# taz.de -- Opernpremiere „Lulu“ in Berlin: Abenteuer des Verstands
       
       > Für immer unvollendet: Andrea Breth hat für die Berliner Staatsoper Alban
       > Bergs "Lulu" neu inszeniert und entschlackt - mit Daniel Barenboim und
       > der Staatskapelle.
       
 (IMG) Bild: Mojca Erdmann (Lulu), Michael Volle (Jack the Ripper).
       
       Wahrscheinlich hat Alban Berg selbst nicht geglaubt, dass irgendeine
       Sängerin alles singen kann, was er in die Rolle seiner Lulu
       hineingeschrieben hat. Oft muss sie nur sprechen, manchmal aber auch
       auswandern in die große Arie, dann zurückkehren zum Chanson, sich ein wenig
       in der Operette herumtreiben und manchmal die Stimme in Höhen hinaufjagen,
       die nicht mit Gesang, sondern nur mit Schreien erreichbar sind – wenn
       überhaupt. Das alles natürlich in Bergs Idiom, in größtmöglicher Freiheit
       also, was harmonische und rhythmische Muster angeht.
       
       Er kannte Mojca Erdman nicht. Sie kann das alles nicht nur irgendwie über
       die Rampe bringen, sie kann es singen. Mit vollkommen beherrschter, klarer
       Stimme selbst in jenen Höhen, die eigentlich nicht mehr singbar sind, und
       passt ihr Timbre mühelos allen Gattungen an, mit denen Berg herumgespielt
       hat, als der dieses seltsame Stück schrieb. Sie ist der einzige Star dieser
       neuen Inszenierung der für immer unvollendeten Oper „Lulu“, die am Samstag
       in Berlin ihre Premiere hatte.
       
       Es ging nicht wirklich gut aus, trotz der unglaublichen Mojca Erdman. Sie
       ist Musikerin, tritt mit den besten Orchestern und Dirigenten in den besten
       Häusern der Welt auf, hat endlos viele Preise gewonnen, und Wolfgang Rihm
       hat sogar eine ganze Oper für sie geschrieben, aber sie ist kein Star, der
       zu Applausstürmen hinreißt. Der Beifall klang verhalten freundlich, selbst
       dann noch, als endlich die komplette Staatskapelle auf der Bühne versammelt
       war und Daniel Barenboim sein geliebtes Ritual als Erster unter Gleichen
       absolvieren durfte. Lebendig wurde es erst im Saal, als auch noch Andrea
       Breth mit ihrem Regieteam hinzukam: donnerndes Buhgeschrei der Freunde
       jener Lulu, die wir zu kennen glauben: das Weibchen, das doch nichts dafür
       kann, dass es so viele Männchen hat.
       
       Sie hatten recht. Bei Breth gibt es diese Lulu nicht. Erdman ist eine sehr
       schöne, zierliche Frau, aber die Kostümbildnerin Moidele Bickel hat ihr ein
       silbern glitzerndes Paillettenkleid angezogen. Es zeigt nichts von dem
       Fleisch, über das die Männer von Frank Wedekind einst so heftig herfallen
       mussten, dass die Polizei kam und seine Theaterstücke „Erdgeist“ und
       „Büchse der Pandora“ wegen Unzucht verbot.
       
       Karl Kraus hat eines davon in Wien trotzdem privat aufgeführt. Auch Alban
       Berg war dabei – es war die Zeit, in der gerade Otto Weiningers „Geschlecht
       und Charakter“ erschienen war und Furore machte. Andrea Breth hat sich
       davon nicht beeindrucken lassen. Statt erneut einzutauchen in den schwülen
       Sexualdunst der (literarischen) Vorlage, hat sie das Stück einer close
       lecture unterzogen.
       
       ## Keine Sekunde langweilig
       
       Das Ergebnis ist ebenso kühl wie die Methode. Die Bühne von Erich Wonder
       ist ein Schrottplatz in irgendeiner postdemokratischen Metropole. Licht
       gibt es kaum, manchmal aber Nebel. Die Spielfläche in der Mitte ist ein
       Käfig aus Eisenprofilen, die vielleicht zur Fassade eines Bürogebäudes
       gehört haben, das man vergessen hat, ganz abzureißen. Jetzt sind sie alles:
       Atelier des Malers, Salon des Doktor Schön, und Zuhälterbude der alten Lulu
       in London, wo sie Jack the Ripper heimsucht, samt der Gräfin Geschwitz.
       
       Nichts ändert sich, die Sozialromanze vom Aufstieg und Fall der
       unschuldigen Nutte findet nicht statt. Lulu bleibt von Anfang bis zum Ende
       dieselbe Glitzerpuppe, ihre Männer sind festgelegt auf ihre Running Gags,
       statt einer dramatischen Handlung sind Einzelszenen zu sehen, die sich
       lediglich durch den Grad ihrer internen Absurdität unterscheiden.
       
       Alle sind ständig dabei, irgendetwas zu reden und singen, aber niemand
       spricht mit niemandem. Trotzdem ist dieses Theater keine Sekunde
       langweilig. Das liegt vor allem daran, dass Breths Methode auch Alban Berg
       von der erdrückenden Last einer angeblich bedeutsamen Männerfantasie
       befreit hat. Ebenso frei kann Daniel Barenboim nun mit seiner Staatskapelle
       den unglaublich weiten Horizont dieser Musik öffnen.
       
       Alban Berg ist nicht mehr (wie noch in „Wozzeck“) Schönbergs Schüler.
       Wedekind, die Skandalnudel, war nur der Anlass für Ausflüge in völlig neue
       musikalische Welten. Berg probiert so ungeniert Stilmittel und Effekte aus
       und kümmert sich so wenig um das große Ganze, dass man versucht ist, von
       „Postmoderne“ zu sprechen. Aber Berg zitiert nicht. Er verwandelt alles
       zunächst Fremde in seine eigene Sprache um: oft überwältigend schön bis an
       den Rand des Kitschs, aber auch dann noch von verwirrend komplexer
       Polyfonie.
       
       Leider fand die Premiere im Rahmen der alljährlichen Barenboim-Festtage der
       Staatsoper statt. Die Enttäuschung war damit programmiert, denn ein
       rauschendes Fest kann diese Inszenierung nicht sein. Breth und Barenboim
       sprechen die Wahrheit aus: Alban Bergs „Lulu“ ist das Werk eines genialen
       Musikers, aber kein Meisterwerk. In Berlin ist sie ein Abenteuer des
       Verstandes geworden, nicht des Gefühls. Schade, dass es davon nur noch vier
       Vorstellungen gibt.
       
       2 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklaus Hablützel
       
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