# taz.de -- „Inklusion“ an Hessens Schulen: Schön wär's ja
       
       > Klingt gut: Hessens Schulen führen die Inklusion ein. Allerdings unter
       > Vorbehalt: Ohne Rampe für einen Rollstuhl kann die Schule jemanden
       > ablehnen.
       
 (IMG) Bild: Hessen will die Inklusion einführen, ohne Extramittel dafür bereitzustellen.
       
       Heute ist Yilmaz* Tagesmeister. Bevor der Unterricht beginnt, muss er ein
       paar Dinge erledigen: das Datum an die Tafel schreiben, ein Thermometer vor
       das Fenster legen. Er erledigt das mit vollem Mund. Obwohl er früher
       aufsteht als die anderen, frühstückt er erst in der Schule.
       
       40 Minuten ist er morgens mit dem Sammeltaxi unterwegs. Yilmaz hat
       Glasknochenkrankheit. Nicht jede Regelschule in Frankfurt würde ihn
       aufnehmen. Hier an der Münzenberger Grundschule im Stadtteil Eckenheim geht
       das.
       
       Im Kreis erzählen die Kinder vom Wochenende. Sie haben türkische Hochzeiten
       gefeiert, Fußballturniere verloren oder sich die Welpen von Nachbarn
       geliehen. „Was ist Welpe?“, fragt einer, und ein anderer erklärt es.
       Dorothee Nagel, die Lehrerin, moderiert. Viertel nach neun muss das
       Thermometer abgelesen werden. Woran sieht man, dass es Viertel nach neun
       ist?
       
       Die Kinder der 3a lernen in einer GU-Klasse, im Gemeinsamen Unterricht. Von
       19 Schülern haben vier Anspruch auf sonderpädagogische Förderung, weil sie
       körperliche Einschränkungen haben oder schwerer lernen. Nagel ist
       Förderschullehrerin, sie unterrichtet die Klasse gemeinsam mit einem
       Kollegen. 12 Grad Celsius vermeldet der Tagesmeister. Aber warum sagen wir
       eigentlich Celsius?
       
       ## 20 Schüler, zwei Lehrer
       
       Andersartigkeit ist in der 3a normal: Manche Kinder sind acht, andere schon
       zehn Jahre alt. Sie haben unterschiedliche Hautfarben, ein paar Jungs
       tragen die Haare lang. Einige haben Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche,
       ein Kind Zöliakie, es darf kein Getreide essen. In der Schule sprechen die
       Kinder Deutsch, zu Hause auch Twi, Bengali, Tigrinisch, Türkisch, Kurdisch,
       Urdu und Englisch.
       
       Zum Ende der großen Pause, wenn die Kinder frühstücken, liest ihnen ihr
       Lehrer Manfred Hilberg aus „Jim Knopf“ vor. „Was ist schmutzeln?“, fragt
       Daniel. „Schmunzeln ist so wie lächeln“, antwortet Josh. Wenig später fragt
       Josh: „Was ist verheißungsvoll?“ Hilberg lobt sie, wenn sie nachfragen.
       
       Seit etwa 25 Jahren gibt es GU-Klassen in Frankfurt, momentan an 17 von
       über 160 Schulen. In der Münzenberger hat jeder Jahrgang eine. Keine hat
       mehr als 20 Schüler, alle haben zwei Lehrer.
       
       Diese Konditionen soll es in Zukunft nicht mehr geben, GU-Klassen sind ein
       Auslaufmodell. Paradoxerweise opfert sie die schwarz-gelbe Landesregierung
       ausgerechnet unter dem Motto Inklusion – in der gemeinsames Lernen
       behinderter und nicht behinderter Schüler die Regel ist.
       
       ## Unter Vorbehalt
       
       2009 hat Deutschland die UN-Behindertenkonvention ratifiziert, die
       Inklusion als Menschenrecht definiert. Hessen muss, wie alle Länder, auf
       ein inklusives Bildungssystem umstellen. Ab Sommer haben alle hessischen
       Schüler das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen, auch wenn sie dabei
       mehr Unterstützung brauchen, mit körperlicher oder geistiger Einschränkung
       leben.
       
       Doch dieses Recht steht im hessischen Schulgesetz unter
       Ressourcenvorbehalt: Es muss nicht eingelöst werden, wenn entsprechendes
       Personal, Räume und Ausstattung fehlen. Eine Schule mit Treppen wird ein
       Kind im Rollstuhl abweisen dürfen, wenn sie keine Rampen hat. Wenige Monate
       vor Schulbeginn ist die Verordnung, die das neue Schulgesetz umsetzen soll,
       immer noch ein Entwurf, der Landeselternrat, der zustimmen muss, lehnt ihn
       ab.
       
       Er sei voller „Soll-Vorschriften“, sagt Astrid-Müller Wankel, die bedeuten,
       dass „etwas gewünscht wird, aber nicht umgesetzt werden kann“. Die
       Schulleiterin der Münzenberger hat einen freundlichen Blick, aber müde
       Augen, die aufblitzen, wenn sie sagt: „Ich bin wirklich zornig.“
       
       Was Kinder erwartet, die es trotz Vorbehalt auf eine allgemeine Schule
       schaffen, weiß bisher keiner genau. Aber: Kleinere Klassen werden nicht
       mehr garantiert, und Sonderpädagogen sollen nicht mehr zum Kollegium
       gehören.
       
       Müller-Wankel will Inklusion. „Jede Form der Selektion ist eine Kränkung
       für den, der nicht dazugehören kann“, sagt sie. Sie weiß, dass gemeinsames
       Lernen funktioniert. Aber es sei Teamarbeit. An der Münzenberger fördern
       Sonderpädagogen nicht nur, sie unterrichten auch Fächer.
       
       ## Doppelt so große Zahlen
       
       Nagel und Hilberg planen und lehren meist gemeinsam. Die Drittklässler
       subtrahieren oder addieren schon Hunderter. Dafür hat Hilberg verschiedene
       Arbeitsblätter vorbereitet. Für Daniel, der schlecht sieht, müssen die
       Zahlen doppelt so groß sein. Bei anderen hat er die Aufgaben an deren
       Entwicklungsstand angepasst. Während er hier und da hilft, sitzt Nagel
       neben einem Mädchen, das noch lernt, Zehner und Einer zu unterscheiden. Bei
       Bedarf werden große rote und kleine grüne Würfel eingesetzt.
       
       Der Entwurf sieht vor, Sonderpädagogen wie Nagel auf Förder- und
       Beratungszentren zu verteilen. Von dort aus sollen sie Schulen und Schüler
       betreuen: höchstens vier Stunden pro Kind in der Woche, bei Einschränkung
       der geistigen Entwicklung könnten es bis zu sieben mehr werden – schon
       jetzt wird im Staatlichen Schulamt aber mit weniger kalkuliert. „Wie soll
       das funktionieren“, fragt sich die Rektorin Müller-Wankel, „allein das zu
       koordinieren?“
       
       Es gibt auch didaktische Einwände. Lernen beruht auf Beziehungen. „Wenn ich
       mit dem Köfferchen herumziehe“, sagt Nagel, „kriege ich doch nichts mit von
       den Kindern“, nichts von ihrer allgemeinen Entwicklung – und schon gar
       nichts vom Wochenende.
       
       Der Anspruch eines Kindes auf Förderstunden wurde bereits in der
       Vergangenheit ständig gesenkt. Aber mit 18 Wochenstunden kann Nagel täglich
       präsent sein. Die Lehrer rechnen Zuwendung zum Einzelnen nicht ab wie ein
       Serviceunternehmen.
       
       Vielleicht ist das der Grund, dass die Schüler nicht so genau wissen, wer
       unter ihnen speziellen Förderbedarf hat. Die Vorteile des Zusammenseins
       können sie aber benennen: In einer Klasse, wo alle schwer verstehen, könne
       man nie den Nachbarn fragen, sagt Niels, „immer nur den Lehrer.“ Und der
       große Miri, der den Arm um den zierlichen Yilmaz legt, sagt, er lerne von
       ihm, „wie der sich gerade so fühlt“.
       
       Manfred Hilberg, der seit 15 Jahren GU-Klassen unterrichtet, ist überzeugt,
       dass alle Kinder profitieren. „Sie lernen Respekt und Toleranz.“ Hilberg
       sieht das, wenn er mit den Schülern in den Bus steigt, um zum Schwimmen zu
       fahren. Die Plätze werden einfach aufgefüllt. Der Lehrer unterrichtet auch
       andere Klassen. „Da gibt es mitunter schon Streit, wenn Jungs neben Mädchen
       sitzen sollen.“ Das Motto, das er den Kindern ausgibt, ist: Ihr müsst euch
       nicht lieben, aber zusammenarbeiten können.
       
       ## Weite Wege
       
       Auf Yilmaz müssen Lehrer und Erzieher achten, weil er sich leicht etwas
       brechen kann. Gern wäre er in Elijahs Hort gegangen, aber „der hatte zu
       viele Treppen“. Von Hort zu Hort zu ziehen und solche Begründungen zu
       hören, war sicher kein würdevolles Erlebnis. Dass er darüber spricht, sei
       neu, sagt Nagel. Er sei selbstbewusster geworden, weil er erfahren habe,
       dass er seine Krankheit nicht verstecken muss. Der integrative Hort, der
       ihn endlich aufnahm, liegt wieder in einem anderen Stadtteil. Für sein
       Selbstbewusstsein zahlt Yilmaz einen Preis: „Wo ich wohne, habe ich keine
       Freunde.“ In einem wirklich inklusiven Bildungssystem wären die Wege
       kürzer.
       
       Das Land verteilt jetzt Ressourcen um. In den GU-Schulen wird der Standard
       sinken, um auch anderen Schulen mit Förderlehrerstunden zu versorgen. Die
       Sonderschulen will das FDP-geführte Kultusministerium erhalten. Das wenig
       ehrgeizige Ziel ist, die Zahl der Schüler dort „in den nächsten Jahren“ von
       rund 4,4 auf 4 Prozent zu senken. Sonderschulen zu unterhalten und
       inklusive Regelschulen zu etablieren ist teuer und Bildungsexperten zufolge
       die Ursache für zu knappe Ressourcen.
       
       Etwa 125 Kinder mit Förderbedarf möchten im August in Frankfurter
       Regelschulen eingeschult werden, rund 55 werden es schaffen, heißt es im
       Staatlichen Schulamt. Wie immer schon gebe es deutlich mehr Anträge, als
       vernünftig umgesetzt werden könne. Mehr Lehrerstellen wurden nicht
       zugewiesen.
       
       Inklusion heißt, dass Unterschiede dazugehören, nicht, dass sie
       verschwinden. Deshalb brauchen auch im inklusiven Unterricht einige mehr
       Unterstützung als andere. In ihrer aktuellen Studie kommt die Bertelsmann
       Stiftung zu dem Urteil, dass das ohne – durchaus bezahlbare – zusätzliche
       Kosten und Lehrer nicht geht. Inklusive Bildung funktioniere nicht ohne
       Qualität.
       
       Dorothee Nagel weiß, was das heißt. Manche Eltern von Vorschulkindern
       fragen sie auf Infoabenden ängstlich, ob es „normale“ Kinder aus GU-Klassen
       auf das Gymnasium schaffen. Da kann sie beruhigen. Doch schon jetzt stehen
       auch in der 3a zwei Mäppchen beim Rechnen senkrecht, damit der Nachbar
       nichts sieht. Druck und Konkurrenz kämen mit den ersten Noten, sagt Nagel,
       und nähmen zu vor dem Wechsel zur weiterführenden Schule. Ausgerechnet
       Eltern von leistungsstarken Kindern würden dann oft Bremsklötze im
       Unterricht suchen und benennen. Wenn Inklusion nicht funktioniere, weil
       alle damit überfordert seien, „werden Kinder den Buhmann bekommen“.
       
       *Namen der Kinder geändert
       
       29 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annegret Böhme
       
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