# taz.de -- Go-East-Festival in Wiesbaden: Der zweite Anzug der Avantgarde
       
       > In Wiesbaden beschäftigten sich eine Retrospektive und ein Symposium mit
       > den vielfältigen Hinterlassenschaften des sowjetischen Filmstudios
       > „Lenfilm“.
       
 (IMG) Bild: Szene aus „Yunost Maksima“ („Maxims Jugend“) Regie: Grigoriy Kozintsev, Leonie Trauberg, UdSSR 1934, 98 Min.
       
       Die Retrospektive von Filmen aus dem Lenfilm-Studio beim Festival GoEast in
       Wiesbaden fand zum richtigen Zeitpunkt statt: 1918 wurde es gegründet, 2004
       in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, nun steht das Studio vor dem Aus.
       Alle Hoffnungen richten sich auf Putin, der das Studio verstaatlichen soll.
       Die zwei derzeit berühmtesten Lenfilm-Regisseure, Alexej German und
       Alexander Sokurow, leiten das Rettungskomitee, dabei gab Sokurow jene 6
       Millionen Euro, die ihm Putin für seinen Film „Faust“ als Extra
       herübergereicht hatte, in Tschechien aus und nicht bei Lenfilm. Auf dem
       Symposium zur Retro wurden die Schätze des Studios, 1.500 produzierte
       Filme, kühn mit denen in der Eremitage verglichen, doch die Auswahl
       lieferte dafür keinen Beleg.
       
       Zu dem unter Filmhistorikern berühmten Kanon des Studios gehören etwa Filme
       der Fabrik des Exzentrischen Schauspielers FEKS und von Friedrich Ermler,
       der sowjetische Western „Tschapajew“(1934), die veristischen Dramen von
       Wladimir Wengerow, die Shakespeare-Verfilmungen von Grigori Kosinzew, die
       verbotenen Filme von German, die Blockbuster von Alexej Balabanow und
       Alexander Rogoshkin.
       
       Auf diesen Kanon wurde bei der Auswahl verzichtet. Die Veranstalter
       entschieden sich für das zweite Glied im Marschblock: melodramatischer
       Kitsch der zwanziger, SozRealistischer Kitsch der dreißiger bis fünfziger
       Jahre, romantisch nostalgischer Kitsch der siebziger. Die heterogene
       Mischung aus Ideologie und Unterhaltung wurde kurzerhand und etwas
       unerschrocken als Realavantgarde betitelt, was sich nur in Anlehnung an
       RealSozialismus interpretieren lässt: zwar weit weg von der Vision, doch
       die einzige Avantgarde, die man nun mal hat.
       
       Eigentlich hat Lenfilm diese brutale Behandlung nicht verdient, denn seine
       Heimat St. Petersburg bestimmte sein Schicksal: In der russischen Kultur
       bildeten Moskau und St. Petersburg stets Gegensätze. Alles ursprünglich
       Russische (nationale, emotionale, warme, chaotische) war mit Moskau
       verbunden, alles Neuzeitliche (europäische, rationale, kalte, ordentliche)
       und deshalb Fremde wurde mit Zar Peter und St. Petersburg assoziiert. Im
       Moskau wurde das Leben genossen, in St. Petersburg Karriere gemacht.
       
       ## Eine neue Hauptstadt
       
       Doch 1918 verlegten die Bolschewiki die Hauptstadt nach Moskau; Petrograd
       und sein kleines Studio wurden in eine tiefe Provinzialität getrieben.
       Lenfilm-Regisseure und ihre Filme galten als „zweite Garde“, zugleich
       hatten sie das Privileg, in der Provinzialität marginale Richtungen zu
       entwickeln.
       
       1934 bekam das Studio seinen heutigen Namen, und seine Situation änderte
       sich: Der sowjetische Film sollte nun nicht mehr die Massen darstellen,
       sondern ansprechen – in einfach erzählten Geschichten. Ideologie musste als
       Unterhaltung verkauft werden. Die Moskauer Avantgarde verstummt für einige
       Jahre, so kam die Sternstunde für Lenfilm. Die zweite Garde avanciert zur
       Avantgarde neuen Stils – des sozialistischen Realismus. Die FEKSe, die den
       Namen ablegten, schafften den Übergang problemlos – dank ihrer Neigung zur
       handlungsreichen Kolportage: Kosinzew und Trauberg erzählten in ihrer
       Maxim-Trilogie (1933–39) die Geschichte vom russischen Dummkopf Iwan und
       der klugen Schönheit, einer Sozialdemokratin, die einen einfachen Arbeiter
       in einen bewussten Bolschewiken verwandelt. Sie macht ihn nicht zum reichen
       Prinzen, dafür zum Finanzminister in der neuen Gesellschaft.
       
       Der reale politische Kampf wird als Märchen dargestellt, als „Realismus“
       ausgegeben. Ermler inszeniert zu dieser Zeit die offizielle Version der
       Ermordung des Stalin-Rivalen Kirow, „Der große Patriot“ (1938). Der Terror,
       dem die Stadt nach der Tat ausgesetzt war, verschonte die Regisseure, nicht
       aber die Studiodirektoren und Dramaturgen.
       
       In den Fünfzigern ändert sich die Richtung zaghaft. Im Sowjetmenschen wird
       plötzlich der Privatmensch entdeckt, sein öffentliches Leben durch
       Kriterien des privaten geprüft – vielleicht auch deshalb, weil das private
       keinen derartigen Wertschwankungen ausgesetzt war wie das öffentliche. In
       den Sechzigern werden diese Geschichten weiter erzählt, doch sie geraten
       nie zu Publikumslieblingen.
       
       ## 65 Millionen Menschen sehen „Der Amphibienmensch“
       
       Erst 1962 bricht das Sci-Fi-Melodrama „Der Amphibienmensch“ den Rekord: 65
       Millionen Menschen sehen sich den Film an. Es geht darin um die sowjetische
       Version der Frankenstein-Schöpfung: halb Mensch, halb Fisch, kein Monster,
       sondern ein schillernd schöner Jüngling, edel wie Robin Hood, frei wie ein
       Held von Rousseau, der in der „reinen“ Natur lebt. Doch er wird von
       gierigen Typen betrogen, gefangen, ausgebeutet. Die exotische Atmosphäre
       einer Stadt am Meer, von westlichem Luxus und Unterwasseraufnahmen machten
       den „Amphibienmenschen“ zur populärsten Produktion der Tauwetter-Ära.
       
       Der Regisseur Wladimir Tschebotarjow musste sich in einem ganz anderem
       Genre bewähren und das Parteidrama „Der Sekretär der Gebietsleitung“ (1964)
       drehen. „Der Amphibienmensch“ zeigte, dass die Russen auch nach Hiroschima
       keine Furcht vor dem Fortschritt haben. Doch dieses Lebensgefühl änderte
       sich in den Achtzigern radikal, als Sokurow seine eschatologischen Dramen
       vom Ende der Zivilisation drehte und Konstantin Lopuschanski den ersten
       sowjetischen Film über den „Tag danach“ schuf, „Briefe eines Toten“ (1986),
       der vom Zuschauer auf die im selben Jahr geschehene Tschernobyl-Katastrophe
       projiziert wurde. Damit endete die „rosa“ Periode von Lenfilm.
       
       Eigentlich lieferte Germans Film „Mein Freund Iwan Lapschin“(1984) den
       besten Kommentar zu den „real-sozialistischen“ Lenfilm-Kreationen. Die
       Handlung ist in den Dreißigern angesiedelt. Alle Helden haben eine „genaue“
       Utopie von der Zukunft – bis hin zur Zahl der Sektflaschen, die im Jahr
       1942 produziert werden, und doch ist ein reales Gefühl für die Gegenwart
       kaum entwickelt. Ein Journalist versucht sich das Leben zu nehmen, zugleich
       kann er nicht glauben, dass Majakowski den Freitod gewählt haben soll.
       
       Befangenheit in Filmträumen, die Realität und Geschichte ersetzten, geriet
       in Germans Werk zum Albtraum. Die Retrospektive versuchte, diese Träume zu
       beleben. Im Kontext des Festivals GoEast, das die Realität Osteuropas auf
       Drogen, Prostitution und Gewalt reduziert, erschienen diese „rosa Märchen“
       dagegen als historisches Relikt.
       
       25 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Oksana Bulgakowa
       
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