# taz.de -- Wallraff und die „Bild“: Das nächste Kapitel
       
       > Im Juni wird die „Bild“ 60 Jahre alt. Im Oktober wird Günter Wallraff,
       > ihr größter Kritiker, 70. Jetzt reden sie miteinander, über diese wenigen
       > Tage im November 1976.
       
 (IMG) Bild: Keine guten Erinnerungen: Günter Wallraff ist im Gespräch mit Springer.
       
       Jener Mann, über den manche sagen, er habe den Bundespräsidenten gestürzt,
       er sei der mächtigste Journalist des Landes, empfängt Besucher, fragt
       aufmerksam, er zeigt das Berlin-Panorama, den Blick aus seinem Büro im 16.
       Stock, macht beinahe vergessen dabei, wofür man ihn ablehnen sollte: für
       all die Einschüchterungen, die rassistischen Parolen, den Schmutz.
       
       Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild, ist bereit über die Vergangenheit zu
       reden. Seine ungeschützte Haltung dabei: Arm auf der Lehne. Neben ihm,
       aufrecht: die Büroleiterin des Chefredakteurs. Gegenüber, mit Notizblock
       und geöffnetem Jackett: Fröhlich, Pressestelle der Axel Springer AG.
       
       „Es geht uns nicht darum, die gesamte Geschichte Wallraff aufzuklären“,
       sagt Diekmann. Nur um einen Teil der Geschichte, um einige Tage im November
       1976. Es geht um eine Handvoll Redakteure der Bild in Köln und um die
       Frage, wer es ihnen ermöglichte, die Telefongespräche von Günter Wallraff
       abzuhören: War es der Verfassungsschutz? Der Bundesnachrichtendienst? Und:
       Was wusste Günter Prinz, der damalige Chefredakteur?
       
       ## Erwachsen und seriös
       
       Es geht um das, was Kai Diekmann das „dunkle Kapitel“ seiner Zeitung nennt.
       Diekmann war zwölf Jahre alt und Gymnasiast in Bielefeld. So weit liegt es
       zurück, dass man heute in der Führungsetage des Springer-Verlags darüber
       spricht, als sei es beendet. Als habe ein neues Kapitel begonnen: die Bild,
       Teil der Gesellschaft, erwachsen und seriös. Wo bleiben nur die Feinde?
       
       Jener Mann, der für viele ein Held ist, weil er sich 1977 in die
       Bild-Redaktion in Hannover einschlich und sich heute, mit bald siebzig
       Jahren, bei Minusgraden zwischen Obdachlose legt, der in Callcentern
       arbeitet, sich in Brötchenfabriken die Arme verbrennt, nur um zu berichten,
       wie das ist, jener Mann, Günter Wallraff, sitzt in seiner Wohnung.
       Thebäerstraße, Köln.
       
       Er ist erstaunlich scheu für eine Legende und zerstreut in einer Art, die
       man an Professoren mag: das ständige Suchen nach Namen und Daten, die
       Briefe auf seinem Esstisch. Er hantiert an seiner Kaffeemaschine. Schäumt
       Milch auf. Wenn er den Raum verlässt, weil er telefonieren muss, dann legt
       er dem Gast etwas zu lesen auf den Tisch.
       
       „Ich rufe ihn an“, sagt Wallraff. Ob Diekmann weiter ist mit den
       Recherchen? Wallraff geht nach nebenan, ins Wohnzimmer.
       
       Im Frühjahr 2011 bereitete die linke Otto-Brenner-Stiftung eine Studie vor.
       „Drucksache ’Bild‘ – eine Marke und ihre Mägde. Die ’Bild‘-Darstellung der
       Griechenland- und Eurokrise 2010“. So fing es an.
       
       ## Der therapieverweigernde Triebtäter
       
       Günter Wallraff gab der Brenner-Stiftung ein Interview. Vermag Bild noch zu
       polarisieren?, fragte die Brenner-Stiftung. Es gebe seit Jahren einen Teil
       des Publikums, das Bild nicht mehr als Gefahr sehe, sondern als eine Art
       Comic, antwortete Wallraff. Für ihn jedoch sei das Blatt, noch immer, „wie
       ein frei herumlaufender, therapieverweigender Triebtäter, von dem man weiß:
       Der kann nicht anders, der ist gemeingefährlich.“
       
       Auch Günter Wallraff weiß, wie man formuliert: Er beherrscht das Knappe, er
       überlässt die Alliterationen nicht dem Boulevard. Manchmal fallen ihm
       spontan Sätze ein, von dener er weiß, dass sie sich durchsetzen werden.
       Golden Quotes. „Viele“, sagt Wallraff, „halten für Bild ihren Kopf hin und
       verlieren ihr Gesicht dabei.“
       
       Die Bild. Der therapieverweigernde Triebtäter. Als die Studie der
       Otto-Brenner-Stiftung erschien, griff Kai Diekmann zum Telefon und rief
       Günter Wallraff an. „Sie tun uns unrecht“, sagte Diekmann. Wallraff hörte
       zu, wie er jedem zuhört. Dann fragte er, was im November 1976 geschah.
       „Klären Sie das auf“, sagte Wallraff. Diekmann willigte ein.
       
       ## Das gehört zu unserer Geschichte
       
       Er schickte die Rechtsabteilung des Springer-Verlags in die Archive. Er
       sprach sich mit Mathias Döpfner ab, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel
       Springer AG. Er ließ beim Verfassungsschutz und beim
       Bundesnachrichtendienst anfragen, ob es Akten gibt. Er nahm Kontakt auf zu
       Heinz Horrmann, dem damaligen Chef des Bild-Büros in Köln, der später als
       Hoteltester Karriere machte und seine Vergangenheit bei Bild heute
       unterschlägt.
       
       „Das gehört zu unserer Geschichte“, sagt Diekmann. „Deshalb wollen wir es
       wissen.“ Dabei gibt es vieles, das Wallraff weiß und schon früh
       veröffentlichte. In dieser Geschichte spielt Wolf Biermann eine Hauptrolle,
       der Liedermacher mit dem Schnauzbart.
       
       Am 13. November 1976 tritt Biermann in Köln auf. Auf der Bühne kritisiert
       er sein Land, die DDR. Am 16. November 1976 teilt das Politbüro der SED
       mit, Biermann werde wegen „grober Verletzung der staatsbürgerlichen
       Pflichten“ ausgebürgert. Biermann ruft Wallraff an, sie sind befreundet.
       
       Er bringt Biermann in sein Wochenendhaus im Bergischen Land. An einen Ort,
       von dem er geglaubt hatte, er sei sicher und abgeschieden genug. Fernab der
       Journalisten, die Biermann exklusiv wollen. Die Ausbürgerung: Jetzt spricht
       Biermann! Es wäre ein Scoop.
       
       ## Dutschke ruft an
       
       In Wallraffs Wohnung in der Thebäerstraße hört in jenen Tagen im Herbst
       1976 das Telefon nicht auf zu klingeln: Solidaritätsadressen für Wolf
       Biermann. Rudi Dutschke ruft an. Heinrich Böll. Heidemarie Wieczorek-Zeul,
       damals Vorsitzende der Jungsozialisten.
       
       „Hier ist Heide. Kann ich dir helfen? Tritt denn nun Wolf morgen in Bochum
       auf?“ Drei Jahre später wird ein Redakteur der Bild an Eides statt
       versichern, er habe die Gespräche mitgehört. 1979 dokumentiert Wallraff die
       Aussagen des Bild-Redakteurs im Buch „Die Zeugen der Anklage“. 
       
       „Am 18. November 1976 war ich Zeuge, wie über den nicht im Telefonbuch
       verzeichneten Telefonanschluß, und zwar einen Direktanschluß des Redakteurs
       X., in der Kölner BILD-Redaktion eine Abhörschaltung an den
       Privattelefonanschluß des Schriftstellers Günter Wallraff hergestellt
       wurde. Dabei wurden ein- und ausgehende Telefongespräche des
       Privattelefonanschlusses von Herrn Wallraff über Tischlautsprecher
       mitgehört und auf Tonband aufgenommen.“ 
       
       ## Wanze vom BND
       
       Eines Tages, im November 1976, stand ein anderer Redakteur der Bild vor
       Wallraffs Wohnung und machte ihm ein Angebot: „Sie vermitteln mir Fotos und
       ein Exklusiv-Interview mit Biermann, und ich sage Ihnen, wo der BND heute
       Nacht bei Ihnen eine Wanze angebracht hat.“ Wallraff lehnte ab.
       
       Wenn er sich heute erinnert, Wallraff wohnt noch im selben Haus wie damals,
       er geht dieselben Treppen rauf und runter, sitzt in derselben Küche, dann
       deutet er auf die Straße: Dort stand er.
       
       Wenn sich Wallraff heute erinnert, dann klingt er, als gebe es nun
       Wichtigeres in seinem Leben als die Geschichten von einst. Das Unheil
       abseits von Axel Springer und der Bild. Das gibt es ja auch. Die neuen
       Rollen: unterwegs als Obdachloser, als Brötchenbäcker im Hunsrück. Manche
       belächelten ihn, als er als Schwarzer durch deutsche Klein- und Großstädte
       ging, um zu erforschen, wie rassistisch wir sind. Vielleicht war es jenes
       Publikum, das auch über die Schlagzeilen der Bild herzlich lacht.
       
       Alles ironisch.
       
       Alles egal.
       
       Die Recherche dessen, was im Herbst 1976 passierte, dauert noch an. Auch
       Springer-Chef Döpfner versprach öffentlich Aufklärung. Für Günter Wallraff
       ist sie von biografischer Bedeutung. Für Kai Diekmann geht es um mehr, um
       ein Projekt. Die Bild, erwachsen, cool. In der Mitte der Gesellschaft.
       
       Seit elf Jahren ist Diekmann Chefredakteur, die halbe Republik wirbt für
       seine Zeitung: Richard von Weizsäcker, Alice Schwarzer, Thomas Gottschalk,
       Philipp Lahm. Für ihre Recherchen in der Wulff-Affäre ist Bild für den
       Henri-Nannen-Preis nominiert, den wichtigsten Journalistenpreis des Landes.
       
       „Diekmann inszeniert sich locker“, sagt Günter Wallraff, Journalist und
       Schriftsteller.
       
       „Das Land hat sich verändert“, sagt Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild.
       
       31 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Dachsel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA