# taz.de -- Frühkindliche Bildung: Kinder sind Forscher ohne Pipette
       
       > Nicht naturwissenschaftliche Experimente und Computerspiele machen Kinder
       > zu Forschern. Es sind ihre unbegrenzte Fantasie und ihr Drang, auch
       > Unsinn zu erkunden.
       
 (IMG) Bild: In keinem Alter ist die Bereitschaft, Neues anzunehmen, so ausgeprägt wie in der Kindheit.
       
       Eine Kita in Offenbach. Martin, Larisa und Ayub malen. Vor jedem Kind
       stehen drei kleine Töpfe mit den drei Grundfarben, ebenso ein Gefäß mit
       Pinseln. Ausgehend von drei Farben sollen die Kinder weitere Farben
       erzeugen. Einige wollen ihre Finger auf keinen Fall schmutzig machen. Sie
       nehmen die Pinsel.
       
       Martin geht sehr langsam vor. Als er die Farbe Lila entdeckt, will er dies
       sofort den Erzieherinnen zeigen. Er ist freudig erregt und malt mit größter
       Konzentration weiter. Plötzlich passiert Martin das Malheur: Ein kleiner
       Farbklecks tropft auf seine Hose. Sofort rollen große Tränen die Wangen
       herab. Der Junge ist untröstlich. „Meine Mama wird mich schimpfen“, jammert
       er.
       
       Nein, versichern die Erzieherinnen, sie wird nicht schimpfen. Martin
       beruhigt sich und malt weiter. Nach einer Weile legt er die Pinsel beiseite
       und taucht seine Finger in die Farben ein. Auch er selbst, von Ängsten
       befreit, taucht nun in eine andere Welt ein. Er kann nicht aufhören,
       genüsslich in den dicken Farbmassen zu mantschen.
       
       ***
       
       In keinem Alter ist die Bereitschaft, Neues anzunehmen, so ausgeprägt wie
       in der Kindheit. Die kognitiven Wissenschaften und die Hirnforschung
       belegen eindrucksvoll, dass das kindliche Gehirn enorm flexibel und formbar
       ist. Das offenbart sich in der Eigenart der Kinder, unbefangen zu handeln
       und schnell zu lernen. Kinder können sich unendlich viele Wirklichkeiten
       vorstellen.
       
       Ihre Entwicklung ist gekennzeichnet von einem ständigen Wechsel der
       Perspektive. Die Besonderheit der Kinder besteht darin, dass sie ihr
       Fantasievermögen ungehemmt fortentwickeln. Voraussetzung dafür ist, welche
       alltäglichen Welterfahrungen ihnen zugänglich sind.
       
       ## Kinder lernen auch Unsinn
       
       Kinder sind bereit, alles zu lernen – auch jeden Unsinn. Sie sind nicht in
       der Lage, auszuwählen und zu beurteilen, welches Lernen für ihre geistige
       und seelische Entwicklung sinnvoll ist. Aus diesem Grund haben Kindergärten
       und Kitas eine besondere Verantwortung. Die Einrichtungen der
       frühkindlichen Bildung sollten den Alltag so strukturieren und
       Lernumgebungen herstellen, dass die Kinder in ihrer natürlichen Entwicklung
       unterstützt werden.
       
       Was ist das A und O kindlichen Lernens? Es geht darum, dass Kinder auf der
       Grundlage von kommunikativen Prozessen befähigt werden, ihre
       Selbstständigkeit und ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Das ist wichtig,
       damit sie sich Kompetenzen aneignen, die ihnen helfen zu entdecken, was in
       ihren eigenen Köpfen steckt, kurz: Kompetenzen, die kreativ sind. Doch was
       heißt Kreativität? Kreativ ist jemand, der in der Lage ist, originelle
       Ideen zu entwickeln. Dazu muss man keinen hohen IQ haben.
       
       Intelligenzquotient und die Fähigkeit, kreativ zu handeln, haben wenig
       gemeinsam. Kinder mit hohem IQ und sehr gutem Gedächtnis kommen nicht
       zwangsläufig zu originellen Ideen. Tatsache ist jedoch, dass alle Kinder in
       ihrer individuellen Art und Weise kreativ sein können – unabhängig von
       ihrer Herkunft, Muttersprache und kulturellen Zugehörigkeit. Allerdings
       brauchen sie stimulierende Anlässe und Herausforderungen, um erfinderisches
       Handeln zu entfalten. Was hindert die Erzieherinnen und Pädagogen, das
       selbstverständlich einzulösen?
       
       Der Begriff „Frühförderung“ macht die Runde. Auf Glanzpapier gedruckte
       Bildungspläne suggerieren, dass Kinder bereits im Kindergarten all das
       erlernen könnten, was man in Wahrheit in einem Menschenleben nicht schaffen
       kann. Bildungspläne, wie sie jedes Bundesland inzwischen hat, mögen hehre
       Ziele sein – aber es ist nicht zu erkennen, wie die Wege zur Einlösung
       derselben aussehen könnten. Mit den Eltern ist es ähnlich.
       
       Manche akademisch orientierten Eltern glauben, ihre Kinder seien in der
       Kita unterfordert. Viele Eltern aus fremden Ländern wiederum verstehen
       nicht, dass ihre Kinder nicht schon mit vier oder fünf Jahren lesen,
       schreiben und rechnen lernen. Eltern tendieren allgemein dazu, Kitas als
       Orte der Wissensvermittlung zu sehen. Viele verstehen darunter die
       Beschleunigung des akademischen Wissenserwerbs. Das heißt: die Reproduktion
       bereits bestehenden Wissens.
       
       Darin liegt ein schlimmes Missverständnis. Überall kann man sich davon
       überzeugen, dass Kinder daran gehindert werden, Selbstständigkeit zu
       erlangen. Etwa, weil man ihnen dafür keine Zeit geben will. Der Erwerb von
       Selbstständigkeit setzt Risikobereitschaft, Geduld und das Vertrauen
       voraus, dass Kinder von Natur aus befähigt sind, immerfort zu lernen. Das
       zu verstehen wäre der wirkliche Beginn einer kindgemäßen Frühförderung.
       Dafür gibt es übrigens ganz einfache Beispiele: Kein Kind hätte laufen
       lernen können, wenn die Eltern ihm dauernd dabei geholfen hätten. Und dabei
       nicht in Kauf genommen hätten, dass es bei dem fundamentalen Lernprozess
       fallen und sich wehtun kann.
       
       *** 
       
       In einer Kita hatte die Erzieherin sich vorgenommen, Kindern die Phänomene
       von Schwimmen und Sinken verständlich zu machen. Sie hatte dazu mehrere
       Gegenstände auf die Oberfläche des Wassers eines Aquariums gelegt. Die
       Kinder unterschieden korrekt zwischen den Schwimmern, die oben bleiben, und
       Nichtschwimmern, die sinken. Als die Erzieherin aber eine Fischfigur aus
       Kunststoff auf das Wasser legte und fragte, ob der Fisch schwimmt oder
       sinkt, meinte ein Kind: „Der Fisch schwimmt nicht.“ Weitere Kinder
       schlossen sich dem an.
       
       ## Der Fisch schwimmt nicht
       
       Diese unerwartete Bemerkung der Kinder brachte die Erzieherin völlig aus
       dem Konzept. Auch als sie insistierte, dass der Fisch doch oben auf dem
       Wasser schwimmen würde, genauso wie andere schwimmende Gegenstände, blieben
       die Kinder bei ihrer Auffassung. Ich fragte die Kinder, weshalb sie
       meinten, dass der Fisch nicht schwimme. „Weil er nicht unter Wasser ist und
       sich nicht bewegt“, hieß die Antwort – die völlig richtig ist. Denn keine
       Fischart schwimmt auf der Wasseroberfläche. Was bedeutet dieses Experiment?
       Kinder sind keine Physiker, und sie denken nicht in Schulfächern.
       
       Kinder haben keine andere Wahl, als immerfort zu beobachten, nachzuahmen,
       auszuprobieren, zu gestalten, zu erfinden, zu kommunizieren. Sie sind von
       Natur aus disponiert, die Welt zu erforschen und sich selber entdeckend in
       ihr zu orientieren. Ganz kleine Kinder haben die Gabe, zwischen Ursache und
       Wirkung zu unterscheiden. Sie haben also ein Verständnis von
       Kausalzusammenhängen. Wir Pädagogen sollten uns also nicht Fächer und
       Experimente ausdenken, sondern Lernsituationen, die die vorhandenen
       Kompetenzen der Kinder zur Entfaltung bringen können. Wer die Kinder bei
       Fantasiespielen beobachtet, wird feststellen können, dass die Entwicklung
       und das Ende jedes Spiels völlig offen sind.
       
       Wenn wir also vom „Kind als Forscher“ sprechen, dann müssen wir Klarheit
       darüber gewinnen, was wir darunter verstehen. Forscher sind die Kinder
       ohnehin. Sie werden nicht etwa erst dann zu Forschern, wenn man sie mit
       Lupe, Becherglas und Pipette ausstattet. Dadurch negiert man ihre
       potenzielle Befähigung, Naturphänomene ganzheitlich zu betrachten. Jedes
       Experiment, dessen Anfang und Ende von vornherein feststeht, widerspricht
       der geistigen Disposition des Kindes und grenzt seine
       Erfahrungsmöglichkeiten ein. In derartigen Lehrsituationen können die
       Kinder sich unmöglich als Forscher einbringen.
       
       Die Alltagswirklichkeit bietet genug, das auf seine Entdeckung wartet.
       Daher brauchen Kinder Lernorte und Lernsituationen, die sie anregen, ihr
       Vorstellungsvermögen zu entfalten – am besten in Kommunikation mit anderen
       Kindern. Es geht um das offene Entdecken und das gemeinsame Sprechen.
       
       Es sind nicht die Baukästen und Bildschirme, die Kinderfantasien anregen,
       sondern ganz alltägliche Bilder und Orte. Kinder entdecken Aspekte der
       Wirklichkeit, die ihnen rätselhaft erscheinen. Der Wald und das Bächlein,
       die Sträucher und die Pflanzen, ein Vogelnest, ein Spinnennetz, eine Kröte,
       eine Schnecke, ein Haustier, vermodernde Baumäste, Steingärten, trockene
       Mauern, die Eigenarten von Jahreszeiten, Schnee, Nebel, Regen, Kälte und
       Wärme. All dies und vieles mehr regt das Denken der Kinder und ihre
       Fantasie an.
       
       Sie werden ermutigt, Fragen an die Natur der Dinge zu stellen. All dies
       kann den Kindern auch dazu verhelfen, Widersprüche ihres Weltverständnisses
       zu erfahren und ihre vorhandenen Konzepte zu verändern, um zu neuen
       Erkenntnissen zu gelangen. Somit können Kinder über die Bewusstheit der
       äußeren Welt allmählich die Bewusstheit der inneren Welt erlangen, das
       bedeutet: sich ihres Denkens bewusst zu werden.
       
       Die Reduktion der kindlichen Erfahrungsmöglichkeiten in unserer Welt ist
       evident. Man braucht nur die tristen, wenige Quadratmeter Fläche
       beanspruchenden Kinderspielplätze zu betrachten. Wo gibt es noch wilde
       Spielplätze, die Kinder einladen, diese selber zu gestalten? Es scheint so,
       als hätten die Erwachsenen das Recht usurpiert, alles zu definieren – auch
       die Gestaltung und die Größe der Orte, in denen sich die Kinder aufhalten
       dürfen. Man muss diese alte Geschichte immer wieder erzählen, um zu
       begreifen, was aus Kindern heute geworden ist: die wirklichen Außenseiter
       der Gesellschaft.
       
       ## Sträucher statt Spielplätze
       
       Hinzu kommt, dass die elektronischen Spiele, die Medien den Blick der
       Kinder verdunkeln. Sie laden sie dazu ein, in Welten zu flüchten, in denen
       Kinder keine primären Erfahrungen mehr machen können. Virtuelle Erfahrungen
       schalten natürliche, wirklichkeitsbezogene gemeinschaftliche und
       dialogische Lernprozesse aus.
       
       Wenn Kinder nicht mehr zwischen Wirklichkeit und virtuellen Bilder
       unterscheiden können, werden ihnen grundlegende Fähigkeiten vorenthalten:
       neue Ideen zu entwickeln, Kreativität zu entfalten und vielfältige
       Wirklichkeiten in den unbegrenzten Räumen der Fantasie entstehen zu lassen
       – ihrer eigenen Fantasien, nicht der virtuellen auf dem Bildschirm.
       
       Warum schafft man eigentlich die verbreiteten Spielplätze in
       Kindertagesstätten nicht ab? Und ersetzt sie durch freie Flächen mit einem
       kleinen Teich, mit herumliegenden Hölzern und Baumzweigen, Sträuchern,
       Bäumen, Hecken, Vogelhäusern, Sandbänken, Kieselsteinhaufen, einer
       Trockenmauer, großen Steinen, worunter kleine Lebewesen ihren Lebensraum
       finden können.
       
       Statt Klettergerüsten brauchen Kinder Höhlen und Plätze, worin sie sich
       verstecken können. Warum schließt man mit den Eltern nicht Verträge, die
       festhalten, dass sich ihre Kinder während ihres Aufenthaltes in der Kita
       schmutzig und nass machen dürfen?
       
       7 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Salman Ansari
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Erziehung
 (DIR) Hirnforschung
       
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