# taz.de -- Abhängigkeit vom Psychotherapeuten: Keiner versteht mich so wie er
       
       > Eine Psychotherapie ist eine „hoch asymmetrische Beziehung“ und kann
       > durchaus Nebenwirkungen haben. Etwa Abhängigkeit vom Therapeuten oder
       > Problemfixierung.
       
 (IMG) Bild: „Herr Doktor, keiner nimmt mich ernst!“ – „Sie scherzen.“
       
       BERLIN taz | Die nervöse Rothaarige tauchte eines Tages in einer
       Selbsthilfegruppe in Berlin-Schöneberg auf. Sie sei gut aus ihren akuten
       Angstzuständen vor zwei Jahren herausgekommen, erzählte die Frau. Sie habe
       einen ganz tollen Therapeuten. „Supertyp, keiner versteht mich so wie er.“
       Ihr einziges Problem liege darin, dass die von der Kasse bezahlte
       Behandlung demnächst zu Ende sei: „Ich kriege die nackte Panik, wenn ich
       daran denke.“
       
       „Solche Fälle hatten wir mehrfach“, erzählt Silke M., Mitglied der
       Selbsthilfegruppe. Abhängigkeit vom Therapeuten gehört zu den bisher wenig
       thematisierten Nebenwirkungen mancher Behandlung. „Die Erfassung von
       Nebenwirkungen hat in der Psychotherapie vergleichsweise wenig
       Aufmerksamkeit gefunden“, sagt der Berliner Psychiater Michael Linden,
       Mitherausgeber des demnächst erscheinenden Buches „Risiken und
       Nebenwirkungen von Psychotherapie“. Auf einem Symposium der
       Schlosspark-Klinik in Berlin diskutierten Linden und andere ExpertInnen
       unlängst das Problem.
       
       Linden riet dabei zu Differenzierung: Sexuelle Übergriffe in der
       Psychotherapie etwa seien kriminelles Verhalten und ein Extremfall.
       Nebenwirkungen können ansonsten eintreten als Folge bestimmter Vorannahmen
       und Strategien und im Kontext der therapeutischen Beziehung, etwa wenn der
       Behandler den Patienten zu etwas drängt, das dieser nicht will.
       
       ## Um die Vergangenheit kreisen
       
       Nebenwirkungen könnten sich aus einer „Problemfixierung“ in der Therapie
       ergeben, berichtete Dirk Schmoll, leitender Oberarzt für Psychiatrie an der
       Schlosspark-Klinik. Eine solche Fixierung in den analytischen Verfahren
       kann dazu führen, dass PatientInnen mit dem Therapeuten jahrelang um ihre
       Vergangenheit und das schwierige Verhältnis zu den Eltern kreisen und sich
       damit der Auseinandersetzung mit ihrem sozialen Umfeld und
       lebenspraktischen Fragen entziehen.
       
       Schmoll berichtete von einem Langzeitstudenten, der in jahrelanger
       Psychoanalyse seine ambivalente Vaterbeziehung bearbeitete, dabei
       erforderliche Hausarbeiten und Prüfungen immer wieder aufschob und so in
       einen Strudel aus Minderwertigkeitsgefühlen und tatsächlichem Versagen
       geriet. „Eine Woche vor der Prüfung brach er zusammen und wurde stationär
       aufgenommen“, berichtete Schmoll.
       
       Auch das Konzept der „Deutung“, typisch für analytische Verfahren, kann
       mitunter heikel sein. Scholl schilderte den Fall einer 40-jährigen Frau,
       die sich einer mehrjährigen Behandlung bei einem renommierten Analytiker
       unterzog. Als die Kapazität die Aussagen seiner Patientin auf der Couch so
       deutete, dass sich die Dame wohl eine sexuelle Beziehung mit ihm wünsche,
       erzeugte dies bei ihr große Ängste und ein Gefühl von Ausgeliefertsein. Die
       Interpretation weckte Erinnerungen an ein früheres Erlebnis, wo sie einen
       sexuellen Übergriff erlebt hatte.
       
       ## „Hoch asymmetrische Beziehung“
       
       Eine Psychotherapie sei eine „hoch asymmetrische Beziehung“, warnte Linden.
       Dabei kann das Reden über Probleme, ohne Lösungswege zu suchen, mitunter
       dazu führen, dass sich PatientInnen hinterher schlechter fühlen und Ängste
       weiter geschürt werden, statt abzuklingen.
       
       Deutlich sichtbar werden Nebenwirkungen in der Verhaltenstherapie, die
       Alltagsbewältigung vor Ursachenfindung stellt, wenn „Expositionen“ schlecht
       vorbereitet sind und PatientInnen in deren Rahmen angstmachenden
       Situationen zu unvermittelt ausgesetzt werden. Solche Expositionen könnten
       eine Re-Traumatisierung zur Folge haben, erläuterte die Marburger
       Psychologin Yvonne Nestoriuc.
       
       ## „Sozialer Egozentrismus“
       
       Nestoriuc beschrieb überdies einen möglichen Effekt manchen
       Verhaltenstrainings: So könne etwa das „Übertrainieren“ sozialer
       Kompetenzen wie die persönliche Abgrenzung gegenüber Forderungen der Umwelt
       dazu führen, dass die Klienten einen „sozialen Egozentrismus“ entwickelten.
       
       Kontraindiziert bei sozialen Ängsten seien unter Umständen
       Entspannungsverfahren, meinte Nestoriuc. Es bringt beispielsweise nichts,
       vor einer angstmachenden Präsentation im Job möglichst tief zu entspannen.
       Die Aufregung, das Lampenfieber zu durchleben, dann zu merken, dass die
       Situation nicht gefährlich ist und sich dann entspannen zu können, ist der
       bessere Weg.
       
       Eine Erhebung via Fragebögen von Nestoriuc unter KlientInnen der
       Psychotherapieambulanz in Marburg ergab, dass 81 Prozent über keinerlei
       negative Effekte der verhaltenstherapeutischen Behandlung berichteten. Im
       Rahmen einer Onlinebefragung von ehemaligen Psychotherapiepatienten – bei
       der erfahrungsgemäß eher kritische Stimmen eine Rückmeldung schicken –
       berichteten jedoch lediglich 5 Prozent von keinen negativen Wirkungen.
       
       ## Nebenwirkung oder „unerwünschtes Ereignis“?
       
       Linden unterscheidet Nebenwirkungen von „unerwünschten Ereignissen“ während
       der Psychotherapie. So sind Trennungen von Lebenspartnern ein häufiges
       „Ereignis“ während einer Psychotherapie. Oft sei es dabei schwierig, zu
       entscheiden, „ob beispielsweise eine Scheidung im Kontext einer
       Psychotherapie als positive oder negative Behandlungsfolge einzuschätzen
       ist“, meint der Psychiater.
       
       Therapeuten raten mitunter davon ab, während einer Behandlung irreversible
       Lebensentscheidungen zu treffen. Ist der Partner erst mal weg, der Job mit
       dem stressigen Chef geschmissen, die Mutter verteufelt, sind alle Kontakte
       zur Herkunftsfamilie abgebrochen, muss es einem hinterher nicht unbedingt
       besser gehen.
       
       Einige der Psychiater kamen auf dem Symposium zu dem Schluss, Patienten vor
       und während der Behandlung über mögliche Nebenwirkungen und Risiken
       aufzuklären. Psychotherapeuten sollten ihre eigenen fachlichen Grenzen
       erkennen, forderte Linden. Ein Wechsel des Therapieverfahrens und des
       Behandlers oder der Behandlerin ist für den Patienten auch nach vielen
       Stunden immer noch möglich, muss dann aber vor der Krankenkasse ausführlich
       begründet werden.
       
       Die rothaarige Angstpatientin, erzählt Silke M., bekam von der
       Selbsthilfegruppe zu hören, dass auch andere Mitglieder wissen, wie
       schmerzhaft es sein kann, sich aus der Abhängigkeit von einem Therapeuten
       zu lösen. Mehr konnte die Gruppe nicht tun. „Diese Aufklärung müssten
       eigentlich die Therapeuten selbst leisten“, sagt Silke M., „und zwar
       rechtzeitig.“
       
       18 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Dribbusch
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Psychotherapie
       
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