# taz.de -- Kolumne Back on the Scene: Mit drei Bieren um die Welt
       
       > Ungleichzeitigkeit schützt vor Ohnmacht nicht – Gespräche mit
       > Glaubensbrüdern.
       
       „Mein Eltern haben mich nur nicht umgebracht, weil ich der einzige Sohn
       bin.“ Wer rechnet mit so einem Satz morgens um halb drei, beim dritten
       großen Bier in einer Homo-Bar? Im Jahr 2012? Schwule Läden ohne Fenster und
       mit verschlossenen, schwarzen Türen, an denen man erst klingeln muss – sie
       gelten einigen längst als Auslaufmodell. Wer braucht noch Bunker, wenn der
       Krieg vorbei ist? Für nicht wenige sind aber genau diese Läden noch immer
       ein Schutzraum. Ein Ort, an dem man endlich mal offen reden kann. Mit
       Fremden. Cem ist vielleicht Mitte 30, seine Eltern stammen aus der Türkei,
       doch er ist hier geboren. Dass er schwul ist, darf niemand wissen – als er
       versucht hatte, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, wurde er zunächst
       mit Todesdrohungen und dann mit dem Gebot einer baldigen Heirat bedacht.
       
       Cem hat sich gefügt, wusste keine Alternative: „Meine Frau weiß von nichts.
       Jetzt habe ich zwei Kinder. Das Einzige, was mir bleibt, ist, ab und an in
       solche Läden zu gehen, nachts. Aber das nützt auch nichts, ich kann mich
       einfach nicht entspannen. Ich kann mich gar nicht richtig auf Männer
       einlassen, es ist alles ein Krampf.“
       
       Auf einer Podiumsveranstaltung zum Thema „Islam und Homosexualität“ hatte
       ich vor kurzem erst von einer Teilnehmerin den guten Rat vernommen, dass
       man doch seiner Familie nicht alles sagen müsse – ein Rat, der, eingebettet
       in die Geschichte der Bundesrepublik, ungefähr auf das Jahr 1972 verweist.
       Ich gebe ihn nicht weiter.
       
       Ohnmacht erfasst mich, während rundherum gefeiert wird. Laute, fröhliche
       Musik erklingt. Die kleinen Junghomos nebenan, sie sind vielleicht 21,
       total niedlich und total betrunken, versuchen sich im Scherz als Go-go-Boys
       und tauschen altersgerechte Sätze aus: „Gehen wir jetzt ins Silberzukunft
       oder ins Sexwerk?“ Die Antwort: „Ach, nee, im Silberzukunft quatschen dann
       alle wieder nur über Heteronormativität – aber im Sexwerk? Ich bin mir
       nicht sicher, ob ich meine Zukunft mit Sex-Partys zubringen will – und die
       Musik ist doch geil hier.“
       
       Genau. Sie können sich aussuchen, wie sie leben und wer sie sein wollen:
       schwul, queer, bi, Staatsbürger, Student, Ehemann. Es ist das Jahr 2012 und
       wir sind in Berlin.
       
       Zeitgleich werden genau solche jungen Männer in engen Hosen, die ihr Haar
       länger tragen und gerne Alternative hören, im Irak abgeschlachtet. „Emos“
       gelten dort als erstens schwul und zweitens satanistisch, weshalb sie von
       Islamisten gesteinigt werden – über hundert Opfer soll es in den letzten
       Wochen gegeben haben, genaue Zahlen gibt es nicht. Sie werden grausam zu
       Tode gequält und auf Müllkippen entsorgt, weil sie nicht dem traditionellen
       Männerbild entsprechen.
       
       Ein aus Pakistan stammender Freund, Kasim, schneit nun herein, bestellt ein
       Ginger Ale. Er ist Muslim und will sich seinen Glauben nicht wegnehmen
       lassen: „Ich versuche erst mal, das für mich persönlich ein Einklang zu
       bringen – auch über das Studium der Schriften. Ich bin mir sicher, dass es
       eines Tages einen Weg geben wird, aber diese Entwicklung darf nicht vom
       Westen ausgehen. Es muss in den Ländern selbst geschehen.“
       
       Es ist das Jahr 2012, es ist schon spät. Und für so viele leider schon zu
       spät.
       
       18 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Reichert
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA