# taz.de -- Pret-à-Porter Frühjahrsschauen in Paris: Das kannst auch nur du anziehen
       
       > In Paris finden zurzeit die Frühjahrsschauen statt. Was ist in?
       > Entschiedenheit, Furchtlosigkeit und die Gabe, mit exzentrischer Kleidung
       > durchzukommen. Ein Essay.
       
 (IMG) Bild: Damit durchkommen ist für Lady Gaga kein Problem, sondern Programm.
       
       Es kommt etwas Neues in Mode. Keine Farbe diesmal, keine Silhouette, kein
       spezifischer Stil. Es ist nichts, was man kopieren kann, sondern gerade das
       Gegenteil. Es ist ein Prinzip, und es heißt: Damit Durchkommen.
       
       Das Englische hat die schöneren Vokabeln dafür. Dort hieße es: „To get away
       with it“ oder „To pull it off“, was gleich die zwei wesentlichen Merkmale
       des Prinzips bloßlegt: ein gewisses Risiko und ein kaltblütiger Wagemut. Es
       gibt Städte, deren Mode traditionell schon immer näher am Damit-Durchkommen
       war. London etwa, wo Designer wie Vivienne Westwood durch Entwürfe bekannt
       wurden, die mit genügend Attitüde balanciert werden mussten.
       
       Ein gewisses Restrisiko bargen ihre Sachen immer: die rosafarbenen
       Latexleggins aus der Anfangszeit der Boutique „Sex“ genauso wie die
       übertrieben ausgeformten, sehr busigen und hüftigen Schneiderkostüme. Oder
       die aus Rechtecken zusammengenähten Tütenkleider der letzten Jahre, die ein
       wenig aussahen wie home-made. London sei der klassischen Designermode
       traditionell abgeneigt, meint der Londoner Anthropologe Daniel Miller: „Sie
       gilt als dumm und vulgär.“
       
       Tatsächlich gilt das Herdenhafte der Mode, die Idee, sich von einer
       unentschlossen flirrenden Zeitgeistinterpretation die eigene Garderobe
       diktieren zu lassen, heute weitläufig als dumm. Mode im Sinne des Total
       Look gilt als Verstellung, der eigene, persönliche Stil zählt mehr: als
       Charakterbotschaft an die Vorübergehenden: So einer bin ich! Es ist heute –
       spitzfindige Geister würden sagen – modern, sich nicht für Mode zu
       interessieren. „Mode interessiert mich nicht“ ist ein hübsch
       selbstbestimmter Satz, nur kommt er zu spät: Denn es gibt die Mode gar
       nicht mehr.
       
       Selbst Modedesigner interessieren sich nicht mehr für Mode. Sie sagen: Ich
       mache Kleider, die über die Saison hinaus tragbar sind. Gleichzeitig
       entwerfen sie sechs Kollektionen im Jahr: zwei Hauptkollektionen,
       Frühling/Sommer und Herbst/Winter, dazu zwei jährliche Pre-Collections,
       genannt Cruise oder Resort oder Pre Fall. Und dann die Laufstegkollektion,
       die dramatischer ist, weniger tragbar, aber spektakulärer anzusehen. Eine
       Boutique bekommt im Schnitt einmal pro Monat neue Ware, H&M jeden Tag.
       
       ## Sei heiter und ohne Angst
       
       Was im Sale nicht verkauft wird, geht ins Second Season Outlet oder findet
       sich bei Yoox.com. Es gibt heute eine Unzahl von Kleidungsstilen,
       Subsegmenten, Revivals vergangener Dekaden, die parallel getragen werden
       und parallel für modern gehalten. Was wirklich noch unmodern ist, wie bis
       vor Kurzem die Minimalismen der 90er, ist morgen, also: heute, schon wieder
       tragbar. Kurz darauf ist es Vintage, und als solches ohnehin erlaubt.
       
       Die Mode ist so beschleunigt, dass es „in der Mode sein“ gar nicht mehr
       gibt: als Wechsel von verschiedenen Stilen, in Halbjahressaisons
       unterschieden, irgendwie dem Zeitgeist abgelauscht, eine nachvollziehbare
       Interpretation von dem, was ist. Alles geht, dieser Leitsatz der frühen
       Postmoderne, ist in der Mode erst jetzt wirklich angekommen.
       
       Dieses „Alles geht“ ist so verwirrend, dass man nach stabileren Gesetzen
       sucht und fragt: Darf man das? Oder: Darf man das tragen? Fragen des guten
       Stils sind ungeheuer en vogue, was ein bisschen schade ist: Kaum ist die
       Freiheit da, müssen auch schon ihre Schergen kommen. Dabei gibt es ja noch
       Trends – auch wenn nicht mehr ganz klar ist, ob sich die
       Trendprophezeiungen der Magazine, der Modeblogs und der
       Onlineshop-Editorials bloß selbst erfüllen. Es gibt auch noch ein paar
       Regeln, gruppiert um das große Überthema Ich.
       
       Vertrackt ist nicht die Vielfalt, sondern dass wir die Mode einzig
       identitär lesen, als Ich-Pose. Nur glaubt keiner dem anderen mehr, dass er
       das, was er mit seiner komplex fabrizierten Lifestyle Choice darstellt,
       auch wirklich ist. Die Stilfibel löst das Problem nicht, dass sich
       Erscheinungen heute nicht mehr lesen lassen. Zudem sich neue, missliche
       Konnotationen schneller bilden, als man blinzeln kann. Breivik trug
       offenbar aus Berechnung Lacoste. Und bei allzu gepolsterten Maßanzügen mit
       allzu kantigen Schultern fällt einem heute Subprime ein.
       
       ## Weniger verkniffener Umgang mit der Oberfläche
       
       Die Individualität in der Mode ist ein kleines Paradox, weil die beiden
       strukturell verfeindet sind. Mode ist das, was viele tun, die
       Individualität ist ganz dem Eigenen verpflichtet – kommen beide zusammen,
       wird ein „individueller Stil“ daraus. Deswegen waren alle Modethemen der
       letzten Jahre der größtmöglichen Komplexität verpflichtet: Vintage, Mix and
       Match, Lagenlooks, überdimensionierte, halsfern getragene Strickschals für
       Männer oder die immer verfeinerter abgeschmirgelte, verwaschene,
       gebleichte, zerlöcherte oder anderswie ins Bedeutsame gezogene Jeans.
       
       Alles raunte – von einem anderen Jahrzehnt, einem anderen Vorbesitzer,
       einer wiederentdeckten Technik. Selbst Ironie war nicht heitere
       Distanznahme, sondern einzig für die Mehrdeutigkeit da. Man kann diesen
       individuellen Stil mittlerweile als Maskerade tragen. Und so liest man ihn
       jetzt auch – weswegen es zu einem anderen, weniger verkniffenen Umgang mit
       der Oberfläche kommt.
       
       Tatsächlich hat eine Art Wettbewerb eingesetzt in Sachen Kleider, die einem
       etwas abverlangen: Haltung, Wagemut, vielleicht auch überlegener
       Selbsthumor, wenn man scheitert. Man sieht es in den Modeblogs: Die besten
       darunter fotografieren nicht mehr absonderliche Individualismen ab, sondern
       fangen Gegenwart ein (was ja einmal die Aufgabe der Mode gewesen ist). The
       Sartorialist etwa, der das Vestimentäre mit einer fast enervierenden
       Ernsthaftigkeit verhandelt, ist fixiert auf das eigentliche Vokabular der
       Mode, auf Form, Silhouette, Farbkombination, Materialität oder Weisen des
       Tragens wie gekrempelte Jackettärmel.
       
       „Good personal style“ bedeutet hier nicht mehr als ein gutes
       Kleidungsgespür, und dass ein paar erfolgreiche Jackettärmelkrempler
       katalogisiert sind, ist noch keine Bedienungsanleitung. Sie sind nicht als
       Stilvorbilder gedacht. Die Aufforderung ist nicht: Mach es ebenso! Eher
       lautet sie: Spiel! Das hier sind die Grundbausteine der Mode: Sei heiter
       und unängstlich damit.
       
       Das Damit-Durchkommen ist genau dieser spielerische, heitere, unängstliche
       Umgang mit der Mode. Es ist das Vergnügen an Kombinationen mit einer
       gewissen Fallhöhe, wie sie sich plötzlich auch auf den Laufstegen zeigen –
       nachdem dort in den letzten Saisons vor allem die Konzentration auf die
       Form zu sehen war. Die Vorkollektion von Balenciaga für dieses Frühjahr ist
       ein Achtziger-Jahre-Medley – teils schmerzlicher als die achtziger Jahre
       selbst, teils von einer großartigen, pink-schwarzen Unverfrorenheit.
       
       Solche Sachen zu tragen, verlangt nach einem diffizilen Manöver: Es braucht
       eine Spur Unernst, aber distanzieren darf man sich auch nicht davon. Man
       muss quasi solidarisch mit der eigenen Entscheidung sein, aber gleichzeitig
       von sich selbst absehen können – also das Gegenteil von dem tun, was
       derzeit in der Mode geschieht, wo man sich (Komplexität) nie ganz festlegt,
       sich aber gleichzeitig (Persönlichkeitsausdruck) ungeheuer ernst nimmt.
       
       ## Topflappen und Sesselrock
       
       Gleiches gilt für den schwarz-weißen Overall mit abstrakten Zebrastreifen
       bei Céline. Und für alles, was in dieser Woche auf den New Yorker Schauen
       für den nächsten Winter bei Marc Jacobs zu sehen war. Er hat eine Parade
       dessen gezeigt, was vorher nicht ging: die Ernsthaftigkeit im Angesicht der
       offensichtlichen Verkleidung. Vollends lächerliche Proportionen. Das
       Selbstgebastelte. Dinge, bei denen nicht klar wird, ob sie überhaupt
       Kleidung sind.
       
       In Entwürfe übersetzt sah das so aus: ein länglicher Topflappen, mit einer
       überdimensionalen Sicherheitsnadel als eine Art Stola um den Oberkörper
       fixiert. Gigantische Nerzhüte, das Normalmaß vergrößert um den Faktor fünf.
       Egg-Shape-Röcke aus Brokat, als sei ein Sessel geplant gewesen. Mäntel mit
       fedrig-unscharfer Silhouette. Alles war fabelhaft daneben. Und es kann
       danebengehen, und genau das wird der Reiz beim Tragen sein.
       
       Wie auch beim bauschigen Streifenoverall. Man kann ihn nicht zurücknehmen,
       er bleibt laut, er verlangt nach Entschiedenheit, es gibt kein: Ich habe es
       nicht so gemeint! Man muss ihn mit der eigenen Haltung balancieren oder
       nach Hause gehen, aber das wäre offenkundig Flucht. Weshalb das größte
       Kompliment, das man hier jemandem machen kann, ist: Das kannst auch
       wirklich nur du anziehen.
       
       Im Grunde ist das Damit-Durchkommen der Versuch, die Deutungshoheit
       zurückzuerobern: sich nicht mehr von den Dingen sagen zu lassen, wer man
       ist. Und vielleicht auch, die vorübergehenden anderen nicht mehr nach
       stilistischen Psychogrammen zu lesen, die so nuanciert sind wie Malen nach
       Zahlen. Es kann in der Mode funktionieren, aber überall anders auch. Als
       Praxis ist „To get away with it“ eine Art Training in Ungerührtheit. Es
       scheitert nicht der, der das grelle Ensemble trägt. Es scheitert, wer
       darüber die Selbstverständlichkeit verliert.
       
       ## Das System Gaga ist stabil
       
       Das extremste Popkulturbeispiel dafür ist Lady Gaga: eine, bei der
       Sonderbares als Sonderbares unbemerkt bleibt, weil sie selbst ungerührt
       ist. Mittlerweile ist das System Gaga stabil, das Hyperexzentrische wird
       ebenso erwartet wie die rasche Bilderproduktion – nur war das ja nicht
       immer so. Im Spätsommer 2009, als sie in die Marc-Jacobs-Schau kam, in
       einem dramatischen, weißen PVC-Mantel, eine Art wallender Schleppe, und mit
       nietenbespickter Augenmaske, bat der Kollege, ein Fan, um ein Bild. Er war
       der Einzige; es gab zwar Bodyguards, aber noch keinen Grund dafür. Der
       Auftritt war noch nicht durch den Konsens abgefedert, der später kam, die
       Garderobe noch weitestgehend gebastelt. Am Rand standen Zeugen ihrer
       Anfangszeit, die es selber noch nicht ganz fassen konnten. Es war ein
       interessanter Moment, weil die Sache auch hätte schiefgehen können. Aber
       sie blieb ungerührt.
       
       Die Frage, ob man es tragen darf, ist allein deswegen falsch, weil die
       Antwort, ob man es darf, wesentlich von dem abhängt, der es versucht.
       Zaudert er, geht es daneben. Sichtbarer Zweifel am eigenen Grellsein ist
       nicht gut, und mit Ironie, dieser verkappten Halbherzigkeit, hat man
       ohnehin verloren. Genau das hat man in der Mode jetzt verstanden. Die
       Linguistik nennt so etwas performativ: Es passiert, indem es passiert. Und
       dann gelingt es. Oder es gelingt nicht.
       
       Also los.
       
       1 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Kruse
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kolumne Fashionweek: Willkommen im Club – Stößchen!
       
       Diese Unterzeile ist suchmaschinenoptimiert: Homosexualität, Fashion,
       Champagner, Berlin.
       
 (DIR) Genderforscherin über die Modestadt Berlin: "Weiblichkeit ist wieder in"
       
       In Berlin tobte mal wieder die Fashion Week. Ein Gespräch mit der
       Kulturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert über Gendervorstellungen und die
       Rückkehr zu konservativen Werten.
       
 (DIR) Berlin Fashion Week: Der Style liegt auf der Straße
       
       Die Modestadt Berlin hat zum Glück mehr zu bieten als die Schauen der
       Fashion Week. Man muss nur mal vor die Tür gucken, um Inspiration zu
       finden.
       
 (DIR) Berlin Fashion Week: Weniger sexy war nie
       
       Die gerade eröffnete Berlin Fashion Week hat eines mit Sicherheit nicht im
       Gepäck: die Hoffnungen und Träume, die sich einmal mit der Mode verbanden.