# taz.de -- Kolumne Depesche: Abrutschende Neubauten
       
       > taz-Autorin Christiane Rösinger ist pünktlich zum Song Contest mit ihrem
       > Bus in Baku angekommen. Fazit: Leute, die Baku mögen, mögen auch Dubai,
       > Stuttgart oder Singapur.
       
 (IMG) Bild: Die Grenze zu Aserbaidschan.
       
       Nach der Fahrt durch eine Wüstenlandschaft sind wir nun am geografisch
       östlichsten Punkt Europas angekommen, in Baku. Und erst einmal enttäuscht.
       
       Sagen wir mal so: Wem es in Dubai, Stuttgart oder Singapur gefällt, der
       wird hier auch alles super finden. Aber wir fragen uns: Sind wir 4.500 km
       gefahren, um durch Marmorunterführungen zu Prachtstraßen mit leeren
       Dolce-&-Gabbana-, Dior-, Gucci- Boutiquen zu gehen?
       
       Die Skyline ist natürlich beeindruckend, man sieht keine Bohrtürme, dafür
       Hochhäuser en masse, pink angestrahlte Fontänen, beleuchtete Torbögen,
       zahlreiche Museen, Parks und Plakate zu Ehren des geliebten Führers Heidar
       Alijew.
       
       Die Baudevise in Baku lautet: Je höher, desto besser, und das möglichst
       schnell. Der höchste Fahnenmast wurde hier 2010 errichtet, inzwischen wird
       er aber von einem drei Meter höheren in Tadschikistan überragt. Die Flame
       Towers, drei Türme in Flammenform, sind das Wahrzeichen Bakus –
       Aserbaidschan ist ja seit Urzeiten das Land des Feuers und die Hauptstadt
       Baku war schon um 1900 eine Boomtown.
       
       Bald wird hier das höchste Gebäude der Welt stehen – das ist auch bitter
       nötig, denn die berühmten Flame Towers sind abrutschende Neubauten. Sie
       können nicht bewohnt werden, sinken wegen des instabilen Untergrunds
       ständig ab, und man munkelt, dass einer der Türme demnächst wieder
       abgerissen werden muss.
       
       Aber man muss Baku immer wieder eine neue Chance geben. Es gibt schattige,
       von Platanen gesäumte Plätze mit Springbrunnen und italienisch anmutendem
       Flair. Hunderte Menschen flanieren nachts mit Kind und Kegel durch die
       Straßen. Die eleganten Straßenzüge mit den Villen der frühen Ölbarone
       erinnern an Paris, sind nur viel sauberer und glatt poliert. Die ganze
       Stadt scheint von einem schlimmen Wisch- und Putzzwang befallen zu sein.
       Wer die Diskussion um den ESC der letzten Wochen verfolgt hat, weiß ja,
       dass hier nicht demonstriert werden darf, dass kritische Journalisten im
       Gefängnis sitzen.
       
       Als durchreisender Tourist hat man nicht den Eindruck, die Leute würden
       unter der Situation leiden. Die Stimmung ist prima, an der Uferpromenade,
       dem Bulvar am Kaspischen Meer ist eine Freilichtbühne aufgebaut, drumherum
       die übliche Sponsorenhölle: Mobilfunkanbieter, deutsche Kosmetikfirmen,
       Getränkehersteller.
       
       Und doch werden hier jeden Tag Leute verhaftet, am Freitag etwa 70
       Oppositionelle, die auf dem Boulevard „Freiheit!“ gerufen hatten.
       
       ## Familienpropaganda
       
       Die meisten Einheimischen und ESC-Fans schert das wenig. Sie erfreuen sich
       an der tollen Show. Die Lieblinge der Aserbaidschaner waren die Babuschkas
       aus Moskau. Ihre Geschichte ist auch zu herzig: Die fidelen Großmütter
       singen seit 40 Jahren in einem Chor und haben beschlossen, beim Grand Prix
       mitzumachen, um Geld für eine neue Kirche zu sammeln.
       
       Die Kollegen im Pressecenter wissen aber, dass der Song eine
       russisch-deutsche Koproduktion ist. Vielleicht sind die Babuschkas sogar
       künstlich auf alt getrimmt und machen im normalen Leben was mit Medien oder
       Musik? Hier sieht man sie in einer lustigen Werbung: Sie tanzen verrückt
       und singen dabei in Flaschen eines bekannten Getränkeherstellers. Das Geld
       für ihre Kirche müssten sie eigentlich schon zusammenhaben.
       
       Gewonnen hat dann aber glücklicherweise Loreen aus Schweden, dabei dachte
       man, ihr angedarktes, gothhaftes Lied sei eigentlich nichts für den
       Mainstream. Aber die liebevoll „mystische Pophexe“ genannte barfüßige
       Schamanin mit marokkanischem Migrationshintergrund wirkte sehr eigen und
       charismatisch und hatte auch als einzige Teilnehmerin „Sing for Democracy“,
       die Veranstaltung der Regimekritiker, besucht.
       
       Es heißt immer, der ESC sei ein unpolitischer Musikwettbewerb, aber wenn
       die Präsidentinnen- beziehungsweise Diktatorinnengattin die
       Hauptorganisatorin ist, in noch schamloserer Weise als jemals zuvor
       Imagewerbung fürs Land betrieben wird und der Diktaktorenschwiegersohn als
       Sänger auftritt und zum Songende noch die aserbaidschanische Flamme küsst,
       muss man wohl von einer Propagandashow sprechen.
       
       Die Show war pompös, die Moderation hingegen hölzern und gehemmt, auch bei
       den Songs hatte man schon Skurrileres und Besseres erlebt. Wie immer beim
       Grand Prix versuchte man durch Hochkulturzitate, regionale Besonderheiten,
       krasse Kostüme und sportliche Leistungen den Sangesbeitrag aufzuwerten.
       
       Die sexy Geigerin in Schwarz mit großem Ausschnitt, der trommelschlagende,
       flötenspielende Ureinwohner, klassischer Paartanz, fernsehballettartige
       Massenverrenkungen, Streetdance, Trapezturnereien sind da die Standards.
       Der ESC in Baku endete wie zu erwarten in einem riesigen Stau und
       Verkehrschaos, und am Sonntagmorgen verließen wir Baku leichten Herzens, um
       langsam über Georgien und das Schwarze Meer nach Odessa durch die Ukraine
       und Polen den Heimweg anzutreten.
       
       29 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christiane Rösinger
       
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