# taz.de -- Dichter: Von Raven bis Hauptstadt
       
       > Wie Rainald Goetz nach Berlin kam: Fünf Annäherungen an den
       > Schriftsteller, der Donnerstag an der FU seine Antrittvorlesung mit dem
       > Titel „Leben und Schreiben“ hält.
       
 (IMG) Bild: Stand schon 2000 am Katheder: Rainald Goetz.
       
       ## Von Raven bis Hauptstadt
       
       Es war eine langsame Annäherung. In den ersten Romanen von Rainald Goetz,
       „Irre“ und „Kontrolliert“, spielte Berlin noch keine Rolle. Die Bezugsorte
       waren München, die Geburtsstadt, und Hamburg als cooles Popdiskurszentrum
       in den Achtzigern. Alte Bundesrepublik halt.
       
       Das alles änderte sich mit Techno. In den Neunzigern entwickelt sich Berlin
       von der symbolischen zur realen Hauptstadt („Berliner Republik“) und zur
       Welthauptstadt des Ravens; zeitgleich wird Goetz, dessen Bücher immer auch
       Lebensmitschrift sind, zu einem Chronisten der Veränderungen der Stadt.
       Sein Internettagebuch „Abfall für Alle“ schreibt er 1998 zum großen Teil in
       Mitte, wohin er von München aus pendelte.
       
       Auch aus den Prosabüchern dieser Zeit, „Dekonspiratione“ und „Rave“, kann
       man eindrucksvolle Schilderungen der intellektuellen Überhitztheiten des
       Mitte-Berlins herauslesen sowie des sprachlosen Glücks, das das Bumbum des
       Techno bietet.
       
       Dann zog er ganz nach Berlin, auch mental. Seinen Plan, einen großen Roman
       über den Politikbetrieb zu schreiben, konnte der 1954 Geborene trotz
       intensiver Vorbereitungen zwar nicht umsetzen. Dafür schildert er in
       „loslabern“ einen FAZ-Feuilletonempfang im Hotel Rome, wo sich der
       politisch-intellektuelle Komplex des Neuen Berlins trifft und selbst
       entlarvt; auf das alte West-Berlin, etwa auf die verstorbene
       Merve-Verlegerin Heidi Paris, gibt es dagegen sympathetischere Verweise.
       
       Und in seinem Tagebuch „Klage“ ist viel von einem heutigen Berliner
       Lebensgefühl enthalten: losfahren, Leute treffen, Dinge erleben, Moden
       mitmachen, Moden an sich vorbeiziehen lassen – und das alles nicht recht
       unter einen Hut kriegen. DIRK KNIPPHALS 
       
       ## Verpeilungen der Existenz
       
       In allen Feuilletonredaktionen gibt es Rainald-Goetz-Fans, sicherlich weil
       Goetz auch ein Writer’s Writer ist, also jemand, dessen Werk oft vom
       Schreiben handelt, dem Glück und den Verpeilungen der schreibenden
       Existenz, dass auch viele Kollegen einen Sprung in der Schüssel haben oder
       zu haben meinen und dass die Lektüre der frühen Texte von Rainald Goetz
       viele der heute 40- bis 50-Jährigen dazu gebracht hat, selbst zu schreiben.
       
       Mit einigen Freunden rede ich eigentlich immer über Rainald Goetz, zum
       Beispiel mit Cord Riechelmann. Das ist eines unsrer gemeinsamen Themen.
       Cord schreibt, liest und theoretisiert tagaus, tagein und kennt Rainald
       auch seit den 80ern. Ich erzähle dann meinetwegen, dass drei verschiedene
       taz-Delegationen bei der Verleihung des Berliner Literaturpreises waren. Er
       ergänzt etwas, fragt nach und ich freue mich, nun das erzählen zu können,
       was in dem Artikel keinen Platz mehr gefunden hat.
       
       Vor zwei Jahren, bei der suhrkamp-Eröffnung, standen Tobias Rapp, Rainald
       Goetz und ich zusammen. Rainald sagte: „Haha, die drei
       drogenverherrlichenden Autoren auf einem Haufen.“ Oder ähnlich. Das war
       auch lustig! Oder als mich Rainald bei der Eröffnung des
       edition-suhrkamps-Ladens gecoacht hatte.
       
       Meine Lieblingsbegegnung mit dem Dichter liegt 20 Jahre zurück. Ich war mit
       A., einer gemeinsamen Freundin, in München. Wir waren betrunken und sehr
       guter Dinge. Mit dem Taxi wollte ich nach Hause fahren. Rückwärts gehend
       winkte ich zum Abschied. Rainald rief warnend etwas, ich drehte mich um und
       prallte mit der Stirn gegen einen Laternenpfahl. So viel Sterne hatte ich
       noch nie in meinem Leben gesehen. DETLEF KUHLBRODT 
       
       ## Das Schema von Freund und Feind
       
       Irgendwann in den Neunzigern hielt Niklas Luhmann während eines
       Wintersemesters eine Gastvorlesung im Hauptgebäude der Münchener
       Ludwig-Maximilians-Universität. Der Saal war voll, und regelmäßig anwesend
       war auch Rainald Goetz, wie besessen schreibend. Im Nachtleben war er mir
       schon begegnet, etwa bei einem Auftritt von Henry Rollins, als er vor der
       Bühne stand und die Fäuste ballte. Das wunderte mich nicht.
       
       Aus der Luhmann-Vorlesung kam ich erfrischt. Auch, weil mir seine Art zu
       sprechen gefiel. Understatement, fast Pop. Ich frage mich, ob und wie das
       bei Goetz ankam. Wenn Luhmann zum Beispiel davon gesprochen hat, dass ihn
       Carl Schmitts Theorie nicht überzeugt hat, weil für ihn, Luhmann,
       erfolgreiche Politik nur dann realisierungsfähig sei, wenn sie ein Minimum
       an Gegnern habe. Goetz hat Schmitts Freund-Feind-Schema als Movens
       bezeichnet. Wehe, wer mit ihm über Kreuz liegt.
       
       Luhmann sprach auch davon, wie er nach Humberto Maturana einem bestimmten
       Erzählduktus folgt, wenn er über seine eigene Biografie nachdenkt: Er
       charakterisierte diese als Serie von Zufällen. Eben nicht vorherbestimmt.
       Luhmann äußerte sogar seine Schwierigkeiten mit dem Begriff des
       Intellektuellen. Rainald Goetz ist der Inbegriff eines rigoros Handelnden
       und moralisch Denkenden. Diese Strenge finde ich anstrengend, aus der
       Distanz aber auch amüsant.
       
       Das Genie, das bei Luhmann in jener Vorlesung immer wieder aufgeblitzt ist,
       dieses elegante und unprätentiöse Referieren, der gute trockene Geist, den
       vermisse ich bei Goetz. Trotzdem: Sein Internet-Tagebuch ist eines der
       wichtigsten deutschsprachigen Werke der nuller Jahre. JULIAN WEBER 
       
       ## Höllor und Bösor
       
       Dass man Schriftstellern, die für einen in der einen oder anderen Weise
       prägend waren, auf der Straße über den Weg läuft, ist in Berlin sicher
       weniger ungewöhnlich als in anderen Städten Deutschlands. Im Grunde ist so
       ein Vorgang ja völlig banal: Auch Menschen, die schreiben, müssen manchmal
       die eigenen vier Wände verlassen und setzen sich damit den Blicken der
       Öffentlichkeit aus.
       
       Rainald Goetz bin ich allerdings so oft – wenn auch aus der Ferne –
       begegnet wie sonst keinem Dichter. Zuerst in Hamburg, wo er im Deutschen
       Schauspielhaus auf der Premierenfeier seines Stücks „Festung“ versunken zu
       House Music tanzte, ein paar Jahre später in München, als ich in einer
       Wohnung zu Gast war, von der aus man auf seinen Balkon blicken konnte, auf
       dem sein roter Rave-Overall auslüftete.
       
       In Berlin gab es dann eine Zeit, da konnte ich mir sicher sein, ihn auf dem
       Weg zum Mittagessen in meinem damaligen Lieblingsjapaner mit einiger
       Regelmäßigkeit auf dem Fahrrad zu sehen. Um mich fast genauso häufig zu
       fragen, was mich eigentlich an genau diesem Autor so fasziniert. War es der
       Betonblock von einem Roman „Irre“, in dem ein deutscher Schriftsteller wohl
       zum ersten Mal die amerikanische Band Devo erwähnte, die mir, damals noch
       als Kind, die Ohren aufzog, oder der Umstand, dass Goetz in den Neunzigern
       dem praktisch nicht begrifflichen Techno eine poetische Sprache schenkte?
       
       Ach ja, Techno: Im Club Berghain, für dessen Monatsprogramm er schön
       seltsame Kolumnen schrieb, bevölkert von Figuren wie „Höllor“ oder „Bösor“,
       war es ebenfalls unvermeidlich, ihn gelegentlich zu treffen. TIM CASPAR
       BOEHME 
       
       ## Konstruktion von Authentizität
       
       Ich habe gern studiert. Aber als ich 1994 nach Berlin kam, wurde vieles
       wichtiger: Nachtleben, Jobs, Projekte. Rainald Goetz lernte ich 1998
       kennen, da war ich taz-Kultur-Praktikantin. Ich machte eine Polaroid-Serie,
       „Warten auf die Loveparade“ oder so, und traf jeden Tag einen anderen
       Halbprominenten, der irgendwie mit Techno zu tun hatte. Einmal war ich mit
       Westbam verabredet – und zufällig war auch Rainald Goetz da. Ich war
       aufgeregt: Gerade hatte ich „Rave“ gelesen, sein bestes und gegenwärtigstes
       Buch, wie ich bis heute finde. Ich machte ein Polaroid von ihm.
       
       Danach traf ich Goetz immer mal auf Partys. Als ich beschloss, nach 16
       Semestern doch noch das Studium der Neueren Deutschen Literatur
       abzuschließen, fiel meine Wahl auf ihn. Ich wollte wissen, was der Motor
       seines Schreibens ist, warum seine Texte so unter Hochspannung stehen. Ich
       wählte den Titel „Zur Konstruktion von Authentizität bei Rainald Goetz“.
       Kapriziös, aber immer noch gut, meine ich.
       
       Es war toll, ein halbes Jahr über ihn nachzudenken. Aber ich konnte mich
       nie mehr richtig mit ihm unterhalten: Ich hatte immer das Gefühl, ihn ohne
       sein Wissen seziert zu haben. Und wirklich kam ich ihm auf die Spur: Ich
       verstand, warum sein überdrehtes Schreiben so tut, als schriebe es die
       „wirkliche Wirklichkeit“ ab, und dabei weiß, wie unmöglich das ist. Und
       obwohl all das Spaß gemacht hat, war es auch ein Krampf.
       
       Ich erinnere einen langen Sommer, in dem mir das Konzept immer wieder
       abhandenkam. Und Mittagspausen, in denen ich wiederentdeckte, welche Art
       Bücher ich mochte, bevor ich begann, sie zu studieren – die wunderbar
       entspannten, lakonischen Bücher von Haruki Murakami. SUSANNE MESSMER
       
       9 May 2012
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Rainald Goetz' Roman „Johann Holtrop“: Gefeuert, gefeuert, gefeuert
       
       Rainald Goetz präsentiert im Deutschen Theater Berlin sein neues Werk
       „Johann Holtrop“. Ein Roman, so einfach wie möglich.
       
 (DIR) Rainald Goetz stellt neuen Roman vor: Unter schwarzem Polyester
       
       Rainald Goetz überreicht persönlich auserwählten Pressevertretern ein
       Exemplar seines neuen Romans. Wie immer liegen Hass und Liebe dicht
       beieinander.
       
 (DIR) Antrittsvorlesung von Rainald Goetz: „Schreiben heißt Atmen“
       
       Der Schriftsteller Rainald Goetz hielt am Donnerstag seine
       Antrittsvorlesung an der FU Berlin. Er sprach über Schreiben-über, das
       „weise Orakel“ Internet und Spiegelneuronen.
       
 (DIR) Mosse-Lectures in Berlin: Die Gedanken müssen sich beeilen
       
       Diedrich Diederichsen und Rainald Goetz unterhielten sich anlässlich der
       Mosse-Lectures in Berlin über Zeitungen, Joggen und das Glück, überflutet
       zu werden.
       
 (DIR) Berliner Literaturpreis für Rainald Goetz: Sichtlich bewegt
       
       Herzlichen Glückwunsch und „Prost“! Rainald Goetz erhält den Berliner
       Literaturpreis und freut sich darüber sehr. Noch mehr freut er sich aber
       über etwas Anderes.