# taz.de -- Als Kritiker ist Grass längst Geschichte: Die Weltlage aus Behlendorfer Sicht
       
       > Lange galt Günter Grass als politisches und soziales Gewissen der BRD.
       > Seine eigene Rolle hinterfragte er dabei kaum. Auch daher ist seine
       > Kritik heute unglaubwürdig.
       
 (IMG) Bild: Der „Große Butt“ ist eine Ätzradierung von – na klar – Günter Grass. Sie ist 35 Jahre alt.
       
       BERLIN taz | Im wichtigsten politischen Augenblick seines Lebens, im
       Dezember 1970, war Günter Grass nur Zeuge. Ausnahmsweise kam er einmal
       nicht zu Wort und stand nicht im Zentrum. Ein paar Meter entfernt vom
       Geschehen, abgedrängt von Sicherheitsleuten, beobachtete er, wie
       Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstandes im
       Warschauer Getto auf die Knie fiel. Grass dachte ängstlich darüber nach,
       wie diese Geste in Deutschland verstanden werden würde und dass sich nun
       die „Meute seiner politischen Feinde, die Springer-Presse voran, abermals
       auf ihn stürzen wird“. So erinnerte er sich fünfundzwanzig Jahre später
       daran.
       
       Die Politik Willy Brandts zielte stets in Richtung Osten, aber sie wurde,
       weil sie sich den Konsequenzen der deutschen Geschichte stellte, überwölbt
       vom deutsch-jüdischen Verhältnis und von Israel als einem transzendenten
       Bezugspunkt. Hier, an dieser Stelle, liegt gewissermaßen der Nullmeridian
       der politischen Existenz von Günter Grass. Als gebürtiger Kaschube aus
       Danzig war er die personifizierte Beglaubigung der Entspannungspolitik in
       der neuen Ära Brandt.
       
       Bereits seit Beginn der sechziger Jahre war Grass für Brandt und die
       „Es-Pe-De“ in den Wahlkampf gezogen. Ost und West waren die bestimmenden
       Koordinaten seiner politischen Welt. Hier konnte er seine Rolle als
       Gesellschaftskritiker optimal entfalten, dessen Selbstbewusstsein
       gekräftigt wurde, wenn er auf beiden Seiten als Störfaktor wahrgenommen
       wurde.
       
       ## Im Schatten historischer Vergangenheit
       
       Störend wirkte Grass in der geschichtsvergessenen
       Wirtschaftswunder-Bundesrepublik vor allem dadurch, dass er permanent auf
       der Anwesenheit der Geschichte beharrte und sein Schreiben explizit als
       „Schreiben nach Auschwitz“ begriff. Daher die aggressive Wucht der
       „Blechtrommel“. Daher die dauerhafte Energie seines politischen
       Engagements. Daher auch sein trotziges Beharren auf der deutschen
       Zweistaatlichkeit nach 1989, die für ihn eine zwingende und richtige
       Konsequenz aus Auschwitz war. Doch was sein Leben lang Antrieb und Unruhe
       gewesen ist, wird in dem umstrittenen Gedicht zum Problem: dass er die
       Kritik an Israel im Schatten seiner historischen Befangenheit formuliert.
       
       Hätte er auf das ganze „Warum schwieg ich so lange“-Brimborium verzichtet,
       hätte die Debatte vielleicht nicht den Umweg über Ekelbekundungen,
       Antisemitismusvorwürfe und täglich anschwellende Hysterie nehmen müssen,
       sondern sich gleich auf die westliche Lebenslüge konzentriert, nach der
       eine Atommacht Iran unzumutbar, der arabischen Welt die Atommacht Israel
       aber durchaus zumutbar ist.
       
       Dabei hatte Grass schon 1973 in dem Artikel „Israel und ich“ in der
       Süddeutschen Zeitung Positionen vertreten, die sich von seinen heutigen
       nicht wesentlich unterscheiden. Auch wenn er also keineswegs geschwiegen
       hat, formulierte er damals doch etwas vorsichtiger: „Nicht nur die
       arabische Seite, auch der Staat Israel (Regierung und Opposition) hat sich
       aus Sicherheitsbedürfnis fehlverhalten“. Und er fügte hinzu: „Im Grunde
       etwas schrecklich Normales: Wie jeder andere Staat hat auch Israel das
       Recht, in politischem Irrtum verstrickt zu sein.“
       
       ## Differenz zu heute
       
       Der Nachsatz beschreibt die Differenz zu heute, denn seither hat sich die
       Lage im Nahen Osten dramatisch zugespitzt. Angesichts eines möglichen
       atomaren Showdowns entfällt das Recht auf Irrtum. Das begründet die
       Dringlichkeit des apokalyptischen Tonfalls in Grass’ Gedicht, aber nicht
       zwingend seine in der Zuspitzung einseitige Kritik an Israel.
       
       Grass’ Haltung mag grundsätzlich der von 1973 entsprechen – sein Standort
       hat sich dennoch gründlich verändert. Das hat vor allem damit zu tun, dass
       die Rolle des Großintellektuellen als Gesellschaftskritiker nach 1989 mehr
       und mehr an Glaubwürdigkeit verlor. Mit dem Ost-West-Gegensatz ging auch
       der Zwischenraum zwischen den Welten verloren, den der
       Gesellschaftskritiker braucht, um einigermaßen glaubwürdig eine unabhängige
       Position zu beziehen. Gesellschaftskritik muss ja so tun, als käme sie von
       einem Ort jenseits des Kritisierten und außerhalb der Gesellschaft, weil
       sich das große Ganze nur von dort aus in den Blick nehmen lässt.
       
       Der Sozialismuskritiker sprach als Demokrat, der Kapitalismuskritiker als
       Sozialist. Nach 1989 blieb aber auch für Günter Grass nur noch die interne
       Rolle des Deutschen übrig, der zu Deutschen sprach. In seinem Israelgedicht
       spricht er nun zu Israelis, vielleicht auch, nebenbei, zu Palästinensern
       und Iranern. Die Suche nach einem neuen „Außerhalb“, von dem aus er
       unbestechlich kritisch sein könnte, ist spürbar, doch er weiß selbst, und
       schreibt es auch, dass er als Deutscher gegenüber Israel „Mal um Mal
       eingeholt und zur Rede gestellt“ wird.
       
       Ein Kritiker, der ins Kritisierte involviert ist, müsste nun jedoch
       zuallererst sich selbst und die eigene Rolle in Zweifel ziehen. Das aber
       war noch nie die Stärke von Günter Grass. Im Unterscheid zu Christa Wolf
       hat er auch keine „Kindheitsmuster“ geschrieben – eine umfassende Analyse
       der Prägungen, die er und seine Generation durch die Kindheit im Faschismus
       erfahren haben. Das leistete er auch nicht in dem Erinnerungsbuch „Beim
       Häuten der Zwiebel“, in dem sein spätes Bekenntnis, als 17-Jähriger in den
       letzten Kriegsmonaten bei der Waffen-SS gedient zu haben, für Aufregung
       sorgte.
       
       Grass wird nun vor allem vorgeworfen, er mogle sich mit seinem Gedicht als
       Deutscher auf die Seite der Opfer, ja der Überlebenden. Das hat die präzise
       Begriffsanalyse von Frank Schirrmacher in der FAZ ergeben. Doch anstatt
       diese Diagnose zu moralisieren und gegen Grass in Stellung zu bringen (was
       einfach ist), lohnt ein Blick zurück auf die Verschiebungen des
       Täter-Opfer-Diskurses seit 1989, der immer differenzierter wurde, sich
       stärker als zuvor für die Seite der Täter und moralische Graubereiche
       interessierte und auch Deutsche als Opfer von Krieg, Flucht, Vertreibung
       und Vergewaltigungen thematisierte.
       
       Dass das kein innerdeutsches, sondern ein internationales Phänomen gewesen
       ist, belegen die Erfolge des Films „Schindlers Liste“ von 1993 und des
       Romans „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell aus dem Jahr 2006. Grass
       hatte daran seinen Anteil mit dem Roman „Im Krebsgang“ (2002), in dem er
       vom Untergang der „Wilhelm Gustloff“ mit vielen tausend deutschen
       Flüchtlingen an Bord erzählte, aber auch den Rechtsradikalismus in den
       neuen Bundesländern behandelte.
       
       ## Überwindung der schematischen Gegenüberstellung
       
       Wenn Grass über Deutschland sprach, dann immer mit Blick auf die ganze
       deutsche Geschichte und ihr Nachwirken in der Gegenwart. Das war keine
       billige Verschiebung der eigenen Position von der Seite der Täter auf die
       der Opfer, sondern eher eine Überwindung dieser doch etwas schlichten,
       schematischen Gegenüberstellung. Aber schon dabei klang die Wendung „Warum
       sage ich jetzt erst“ als Generalbass des an der Geschichte leidenden
       Deutschen mit.
       
       Seltsam, dass gerade diese Redeweise nun so viel Wut hervorgerufen hat. Man
       könnte die Erregung der Kritiker jetzt als Beleg für die Richtigkeit seiner
       Thesen nehmen, doch Grass scheint Zustimmung geradezu systematisch
       verhindern zu wollen. Bis in die Anmaßung der Gedichtform hinein ist sein
       Text als Provokation angelegt. Er bettelt um Zurückweisung, und je heftiger
       sie ausfällt, umso sicherer verfestigt er sich in der Rolle des einsamen
       Kämpfers.
       
       So wie er einst – mit gutem Grund! – Willy Brandt und sich an dessen Seite
       von Feinden umstellt sah, so möchte er sich auch heute erleben. Sein
       Fernsehauftritt, in dem er von einer gesteuerten Kampagne sprach, zeigte
       aber nur einen alten Mann, der die Welt nach Kriterien einteilt, die der
       Wirklichkeit nicht mehr entsprechen. So hilflos und aus der Zeit gefallen
       wirkten seine Bemühungen, die Weltlage von Behlendorf aus zu erklären.
       Warum also jetzt noch nachtreten? Der Kritiker ist Geschichte. Sein Werk
       nicht.
       
       9 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörg Magenau
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Tübingen
       
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