# taz.de -- Kids: "Es gibt keinen Tag X der Schulreife"
       
       > Selbst eine gute Schule kann kaum nachholen, was im vorschulischen Alter
       > versäumt wurde. Wir sprachen mit dem Projektleiter Fridolin Sickinger
       > über frühkindliche Bildung
       
 (IMG) Bild: Sickingers Entwicklungs-Stern: Kinder "malen" in diesem Stern aus, was sie gelernt haben und sehen, was sie noch lernen wollen
       
       Herr Sickinger, Sie haben die Entwicklungssterne erfunden. Was ist das? 
       
       Fridolin Sickinger: Das ist ein Stern, den Kinder anmalen. Die Zacken
       stehen für bestimmte Fähigkeiten, im Kindergarten zum Beispiel: „Ich kann
       manchmal ruhig sitzen“, oder: „spielen und bauen“. Das Besondere ist, dass
       Kinder im Gespräch mit der Pädagogin anhand dieses Sterns ihre Fähigkeiten
       selbst beschreiben und auch überlegen, in welchem Feld sie mehr lernen
       wollen.
       
       Die Idee ist mir vor einigen Jahren in meiner Arbeit in der
       Erziehungsberatungsstelle gekommen. Dort kommt es vor, dass Eltern in
       bester Absicht in Anwesenheit der Kinder öffentlich beschreiben, welche
       Probleme die Kinder haben. Das ist für Kinder oft zusätzlich beschämend und
       macht sie klein. Ich habe nach einer Form gesucht, in der sich Kinder
       selbst positionieren können. Das kann nicht ein problemorientiertes
       Gespräch sein, es muss etwas anderes sein. So ist die Arbeit mit dem
       Entwicklungsstern entstanden.
       
       Kinder im Kindergartenalter? 
       
       Kinder ab sechs Jahren können den Stern gut nutzen, teilweise auch
       Fünfjährige. Ich habe die Sternform gewählt, weil Kinder Sterne lieben und
       weil weder Skalen noch notierte Bewertungen enthalten sind. Je weiter die
       Kompetenz ausgeprägt ist, desto weiter wird die Zacke ausgemalt – alles aus
       der Sicht des Kindes. Der Stern erlaubt auch, ein Ziel als Wunsch
       anzugeben.
       
       Wie geht das konkret? 
       
       Man fragt das Kind: Wenn du dir von den Zacken, die wenig ausgemalt sind,
       einen aussuchen könntest, der größer werden soll, einfach so, über Nacht,
       wie ein Wunder, welche Zacke würdest du wählen? Es ist erstaunlich, wie die
       Kinder auftauen, wenn man ihnen die Chance gibt, für sich selber zu
       sprechen. Das betrifft dann auch das Nachdenken über die möglichen Wege, um
       das Ziel zu erreichen. All dies setzt ein Ernstnehmen des Kindes voraus,
       ein dialogisches Verhältnis. Das haben Erzieherinnen praktisch erlebt und
       gesagt: Das könnte im Kindergarten doch auch funktionieren.
       
       Was hat die Sozialbehörde damals dazu gesagt? 
       
       Das wusste die gar nicht das ist alles im praktischen Ausprobieren vor Ort
       entstanden.
       
       Ihr Entwicklungsstern wirkte ansteckend? 
       
       Heute wird das „Kinderinterview mit Stern“ sicherlich in einem Viertel der
       Bremer Kindertageseinrichtungen genutzt, Und auch in einigen Grundschulen.
       
       Warum ist das so wichtig, dass Kinder selber begreifen, was sie gelernt
       haben und was sie noch lernen wollen? 
       
       Das kann jeder bei sich selbst überprüfen. Wenn Fremde Ihnen ein Ziel
       verordnen, reagiert man schnell mit Vermeidungsverhalten oder Trotz. Wenn
       ich mir selbst etwas überlegt habe und auch öffentlich ankündige, dann
       entsteht eine Selbstverpflichtung, die stark motiviert. Dazu kommt: das
       Vorgehen ist auf die vorhandenen Kompetenzen bezogen, d.h. die Zacke des
       Sterns ist schon so weit ausgemalt - und kann mehr werden. Das ist ein sehr
       menschenfreundliches Verfahren, weil es um kleine Verbesserungs-Schritte
       geht.
       
       Bekommen Kinder die Sterne, die sie gemalt haben, Monate später wieder
       gezeigt? 
       
       Ja, die Kinder bekommen diese Sterne gezeigt und sie können sagen, ob die
       Zacke nun weiter ausgemalt werden kann oder ob ganz neue Zacken dazu
       gekommen sind. In manchen Kitas wird der Stern Teil des Portfolios. In der
       Förderarbeit mit einzelnen Kindern gibt es Rückmeldungen in kürzeren
       Abständen.
       
       Das bedeutet, es ist offiziell eingeführt? 
       
       Die Bremer Sozialbehörde hat sich für den Elementarbereich festgelegt. Mit
       der Bremer „Lern- und Entwicklungsdokumentation sind verschiedene
       Möglichkeiten beschrieben. Alle Methoden enthalten das dialogische Prinzip
       als Grundhaltung. Der Entwicklungsstern ist als eine der möglichen Methoden
       aufgenommen.
       
       Wenn Kinder den Stern ausmalen, können sie ja ein wenig träumen. 
       
       Die Kinder sind sehr ernsthaft bei dieser Arbeit. Es ist für die Eltern wie
       auch für Pädagoginnen oft überraschend, in welchem Ausmaß Kinder selber
       wissen, was sie können und was sie noch schaffen wollen.
       
       Cito, der Bremer Sprach-Test für Kita-Kinder, arbeitet nach einem anderen
       Prinzip. 
       
       Tests sind immer externe Bewertungen und arbeiten insofern nach einem
       gänzlich anderen Prinzip. Der Diagnostiker betrachtet ein Phänomen, macht
       einen Befund, und legt fest, was der „Befundete“ zu tun hat. Dabei werden
       oft Ordner angefüllt mit Beschreibungen und Listen, die dann ein Eigenleben
       führen. Solche Methoden haben aber wenig Kraft für die Kinder und die
       Familien. Oft kriegen die das gar nicht zu sehen, es ist Geheimwissen oder
       es ist Wissen von Fremden.
       
       Gab es darum den großen Krach mit dem Entwicklungspsychologen Wassilios E.
       Fthenakis, der Bremen einmal beraten hat?? 
       
       Nein, der bezog sich auf den Bremer „Rahmenplan für Bildung und Erziehung
       im Elementarbereich.“
       
       Ein Papier voller Allgemeinplätze und ausufernder gedanklicher
       Unverbindlichkeit. 
       
       Es gibt im Rahmenplan nicht den Verbindlichkeitsgrad und auch nicht den
       Konkretheitsgrad wie in der „Lern- und Entwicklungsdokumentation. Bremen
       hat das Pferd von hinten aufgezäumt. Man hat in der Fläche qualifiziert mit
       dem Thema: Wie begleiten wir das Lernen von Kindern, wie dokumentieren wir
       es und wie helfen wir Kindern, sich selber zu beschreiben? Aber man hat
       nicht vorher definiert, in welchen Wissensdomänen und Bereichen Lernen in
       welcher Weise stattfinden soll. Im Rahmenbildungsplan ist es beschrieben,
       aber es bleibt unkonkret. Diese zweite Aufgabe, nämlich zu beschreiben, was
       frühe Bildung konkret sein soll, wie zum Beispiel Kinder ihrem Alter
       angemessen einen Zugang zu Mathematik finden können, das ist noch nicht so
       weit gediehen. Man müsste das als Bildungsplan für Kinder von null bis zehn
       Jahren aufschreiben.
       
       Gibt es das in anderen Bundesländern? 
       
       Ja, einige Bundesländer haben konkrete Bildungspläne für die Altersspanne
       von null bis zehn Jahren.
       
       Könnte man das nicht einfach übernehmen, abschreiben? 
       
       Könnte man für Bremen übertragen, wenn sich Bildung und Soziales gemeinsam
       daranmachen.
       
       Sind die Institutionen der Bremer Früherziehung heute weiter als beim
       ersten Pisa-Schock? 
       
       Auf jeden Fall. Da ist sehr viel passiert in den letzten zehn Jahren. Der
       Pisa-Schock hat gewirkt. Es hat eine Professionalisierung stattgefunden im
       Kindergartenbereich und Bremen hat in den letzten Jahren viel in
       Qualifizierung investiert. Es gibt ein größeres Selbstbewusstsein der
       Kolleginnen, dass sie tatsächlich Bildungsarbeit leisten. Und auf der
       Grundlage ist die Verbindung zu den Grundschulen an vielen Standorten viel
       besser geworden.
       
       Lernen Kinder im Kita-Alter nicht ganz anders? 
       
       Es gab und gibt die unpräzise Diskussion über „spielerisches“ versus
       „kognitives“ Lernen, die nichts klärt und das Problem verklebt. Was
       manchmal „spielerisch“ genannt wird, beschreibt die neue
       Entwicklungspsychologie als „intuitives Lernen“, das für kleinere Kinder
       typisch ist, und das sich stützen kann auf neurophysiologisch verankerte
       Programme. Kleine Kinder sind Super-Lerner. Sie fangen zum Beispiel ganz
       von alleine an, Muster zu legen. Dafür muss man die Kinder nicht
       „motivieren“. Sie beginnen eigenständig damit, weil sie Ordnungssysteme
       lieben. Das ist evolutionsbiologisch begründet. Wichtig ist nun, was an
       Resonanz aus der Umwelt kommt, wenn das Entwicklungsinteresse erwacht.
       Kinder brauchen dann die Ko- Konstruktion der Erwachsenen, sie brauchen das
       geeignete Material, die Ermutigung, das Vorbild, die Herausforderung. Und
       dann gehen die Kinder langsam von diesem intuitiven Lernen, das sehr viel
       Schwung hat, das widerstandsfähig ist gegen Störungen …
       
       … und schnell ist - wie man beim Lernen der Muttersprache sieht … 
       
       ... in die Übergangszone, in der sich intuitives Lernen und bewusstes
       Lernen mischen. Die Übergangszone umfasst sowohl Kinder im Kindergarten als
       auch die jungen Grundschüler. Wir haben hier einen Bereich natürlicher
       Heterogenität. Die gegensätzliche Idee normierter Entwicklung mit dem
       Schulreifetag X in unserem Land ist abgeleitet aus der Trennung der
       Bildungssysteme in Kindergarten und Grundschule und hat wenig mit der
       individuellen Entwicklung der Kinder zu tun.
       
       Wie ist es mit dem intuitiven Lernen in den verschiedenen sozialen
       Schichten einer Kultur? 
       
       Entscheidend ist: Gibt es vertraute erwachsene Personen, die das erwachte
       jeweilige Entwicklungsbedürfnis des Kindes aufgreifen, ermutigen und
       komplexer machen - oder ist niemand da, der das unterstützt, oder sind gar
       Personen da, die das für „unwichtig“ erklären – dann geht das Fenster
       wieder zu. Die Kinder fallen zurück, das natürliche Entwicklungsbedürfnis
       ist blockiert oder zerfällt gar.
       
       Was spielt in diesem Zusammenhang die Glotze für eine Rolle? 
       
       Alle Profis wissen: Die Sprachkompetenz von Kindern kann man nicht durch
       Medien verbessern. Kleinkinder brauchen für die Anregung des Sprachzentrums
       die Emotion im Gesicht ihrer erwachsenen Bezugsperson . Sprachentwicklung
       ist ein Bindungs-Geschehen. Dafür ist das Fernsehen nicht geeignet. Es
       nützt im besten Fall zur Unterhaltung .
       
       Kinder gucken gern Zeichentrickfilme! 
       
       Kinder werden in den modernen Zeichentrickfilmen beballert mit einer
       schnellen Abfolge von Bildern und Tönen. Sie werden mit Reizen vollkommen
       überschwemmt. Man könnte denken, sie seien konzentriert. Tatsächlich aber
       taumeln sie in höchstem Tempo von einem Reiz in den anderen. Sie werden zur
       Unruhe erzogen – und reagieren dann immer auf den stärksten Reiz. Sie
       können sich vor starken Reizen nicht mehr gut schützen. Schon das allein
       ist schädlich.
       
       Dann müsste man sich natürlich die Inhalte ansehen. Die Menschen haben
       Recht, die in dieser Hinsicht eine eher skeptische und kulturkritische
       Haltung einnehmen. Wir werden erst in 10 oder 20 Jahren wissen, was wir
       unseren Kindern angetan haben.
       
       Welche Altersgruppe meinen Sie? 
       
       Das gilt im Prinzip für alle Altersgruppen. Für die Schulkinder sagt der
       Bremer Hirnforscher Gerhard Roth: Starke Erregungen etwa durch aggressive
       Computerspiele, Gewaltfilme oder Pornographie überschwemmen die
       Wissensspuren, die morgens in der Schule angelegt werden.
       
       Vor zehn Jahren galt noch die Devise: Das Kind gehört bis zum dritten
       Lebensjahr zur Mutter. 
       
       Das war lange Zeit die vorherrschende Position in Bremen, auch in der
       Erziehungsberatung. Es ist die Idee, dass man bis zum dritten Lebensjahr
       Mutter und Kind nicht trennen darf, ohne dass es zu Schädigungen führt im
       Bindungsaufbau. Das war für die Kinder aus sozial deprivierten
       Verhältnissen eine schlechte Idee. Die Kinder, die drei Jahre schwierige
       Bindungssituationen haben und wenig Anregung, sind zumindest erheblich
       entwicklungsverzögert und können den Anschluss an die anderen Kinder gar
       nicht mehr schaffen. Die Idee, Kinder müssen bei der Mama bleiben,
       entspricht einer reinen Mittelschichts-Perspektive.
       
       19 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Wolschner
       
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