# taz.de -- die wahrheit: Neukölln Unlimited
       
       > Es ist ein grauer Vormittag in einer der heruntergekommensten Ecken
       > Berlins. In den Asphaltlöchern steht seit Wochen das gleiche
       > Regen-Altöl-Schlamm-Gemisch, das gelegentlich...
       
       ...über den Straßenbelag aus Abfall und festgetretenem Erbrochenen
       schwappt. Fünf zerzauste Biertrinker sehen einer Rollstuhlfahrerin dabei
       zu, wie sie vergeblich versucht, die etwa 60 Zentimeter hohe Bordsteinkante
       zu überwinden. Ein ganz normaler Vormittag in Berlin-Neukölln, könnte man
       meinen. Und doch ist inzwischen alles anders.
       
       Immer öfter sieht man jetzt sogenannte Hipster durch das Viertel schlurfen.
       Sie tragen Vollbärte, Hornbrillen und Parkas und trinken Becks aus
       0,3-Liter-Flaschen. Ein Berliner Winkeltrinker könnte sich niemals in
       seinem Leben ein Becks leisten, und sollte er es doch einmal tun, würde er
       es sofort im hohen Bogen wieder ausspeien. Doch der Siegeszug der
       globalisierten Biermarken ist so wenig aufzuhalten wie die
       Kinderwagenkolonnen in Prenzlauer Berg oder ganz schlicht: die
       Gentrifizierung. Der neueste Hype im weltberühmten Trendbezirk Neukölln
       heißt Flatseeing.
       
       Auf dem Trottoir der Sonnenallee hat sich eine Gruppe von etwa 200 zumeist
       jungen Leuten breitgemacht. Manche haben Isomatten mitgebracht, aus einem
       Gettoblaster dröhnt die typische Berliner Elektropopschlagermusik. Sie alle
       warten auf den Mitarbeiter der Hausverwaltung, der gleich zur
       Wohnungsbesichtigung erscheinen wird. Die ganze Szenerie gleicht eher einer
       Straßenparty und wird nur getrübt durch finster dreinblickende Bewerber,
       die Unterlagen dabeihaben, weil sie wirklich eine Wohnung brauchen.
       
       Das Angebot an diesem Montagmorgen in der Sonnenallee 4387c: eine
       unsanierte Parterrewohnung, dafür mit Verkehrslärm, Außenklo im
       Seitenflügel und festgeschweißten Gittern vor den verdreckten
       Milchglasfenstern für 900 Euro Kaltmiete. Uwe, der sich "Joe" nennt und nur
       zum Spaß hier ist, meint gut gelaunt: "So richtig Leute kennen lernen mit
       ihren Sorgen und Nöten kannst du nur bei Wohnungsbesichtigungen."
       
       Auch Sascha aus Reutlingen kann das bestätigen: "Es ist abgefahren, in die
       Gesichter zu schauen, wenn man sagt: ,Ich kann auch 300 Euro mehr zahlen.'"
       Wohnen möchte Sascha hier aber nicht. Er sucht nur eine Absteige in
       Neukölln, "falls ich nach der Party mal versacke. Ich wohne im Prenzlberg,
       da hat mir mein Papi eine Wohnung gekauft." Kai ist auch "nur so" zur
       Besichtigung gekommen und staunt über die niedrigen Preise: "Für so eine
       Wohnung verlange ich in Rosenheim das Doppelte", sagt der Immobilienmakler.
       Lisa geht überhaupt nicht mehr zu Partys, seit sie das Flatseeing für sich
       entdeckt hat. "Och, ist doch immer das Gleiche, langweilige Musik,
       langweilige Typen und am nächsten Tag Kopfschmerzen, da guck ich mir lieber
       drei, vier Wohnungen an, abends noch ein gutes Buch und zeitig ins Bett."
       
       So weit würden zwar nicht alle gehen, aber auf Wohnungsbesichtigungen
       wollen dennoch inzwischen die wenigsten fehlen. Es gibt kaum einen Termin,
       bei dem weniger als 60 "Flatsees", wie sie sich selber nennen, auftauchen,
       über 100 sind es meist.
       
       Schließlich kommt der Mann von der Wohnungsverwaltung und dreht lustlos den
       Schlüssel im Türschloss herum. Als sich nach der elften Umdrehung noch
       immer nichts tut, gibt er der Tür einen beherzten Tritt, und die Meute
       strömt in die düsteren, nach feuchtem Keller müffelnden Räume. Während die
       Ersten schon wieder angewidert Richtung Straße stolpern und andere johlend
       durch die beiden "Zimmer" rocken, schaut der Hausverwalter sich die
       geforderten Unterlagen der Interessenten an: Einkommensbescheid,
       Schufa-Auskunft, Schulzeugnisse, Schuhgröße, Einkaufsbelege mit Auflistung
       der einzelnen Artikel, Schmiergeld, Provisionssicherheit, Mietzuschuss und
       die Geburtsurkunden des gesamten Stammbaums für die letzten drei
       Jahrhunderte. Wer einen Zettel zu wenig nachweist, hat meist alle Chancen
       auf eine Wohnung in Berlin verwirkt. "Sie sind natürlich nicht
       verpflichtet, dem Vermieter alles offenzulegen", erklärt der Angestellte
       der Hausverwaltung verschmitzt, "im Gegenzug ist aber auch niemand
       verpflichtet, ihnen eine Wohnung zu vermieten."
       
       Das neue Neuköllner Jungvolk lässt sich von dieser niederschmetternden
       Logik kaum die Stimmung vermiesen. Auf dem Hinterhof wird geraucht, in der
       Küche geknutscht und im Flur strömen immer neue Leute von der Straße nach.
       Einige fragen nach Sekt, weil sie sich auf einer Ausstellungseröffnung
       wähnen.
       
       Als der Hausverwalter die letzten Flatsees wieder weggeschickt hat, steht
       die Entscheidung bereits fest: "Wir werden wohl eine Ferienwohnung für
       Touristen daraus machen. Dreifache Mieteinnahmen und keine
       Instandhaltungskosten, das ist einfach unschlagbar!"
       
       Die Menge löst sich langsam auf, nur noch ein paar Dutzend Leute tanzen
       durch die Schlaglöcher der Seitenstraßen und rufen: "Nicht vergessen,
       nachher Klobesichtigung am Hermannplatz!"
       
       31 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gregor Mothes
       
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