# taz.de -- Französische Kulturhauptstadt: Das alte Marseille verschwindet
       
       > Marseille wird umgekrempelt. Am ehemaligen Industriehafen entstehen
       > Büros, Wohnungen, Einkaufstempel, Promenaden und Museen.
       
 (IMG) Bild: Das Image der europäischen Kulturhauptstadt 2013 wird heftig geschönt.
       
       Die Kopflampe des Barkeepers wirft einen schwachen Schein in den
       rappelvollen Raum. Auf der Theke brennen eine handvoll Teelichter. Hinter
       dem schwarzen Vorhang, der das Foyer vom Saal trennt, ist es stockdunkel.
       Ein junger Mann verteilt in der Finsternis warme Gläser, in denen kleine
       Löffel stecken: „Chocolat magique“, Zauberschokolade: Schokolade,
       Karamelzucker und Reiswaffeln. Lecker.
       
       Die Dunkelheit schärft die Sinne. Alles schmeckt intensiver. Jeden letzten
       Dienstag im Monat laden Frédéric und Isabelle Freunde, Gäste und
       Interessierte zu einem besonderen Ereignis. Diesmal ist es das Essen im
       Dunkeln. WAAW nennen die beiden ihre lose Gemeinschaft aus Menschen, die
       sich für Kunst, Kultur und Kommunikation in Marseille interessieren. Die
       Abkürzung steht für „What an Amazing World“, welch eine erstaunliche Welt.
       
       Viele Kulturmenschen machen Angebote, andere suchen Anregung. Doch oft
       finden beide nicht zusammen. So mieteten Frédéric und Isabelle in einer
       kleinen Seitenstraße einen rund 70 Quadratmeter großen Raum und
       verwandelten ihn mit alten Sofas und Tischen in ein gemütliches Café. Hier
       laden sie Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Modeschöpfer, Regisseure und
       andere Kreative ein, die ihre Werke in lockerer Runde bei einem Glas Wein
       und leckeren Häppchen vorstellen.
       
       ## Ein Netzwerk für Bürgerkommunikation
       
       „Wir möchten Netze schaffen, Begegnungen“, begründen die Beiden ihr
       Projekt. Dabei wollen sie den Mitgliedern ihres Netzwerks nichts
       Vorgefertigtes servieren, sondern Neuem Raum geben, das aus der
       Kommunikation unterschiedlichster Menschen entsteht. Manchmal sind es
       gemeinsame Ausflüge, Theaterbesuche, Gespräche oder andere Entdeckungen in
       Marseille. Auch auf ihrer Internetseite informieren die WAAWis über ihr
       Programm, über andere Projekte und Angebote in der Stadt. „Marseille“, sagt
       Frédéric, ist vor allem eine Stadt der Netzwerke. Die Leute bewegen sich in
       ihrem Kreis und erfahren kaum, was es darüber hinaus noch gibt. „Das wollen
       wir ein bisschen ändern.“
       
       Ihren Standort haben die beidem WAAW-Gründer gut gewählt. Rund um den Cours
       Julien mit den alten Bäumen und den Sitzbänken entstehen laufend neue
       Galerien, Kneipen, Cafés und ausgeflippte Läden. Quartier des Créateurs,
       Viertel der Kreativen, nennt sich die Ecke. Im Equitable Café, dem Café des
       Fairen Handels, finden fast jeden Abend Lesungen, Konzerte und Diskussionen
       statt.
       
       Daneben hat Lola Marmelade ihr Modeatelier aufgemacht. Sie entwirft und
       produziert ihre ausgefallenen Kleider, Röcke und Accessoires hier selbst.
       Zwei Häuser weiter rattern die teilweise 100 Jahre alten Maschinen der
       letzten traditionellen Seifensiederei der Innenstadt. Der Cours Julien mit
       seinen schmalen Seitenstraßen, den vielen Cafés, kleinen Restaurants und
       Läden ist eines der 111 Dörfer, aus denen Marseille besteht.
       
       Die Leute leben hauptsächlich in ihren Vierteln, die unterschiedlicher kaum
       sein könnten: die grauen Hochhaussiedlungen, in denen sich alle sozialen
       Probleme aus den Soziologen-Lehrbüchern ballen, Drogen, Mord und Totschlag
       inklusive, die reiche teure Corniche mit ihren Villen auf Felsvorsprüngen
       über dem blau-smaragdgrün leuchtenden Meer, die neuen In-Viertel an der
       Rive-Neuve am Südostufer des Alten Hafens, Frankreichs ältestes
       Stadtviertel, der inzwischen teuer sanierte Panier oder das arabische
       Quartier mit seinem Basar und den vielen Bärtigen, die den rechten Glauben
       predigen.
       
       Arabisch ist auch das Nouailles-Viertel zwischen Cours Julien und Altem
       Hafen: In den von bunten Graffiti übersäten, zum Teil arg
       heruntergekommenen Häusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert wohnen vor allem
       Einwanderer aus Nordafrika: Ein riesiger Markt, fast komplett in arabischer
       Hand, viele Läden und jede Menge Leute. Fotografierende Touristen sind hier
       weniger beliebt. „Was fotografierst du hier? Pack die Kamera weg“, schreit
       einer. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, erklärt er: „Viele leben
       hier illegal. Die Gegend ist voll mit Polizeispitzeln.“
       
       Jenseits der einstigen Prachtmeile Canebière zieht sich Nordafrika weiter
       bis zum Aixer Tor und dem Hauptbahnhof Saint Charles: Handyläden,
       1-Euro-Ramsch-Shops, Imbissbuden sind in die Erdgeschosse der von Ruß und
       Abgasen angegrauten einstigen Bürgerhäuser gezogen, dazwischen Schmuck- und
       islamisch korrekte Bekleidungsgeschäfte, in deren Schaufenster Frauenköpfe
       aus Plastik die gerade angesagte Kopftuchmode zeigen. Andere präsentieren
       blütenweiße Brautkleider oder glitzernden Goldschmuck. Draußen eilen
       bärtige Männer vorbei, manche in orientalische Kaftane gekleidet,
       verschleierte Frauen mit Kinderwagen und coole Jungs in Kapuzenpullis. Wie
       Raumschiffe durchziehen die gläsernen, nagelneuen Straßenbahnen diese
       untergehende Welt des anarchischen Wildwuchses in der „größten Stadt
       Nordafrikas auf europäischem Boden“.
       
       Investmentfonds haben viele Häuser, zum Beispiel in der einst prächtigen
       Rue de la République mit ihren Haussmann-Fassaden, gekauft, die Wohnungen
       (oder, wie viele sagen, „nur die Fassaden“) saniert und die Mieten um bis
       zu 300 Prozent erhöht. Unten am Alten Hafen entsteht ein neues Fünf-Sterne
       Hotel und die Preise sind explodiert.
       
       Christian, ein älterer Herr, erzählt in gesetzten, überlegten Worten die
       Geschichte seines Vereins „Un Centre Ville pour tous“ – „eine Innenstadt
       für alle.“ Marseille sei stets eine arme Stadt gewesen, auch und gerade im
       Zentrum. Weil die alten Bürgerhäuser immer mehr verfielen, sollten private
       Investoren die maroden Gebäude sanieren. Die kauften ganze Straßenzüge,
       erneuerten wie vorgeschrieben Dächer und Fassaden und erhöhten die Mieten.
       Der Bürgermeister von der Regierungspartei UMP hätte ihnen schließlich
       garantiert, dass sie ihre Investitionen wieder hereinholen könnten.
       
       ## Es wird gebaut, gepfuscht, kassiert
       
       Gemeinsam gründeten Stadt und Privatunternehmen die Sanierungsgesellschaft
       Marseille Aménagement, die für die gesetzeskonforme Umsetzung der
       Renovierung sorgen sollte. „Die haben aber gar nicht genug Leute, um das zu
       kontrollieren“, erklärt Christian. So wird gebaut, gepfuscht und bei den
       Mietern kassiert. Wehren könnten sich die wenigsten. Viele
       Innenstadtbewohner fürchteten um ihr Bleiberecht. Wenn sie der Vermieter
       vor die Tür setzt, können sie ausgewiesen werden, weil sie dann keinen
       Wohnsitz mehr in Frankreich haben. Manche Eigentümer nutzten dies gnadenlos
       aus.
       
       „Marchands du Sommeil“, Händler des Schlafes nennt Christian die
       Hauseigentümer und Verwalter, die Zimmer in maroden Innenstadthäusern oft
       zu völlig überhöhten Preisen gleich mehrfach an zumeist arabische
       Einwanderer vermieten. Wer nicht zahlt, fliegt raus. Inzwischen trifft der
       Wandel auch Familien, die die teuren Mieten in der Innenstadt nicht mehr
       bezahlen können.
       
       Im kleinen Hotel „Vertigo“ in einer Altstadtgasse am Bahnhof räumt Sévérine
       die Zimmer auf, putzt und macht die Betten. Die freundliche junge Frau mit
       den langen dunklen Haaren ist in Marseille geboren und aufgewachsen:
       „Früher“, erzählt sie, „war Marseille sehr gemischt.
       
       Aber jetzt packen sie die ganzen Moslems auf die eine Seite und die
       Franzosen auf die andere.“ Sévérine wohnt mit Mann und Kind in La Joliette
       – mitten im Sanierungsgebiet. Die 28-Jährige ärgert sich über die sozialen
       Gräben, die die Stadt immer weiter teilen: „Sie haben die Leute aus La
       Joliette umgesiedelt. Jetzt verkaufen sie Wohnungen nur noch an Franzosen
       und an Reiche.“
       
       Auf den ersten Blick scheint sich der Alltag in Marseille deswegen nicht zu
       verändern. Schon im Januar drängen Anwohner und Touristen um die
       Mittagszeit auf die Terrassen der Straßencafés. Die Sonne flutet die Stadt
       mit ihrem im Winter goldgelben Licht.
       
       ## Teures EuroMéditerranée
       
       Im Alten Hafen laden die Fischer seit 2.000 Jahren jeden Morgen den
       frischen Fang von ihren Booten: Flundern, Seewolf, Muscheln und sogar
       Seepferdchen. Manche der Fische zappeln noch. Sie starren Passanten aus
       wassergefüllten Plastikwannen mit großen Augen an. Es riecht nach Meer,
       nach Sonne und nach reichlich Zeit.
       
       Eine Fischerin verkauft spiegelglatte, bonbongroße orange-weiß marmorierte
       Steine, die im Meer Muscheln als Verschluss dienen: die Augen der Heiligen
       Lucia. „Wer sich eines davon in den Geldbeutel legt, hat immer genug zum
       Leben“, verspricht die Frau. „Wir glauben dran“, schließlich sei dies eine
       jahrhundertealte Tradition. Zwei Euro verlangt sie inzwischen für die
       Muschelstücke.
       
       Ganz andere Summen bewegen Stadt, Staat und EU in Marseille: Für mehrere
       Milliarden Euro entsteht EuroMéditerranée: eine neue Stadt in der Stadt mit
       blau funkelnden Glastürmen voller Büros zwischen akribisch restaurierten
       alten Fabriken, Shopping-Malls und Wohnvierteln. Aus einem 90 Jahre alten,
       riesigen Getreidesilo wurde ein Veranstaltungszentrum mit Konzertsaal, aus
       der ehemals von Künstlern und Lebenskünstlern besetzten Tabakfabrik Belle
       de Mai ein „Ideenlabor“: Hier residieren jetzt Frankreichs zweitgrößte
       Filmstudios, Internetfirmen und alles, was in Zukunft sonst noch mit
       Kreativität Geld verdienen soll.
       
       Am ehemaligen Industriehafen baut der Staat zwei neue Museen von
       selbstverständlich nationaler Bedeutung. Die alten Docks haben die
       Stadtsanierer entkernt und zu teuren Büros umgebaut. In den Innenhöfen
       haben sich coole Boutique-Restaurants mit leichter teurer Küche
       niedergelassen.
       
       ## Europas Moderne fühlt sich überall gleich an
       
       Gemütlich ist es vor den glatten Fassaden der ehemaligen Lagerhäuser
       zwischen all den wichtigen Business People nicht: La Défense in Paris,
       Berlins Neue Mitte oder die Parkstadt in München-Schwabing – Europas
       Moderne fühlt sich überall gleich an. Doch Marseille bleibt widerspenstig.
       
       Schon im 17. Jahrhundert ließ Frankreichs König die Festungen vor dem Hafen
       mit zwei Reihen Kanonen ausstatten. Eine Reihe richtete sich aufs Meer, die
       andere auf die Stadt. Seit die Pariser Revolutionäre um 1800 der Stadt
       wegen ihrer Unbotmäßigkeit auch noch den Namen aberkannt haben, nennt sich
       Marseille „Rebellenstadt“. „Die Marseiller“, sagt Pierre Crava, „wollen
       immer anders sein und sind erst mal dagegen.“
       
       Die Händler und Kaufleute rund um den Cours Julien haben den Besitzer des
       OOGI, einem Designerladen mit ausgefallenen Klamotten, Accessoires,
       Vinyl-Schallplatten, CDs und Café zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Pierre
       Crava, dem Mittvierziger zwischen Szene und Geschäft, ist der Marseiller
       Widerstandsgeist „oft zu wenig konstruktiv“.
       
       Seit 20 Jahren rede man vom großen Potenzial, das die Stadt habe, aber
       passiert sei in der ganzen Zeit nicht viel. Die Mieten in der Innenstadt
       hätten vor ein paar Jahren ihren Höchststand erreicht. Der ganze Stadtumbau
       betreffe das Viertel um den Cours Julien nicht. „Marseille“, sagt sein
       Fast-Nachbar von WAAW, „ist eine ganz erstaunliche Stadt. Nur wissen es
       viele nicht.“
       
       21 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert B. Fishman
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Reiseland Frankreich
       
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