# taz.de -- Chancen im deutschen Bildungssystem: „Du und Medizin studieren? Niemals!“
       
       > Zwischen den Bundesländern gibt es extreme Unterschiede bei der Förderung
       > von Kindern. Politiker und Nachwuchsakademiker diskutieren, wie man mehr
       > Gerechtigkeit schafft.
       
 (IMG) Bild: Sitzenbleiber statt gleiche Förderung für alle Kinder.
       
       BERLIN taz | Nach der Veröffentlichung des ersten bundesweiten
       [1][Chancenspiegels] diskutieren Politiker, Verbände und Gewerkschaften
       kontrovers über den Reformbedarf im föderalen Schulsystem.
       Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) sieht den
       Schwenk der rot-grünen Koalition hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem
       untermauert: „Die Ergebnisse bestätigen einmal mehr unseren Weg, für ein
       sozial gerechtes Schulsystem zu sorgen.“ Auch die Berliner Schulsenatorin
       Sandra Scheeres glaubt Berlin auf dem richtigen Kurs, seitdem sich das Land
       von der Hauptschule verabschiedet hat: "Die Studie bestätigt in vielen
       Punkten den Weg, den Berlin mit der Schulstruktur und seinem zweigliedrigen
       Schulsystem eingeschlagen hat."
       
       Dagegen verteidigt Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) die
       traditionell mehrgliedrige bayerische Schullandschaft: „Unterricht und
       Schule in Bayern vermitteln bestmöglich Kompetenzen an die jungen
       Menschen.“
       
       Der am Montag veröffentlichte Chancenspiegel vergleicht die Schulsysteme
       der Bundesländer hinsichtlich Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit.
       Das Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, das die Studie im
       Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellte, konstatierte dabei extreme
       Unterschiede zwischen den Ländern.
       
       Die Leseleistungen der Schüler einer Klassenstufe variieren bundesweit um
       bis zu zwei Schuljahre. Die Chancen für Kinder aus besseren Schichten, ein
       Gymnasium zu besuchen, sind je nach Bundesland zwei- (Berlin) bis siebenmal
       (Bayern) so hoch wie aus ärmeren Familien. Vor allem zeigt der Spiegel
       aber, dass Schüler überall bevorzugt nach unten durchgereicht werden. So
       kommen etwa in Berlin auf einen Schüler, der es auf eine höhere Schulform
       schafft, 14 Absteiger, die auf eine „niedrigere“ Schulform wechseln. Im
       Bundesdurchschnitt beträgt das Verhältnis eins zu vier.
       
       ## Abschaffung des Kooperationsverbots als Lösung?
       
       Der deutsche Lehrerverband, der Gymnasien, Realschulen, berufliche und
       Wirtschaftsschulen vertritt, winkt ab: „Das ist Alarmismus auf der Basis
       unzureichender Datensätze.“ Die Studie wärme Pisa-Daten auf, die längst
       diskutiert wurden, meint Verbandspräsident Josef Kraus. Die Vizevorsitzende
       der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Marianne Demmer, fordert
       hingegen, den Blick stärker auf Gerechtigkeit zu richten: „Statt auf
       Vergleichsarbeiten zu setzen, hätten die Kultusminister eine Strategie für
       mehr Gerechtigkeit entwickeln können.“
       
       Die SPD-Arbeitsgruppe für Bildung und Forschung im Bundestag fordert als
       Konsequenz aus dem Chancenspiegel die radikale Abschaffung des sogenannten
       Kooperationsverbots in der Bildung und lehnt die von der schwarz-gelben
       Koalition geplante Änderung des Grundgesetzes ausschließlich für den
       Hochschulbereich ab.
       
       Unterdessen fordert eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern und
       angehenden Akademikern eine Revolution der Schulsysteme. „Es genügt nicht,
       an einzelnen Schrauben zu drehen und etwa ein Zentralabitur einzuführen“,
       sagt Bettina Malter, Studienstipendiatin der Friedrich-Ebert Stiftung.
       Malter und Gleichgesinnte wollen mit ihrem Buch „Was bildet ihr uns ein?
       Eine Generation fordert die Bildungsrevolution“ die Politiker aufrütteln.
       
       Für das im Mai erscheinende Buch hat die Gruppe auch ehemalige Berliner
       Hauptschüler interviewt. Ihr Fazit deckt sich mit den Ergebnissen des
       Bertelsmann-Chancenspiegels: Vom Aufstieg durch Bildung kann in Deutschland
       nicht die Rede sein. Stattdessen würden Schülern früh Stempel aufgedrückt.
       Ein Schüler berichtet: „Eine Schülerin hatte in der Klasse mal gesagt, dass
       sie Medizin studieren möchte. Dann wurde sie vom Lehrer total fertig
       gemacht: ’Du und Medizin studieren? Du schaffst das niemals‘.“ Die
       Nachwuchsakademiker um Malter, darunter die Gründerin von Arbeiterkind.de,
       Katja Urbatsch, plädieren dafür, Auslese und Noten auf den Prüfstand zu
       stellen.
       
       13 Mar 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Chancengleichheit-in-Schulen/!89423/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
       
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