Kindern, Linsentrübungen. Und es gab eine Zunahme von
       Brustkrebs bei Frauen, viele starben innerhalb von fünf Jahren. Könnte es
       sein, dass strahleninduzierter Krebs viel bösartiger ist als ein
       Alltagskrebs, der sich entwickelt?
       
       Die Zahl der Missbildungen ist gestiegen. Abtreibung ist ein großes Thema.
       Schwangerschaftsverhütung kostet Geld, das kann sich kaum jemand leisten.
       Das ist ein großes Problem. Und es gibt andererseits das Problem der
       unfruchtbaren Paare. In Kostjukovitschi gibt es 30 Prozent ungewollt
       sterile Ehen. Eine andere Geschichte ist die Zunahme bösartiger Tumore, die
       6-, 7-, 8-, 9-jährige Kinder jetzt entwickeln. Hirntumore, Knochentumore.
       
       Ein weiteres großes Problem: In den verstrahlten Gebieten heilten Wunden
       nicht mehr, es war dramatisch. Der Grund ist eine Immunschwäche, weil das
       radioaktive Strontium sich in den Knochen einbaut und da bleibt. Und im
       Knochen wird das Blut gebildet, es wird ständig bestrahlt! Es ist dann wie
       bei Aids, dass Impfungen nicht angehen, weil keine Antikörper mehr gebildet
       werden. Also auch Zunahme von Polio, trotz Impfungen. Und es gibt eine
       Zunahme von Tuberkulose, weil auch da die Impfungen nicht mehr angehen und
       die Leute einfach auch keine gute Ernährung haben. Zudem haben viele ihr
       Gemüse mit Regenwasser gegossen und sie sammeln im Herbst Pilze und Beeren,
       die immer noch hochkontaminiert sind.
       
       ## Geschädigte Zellen
       
       Die Vielzahl der behinderten Kinder, mit geistigen und körperlichen
       Beschädigungen, ist eine direkte Folge der Strahlenbelastung. Man muss sich
       das mal klarmachen, dass bei den Frauen ja die Eierstöcke bereits in ihrem
       Embryonalstadium angelegt sind, eine große Menge von Zellen entwickeln sich
       zu Eierfollikeln, 8 Millionen. Und alle Schädigungen der Mutter kriegen
       diese Zellen ab. Die Placenta hat eine Schutzschranke, und ausgerechnet da
       kann sich die Radioaktivität sozusagen konzentrieren. Die beschädigten Eier
       können nicht repariert werden. 1 bis 2 Millionen sind es bei der Geburt. In
       der Pubertät noch etwa 400.000. Und die können dann bereits im Mutterleib
       beschädigt worden sein mit den entsprechenden Folgen bei einer
       Schwangerschaft.
       
       Und noch etwas ist sehr wichtig zu wissen: Was die genetischen Schäden
       angeht und die Krebshäufigkeit usw., das sind alles Folgen von
       NIEDRIGSTRAHLUNG, und das ist etwas anderes als die Strahlenkrankheit der
       Liquidatoren. Etwas, das permanent von den Verantwortlichen geleugnet wird.
       
       Die Schädigung der Organe durch inkorporierte künstliche Radionuklide,
       daran sind die kurzwelligen Strahlen schuld. Bei Zellschädigung durch
       Radioaktivität hat die Zelle vier Möglichkeiten. 1.: Die Zelle stirbt
       sofort ab. 2.: Die Funktion der Zelle wird zerstört. 3.: Die Zelle entartet
       und es entwickelt sich Krebs. 4.: Die Zelle kann sich reparieren. Das
       können aber nur erwachsene Zellen. Embryonen haben gar keine
       Reparaturmechanismen, auch Kinderzellen können das nicht. Sie sind aufs
       Wachsen und Teilen aus und erst allmählich kriegen sie ihren
       Reparaturmechanismus. Und deshalb sind Kinder auch so besonders gefährdet.
       Und aus diesen Gründen hätten alle Schwangeren und Kinder sofort aus
       Fukushima weggebracht werden müssen!
       
       Die Atomwirtschaft, das ist noch mal eine Dimension, die wir gar nicht
       einschätzen können, weil so viele wirtschaftliche Interessen, so viel Geld
       dahinter stecken. Was wir aber einschätzen können, ist, dass sie und ihre
       Lobbyisten - zu denen auch die Politik und die einschlägigen Organisationen
       gehören - absolut zynisch sind und entsprechend agieren. Das fängt schon an
       mit den Grenzwerten. Selbst in der Ukraine und in Weißrussland gelten
       niedrigere Grenzwerte als bei uns.
       
       Es gibt einfach keine verbindliche unabhängige Instanz auf der Welt. Die
       WHO hat nur EINEN EINZIGEN Menschen, der sich mit Strahlung beschäftigt!
       Aber sie hat ja ohnehin nichts zu sagen. In Strahlen-Angelegenheiten hat
       sie einen absoluten Maulkorb. Seit dem Vertrag von 1957 ist sie der IAEO
       (International Atomic Energy Agency) unterstellt, und die unterdrückt jede
       Meldung über die reale Strahlengefahr. Wir müssen das anprangern, diese
       Unterstellung der WHO unter die IAEO, diesen Knebelvertrag. Der IPPNW
       fordert eine Kündigung dieses Abkommens! Vielleicht kann die WHO dann
       endlich dem Artikel eins ihrer Verfassung gerecht werden: allen Völkern zur
       Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen."
       
       Der Foodwatch-Report des IPPNW (August 2011, deutsche Sektion), formuliert
       unmissverständlich: Die Festsetzung von Grenzwerten ist letztlich "eine
       Entscheidung über die tolerierte Zahl von Todesfällen".
       
       26 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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