# taz.de -- Politologe über sozial schwache Nichtwähler: „Parteien gefährden die Demokratie“
       
       > Die Ärmeren wählen immer seltener, weshalb die Parteien ihre Interessen
       > immer weniger vertreten, erklärt der Politologe Sebastian Bödeker.
       
 (IMG) Bild: Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf, leider: Wahlkabine im Saarland.
       
       taz: Herr Bödeker, gehen Sie eigentlich noch wählen? 
       
       Sebastian Bödeker: Natürlich.
       
       So selbstverständlich ist das nicht. In Nordrhein-Westfalen ist am Sonntag
       jeder Dritte zu Hause geblieben. Große Klagen über mangelnde
       Wahlbeteiligung hört man aber kaum noch. Ist alles doch nicht so schlimm? 
       
       Keineswegs. Es ist zwar richtig, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland
       von einem hohen Niveau aus gesunken ist und die aktuellen Zahlen im
       Vergleich mit anderen Ländern „normal“ aussehen. Aber das heißt nicht, dass
       das kein Problem ist.
       
       Die Müllabfuhr kommt, die Ämter sind geöffnet – irgendwie scheint es egal,
       dass es immer mehr Nichtwähler gibt. 
       
       Man muss sich anschauen, wer nicht zur Wahl geht und welche Folgen das hat.
       Unter den Nichtwählern sind vor allem Menschen aus unteren sozialen
       Schichten. Ob man das Bildungsniveau, das Einkommen oder die subjektive
       Schichtzugehörigkeit anlegt: die meisten Nichtwähler leben am Rand der
       Gesellschaft.
       
       Wie stellen Sie das fest? Es gibt schließlich ein Wahlgeheimnis. 
       
       Meist auf zwei Wegen: über groß angelegte Umfragen und anonymisierte Daten
       der Wahlbehörden, die es erlauben, die Beteiligung bis zur Ebene von
       Stadtteilen herunter zu erforschen. In den Siebzigerjahren lag die
       Beteiligung bei Bundestagswahlen über 90 Prozent, heute liegt sie bei knapp
       70 Prozent. Noch Ende der Achtzigerjahre war die Beteiligung über alle
       Gruppen hinweg ziemlich gleich. Heute ist das ganz anders. Wir haben zum
       Beispiel Zahlen für einige Großstädte: Bei den Bundestagswahlen 2009 lagen
       in Leipzig 33 Prozent zwischen den Stadtteilen mit der höchsten und der
       niedrigsten Beteiligung, in Nürnberg waren es sogar 40 Prozent.
       
       Es werden also nicht nur soziale Gruppen von der Demokratie abgehängt,
       sondern ganze Gebiete? 
       
       Das ist mir zu zugespitzt. Aber die Zahlen weisen zumindest auf ein
       Abdriften hin. Und es gibt ein klares Muster: Je ärmer der Kiez, desto
       geringer die Wahlbeteiligung. Mein Kollege Armin Schäfer hat einmal die
       Wahlbeteiligung in 86 Kölner Stadtteilen untersucht und gezeigt, wie eng
       diese mit der Erwerbslosenquote zusammenhängt.
       
       Vielleicht machen Erwerbslose stattdessen eher in Bürgerinitiativen mit.
       Die Form der politischen Partizipation wandelt sich schließlich ständig.
       Stichwort: neue soziale Bewegungen, Wutbürger. 
       
       Die soziale Schieflage ist in Bürgerinitiativen oder bei Volksabstimmungen
       noch viel deutlicher! Beim Hamburger Schulentscheid 2010 haben sich die
       politischen Effekte sozial unterschiedlicher Beteiligung gezeigt. Die gut
       gebildeten Mittel- und Oberschichten haben überproportional teilgenommen
       und sich so als „Mehrheit“ durchgesetzt. Einkommensschwache und
       Bildungsferne, von denen es viel mehr in Hamburg gibt und die von einer
       Schulreform profitiert hätten, blieben dagegen überwiegend zu Hause. Wahlen
       sind immer noch die egalitärste und wirksamste Form der politischen
       Partizipation.
       
       Bisher hat man die hohe Wahlverweigerung vor allem als Legitimationsproblem
       angesehen. Dass sich die soziale Schieflage dabei auch auf die praktizierte
       Politik auswirkt, liegt nahe. Aber lässt sich das auch wissenschaftlich
       nachweisen? 
       
       Der Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung sozialer Gruppen,
       Parteiprogrammen, Koalitionsvereinbarungen und Regierungshandeln ist sehr
       komplex. Es gibt viele Faktoren, die hier wirken, und das meist auch noch
       über einen sehr langen Zeitraum. In den USA konnte in Studien nachgewiesen
       werden, dass die Interessen von einkommensschwachen Gruppen und großen
       Teilen der Mittelschicht bei politischen Entscheidungen nur eine
       untergeordnete Rolle spielen. Die Forschung steht, was Deutschland angeht,
       noch am Anfang.
       
       Man denkt an die SPD und ihre Wendung hin zur „neuen Mitte“. 
       
       Das liegt nahe. Die Partei hat den Kontakt zu bestimmen sozialen Milieus,
       zur Facharbeiterschaft und einfachen Arbeitern, abreißen lassen. Und das
       sieht man in der konkreten Politik der Sozialdemokraten. In der
       Agenda-Politik unter Gerhard Schröder spielten die Interessen der
       Erwerbslosen und Einkommensschwachen keine Rolle mehr. Aber das Problem ist
       ein generelles: Parteien wissen, dass Menschen mit geringen Einkommen und
       Bildungsferne deutlich seltener zur Wahl gehen; weshalb sie in den
       strategischen Überlegungen der Parteien an den Rand rutschen.
       
       Was lässt sich dagegen tun? 
       
       Man muss bei den Ursachen ansetzen, also bei der sozialen Ungleichheit.
       
       Das wird aber schwierig. Parteien, die – wie Sie selbst sagen – die
       Interessen der unteren Schichten auch deshalb weniger berücksichtigen, weil
       die ja doch nicht wählen gehen, sollen für den sozialen Ausgleich sorgen? 
       
       Ja. Denn nur die Parteien selbst können diesen Teufelskreis durchbrechen.
       Vor allem die des linken Spektrums müssen sich fragen, wer eigentlich
       Mitglied bei ihnen ist und welche Chancen Menschen mit geringen
       Schulabschlüssen und geringem Einkommen in ihren Reihen haben, Einfluss
       aufs Programm zu nehmen oder selbst wichtige Posten zu besetzen. Kennen Sie
       einen führenden SPD-Politiker mit Erwerbslosenhintergrund? Die Linkspartei
       hatte mal eine Bundestagsabgeordnete, aber die ist auch nicht mehr im
       Parlament. Es geht darum, die Mechanismen sozialer Ausschließung in
       Parteien anzupacken.
       
       Sigmar Gabriel würde sagen: Auch mal dorthin gehen, wo es stinkt.
       Vielleicht sollte man die Parteienfinanzierung stärker an der
       Wahlbeteiligung ausrichten? 
       
       Das kann eine Möglichkeit sein, Anreize für Parteien zu schaffen, sich mehr
       um die Belange der sozial Abgehängten zu kümmern. Aber eigentlich müssten
       die Parteien selbst ein Interesse daran haben. Es geht darum, dass ein Kern
       der Demokratie, politische Gleichheit, also die gleiche Berücksichtigung
       von Interessen, nicht weiter untergraben wird.
       
       20 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tom Strohschneider
 (DIR) Tom Strohschneider
       
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