# taz.de -- Neue Bücher zur Buchmesse: Erlösung vom Angestelltendasein
       
       > Ein Roman voller Fotografien: Thomas von Steinaeckers Buch „Das Jahr, in
       > dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“.
       
 (IMG) Bild: Eine gesprungene Scheibe ersetzt die Versicherung meistens. Aber ein gesprungenes Leben?
       
       Es sei anzunehmen, schrieb Thomas von Steinaecker vor drei Jahren auf dem
       Höhepunkt der Finanzkrise, dass man in den Romanen der nächsten Saisons
       verstärkt von Maklern und Managern lesen werde.
       
       Es könne aber nicht damit getan sein, in der bekannten Manier über
       arbeitslose Banker zu schreiben. „Diese Art der Karikatur innerhalb eines
       angeblichen Realismus verkennt die neuen phantastischen Gegebenheiten
       unserer Wirklichkeit und wird in absehbarer Zeit die völlige soziale
       Irrelevanz von Literatur zur Folge haben.“
       
       Den neuen Roman von Steinaeckers mag man als Reaktion auf diese Diagnose
       verstehen. Das Buch spielt am Ende des Lehman-Desaster-Jahrs 2008 und
       handelt zumindest vordergründig von einer Versicherungsangestellten, die
       vom Höhenflug hinauf in die Führungsetagen unsanft auf den Boden der
       neoliberalen Tatsachen zurückgeholt wird.
       
       Von Steinaeckers Erzählerin Renate Meißner könnte man als Karikatur lesen:
       Mit ihren 42 Jahren wendet sie die Mechanismen ihrer Branche kühl an. Die
       Geschäftsfrau unterzieht sich fortwährend einer Selbstmotivationsdressur,
       fertigt seitenlange To-do-Listen an, erfährt sich dabei nur mehr als
       Darstellerin ihrer selbst. Außenreize nimmt sie wahr wie ein hochsensibles
       Messgerät, das Eindrücke in Daten und Strategien umwandelt.
       
       ## Fantastisch-realistisches Szenario
       
       Von Steinaecker gibt sich alle Mühe, die Versicherungsvertreterin als
       Vertreterin nicht nur eines bestimmten Milieus, sondern auch einer
       strebsam-ziellosen Generation zu präsentieren. Es wimmelt im sprachlich
       spröden Text von Selbstbestärkungsformeln, von phrasenhaften Zitaten, von
       Statistiken.
       
       Wie der Held in Terézia Moras vor zwei Jahren erschienenem
       Wirtschaftskrisenroman „Der letzte Mann auf dem Kontinent“, begreift auch
       Renate Meißner als Letzte, dass etwas mit ihr geschieht, was sich nicht
       mehr kontrollieren lässt. Ein neuer Kunde bringt ein Geschehen ins Rollen,
       das direkt auf die verwundbaren Stellen im paranoiden System Meißner zielt.
       Und hier nun wechselt von Steinaecker die Ebene, fügt dem realistischen
       Szenario seines Romans ein fantastisches hinzu.
       
       Renate zieht einen Großauftrag an Land, der auf mysteriöse Weise mit ihrem
       eigenen Familienschicksal verknüpft scheint. Die Großmutter kam einst
       angeblich bei einem Verkehrsunfall um – was Renate allerdings in Zweifel
       zieht. Das Foto ihrer neuen Auftraggeberin erinnert sie fatal an die
       verschollene Großmutter, und als auch noch das Geburtsdatum der beiden
       Damen übereinstimmt, verwandelt sich die stets alles rationalisierende
       Renate in eine Verschwörungstheoretikerin.
       
       ## Simulation eines Europa, das es so niemals gab
       
       Sofja Wassermann heißt die inzwischen fast 100-jährige bayerischstämmige
       Emigrantin und vermeintliche Großmutter, die im russischen Samara einen
       riesigen Vergnügungspark leitet. Ihr Freizeitpark ist die Simulation eines
       Europa, das es so niemals gab. In einer Gondel schwebt man durch die
       riesige Anlage, eine abenteuerliche Fahrt, bei der das
       Geschwindigkeitsgefühl des Zeitreisenden manipuliert wird. Vergangenheit,
       Gegenwart, Zukunft fallen hier in eins.
       
       Der Park soll Sicherheit vermitteln. In einer immer unberechenbareren
       Gegenwart ist noch einmal alles mit großer Detailtreue reproduziert und
       täuscht etwas vor, was es nicht mehr gibt: Stabilität in einer kontingenten
       Welt. Es ist ein Gespensterort, der das Reale aber nicht transzendiert,
       sondern lediglich in einer sicheren Parallelordnung neu entstehen lässt.
       Mit diesen Dopplungen spielt von Steinaecker, der schon früher mit Comics
       experimentierte und über „Literarische Foto-Texte“ promovierte, auch
       formal: In den Roman sind immer wieder Fotografien eingestreut.
       
       Renate erfährt in Samara nicht nur, dass sie entlassen ist, sondern dass
       sie sich auch in ihrer Sehnsucht nach einer heilen Familiengeschichte
       verrannt hat. Sie klinkt sich aus und beginnt ihre Geschichte
       aufzuschreiben. Am Ende sind es ein Notizbuch und ein Stift, die eine Form
       von Erlösung von allen Zwängen des Angestelltendaseins ermöglichen.
       
       Von Steinaecker erschafft durch die Spiegelung einer nervös gewordenen
       Realität nicht nur jenes fantastische Moment, das unsere Wirklichkeit als
       nicht mehr beherrschbare erkennbar werden lässt. Er hat zudem eine Figur
       erdacht, die sich aus ihren eigenen karikaturistischen Begrenzungen befreit
       und schließlich anfängt, von einem anderen Leben zu träumen. Wenn das nicht
       von sozialer Relevanz zeugt!
       
       Thomas von Steinaecker: „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu
       machen, und anfing zu träumen“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 389
       Seiten, 19,99 Euro.
       
       15 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Rüdenauer
       
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