# taz.de -- Bilanz & Reformbedarf des neuen Wahlrechts: "Starke Disproportionalität"
       
       > Der Verfassungsausschuss hat sich gestern mit einer Studie über das neue
       > Wahlrecht beschäftigt. Herausgeber Lothar Probst bemängelt die
       > Intransparenz des neuen Systems
       
 (IMG) Bild: Erstmal unübersichtlich: Wahlhelfer bei der Auszählung der Stimmen der letzten Bürgerschaftswahl.
       
       taz: Herr Probst, was hat sich durch das neue Wahlrecht denn verbessert? 
       
       Lothar Probst: Verbessert hat sich die Möglichkeit für die Wähler, ihre
       Stimme nicht nur für eine starre Liste abzugeben, sondern für Personen.
       Unsere Nachwahlbefragung hat gezeigt, dass die Bürger zunächst einmal sehr
       zufrieden damit sind, nun auch Personen wählen zu dürfen. Der
       Schönheitsfehler ist, dass die Wähler nicht wirklich überblicken können,
       was sie mit ihrer Stimme bewirken oder auch nicht bewirken.
       
       Bei der Bürgerschaftswahl hat Jens Böhrnsen (SPD) die höchste Anzahl von
       Personenstimmen erhalten, obwohl er mit Listenplatz 1 ohnehin ein sicheres
       Mandat innehatte. Was ist denn mit den über 140.000 Stimmen passiert, die
       für ihn abgegeben wurden? 
       
       85 Prozent aller abgegebenen Personenstimmen kamen nicht denjenigen zugute,
       für die sie bestimmt waren. Die Stimmen für Herrn Böhrnsen haben für ein
       prima Ergebnis bei der SPD gesorgt, hatten aber auf seine Wahl null
       Einfluss.
       
       Manche Kandidaten mit wenigen Personenstimmen haben ein Mandat erhalten und
       andere keins, obwohl sie mehr Stimmen bekommen haben – wie kann das sein? 
       
       Wenn, wie bei der SPD, 50 Prozent der Stimmen als Personenstimmen und 50
       Prozent als Listenstimmen abgegeben worden sind, dann werden die Mandate 50
       zu 50 aufgeteilt. Bei der SPD gab es einen hohen Anteil an
       Personenmandaten. Bei anderen Parteien wurden weniger Personenstimmen
       abgegeben, und da hat sich die Anzahl der Listenmandate erhöht. Dort
       bekamen Kandidaten dann kein Mandat, obwohl sie mehr Personenstimmen
       erhalten haben als zum Beispiel ein Kandidat der SPD.
       
       Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass bei einer Wahl ersichtlich sein
       muss, „wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der
       Wahlbewerber auswirken kann“. Wie geht das mit der Unübersichtlichkeit
       dieser „Fremdverwertungen“ von WählerInnenstimmen zusammen? 
       
       Wahlsysteme sollen durchschaubar sein, und diese Transparenzforderung ist
       hier nicht in ausreichendem Maße gegeben. Das kollidiert durchaus mit den
       Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts. Man muss aber auch sagen: Kein
       Wahlsystem stellt hundertprozentig sicher, dass der Wähler weiß, was er mit
       seiner Stimme bewirkt. Wenn ich eine starre Parteiliste wähle, weiß ich
       auch nicht, ob der Kandidat auf Platz 27 das Mandat bekommt oder ob ab
       Platz 25 Schluss ist. Über dem Wahlvorgang liegt also immer ein gewisser
       Schleier der Ungewissheit. Aber beim neuen Wahlrecht haben viele Menschen
       gedacht, dass sie mit ihrer Personenstimme wirklich etwas bewegen können.
       Schaut man sich aber das Wahlergebnis an, stellt man fest, dass der letzte
       Personenmandatsinhaber der SPD mit nur 0,25 Prozent aller abgegeben
       Personenstimmen ein Mandat bekommen hat. Da ist eine sehr starke
       Disproportionalität gegeben, die dem Anspruch, eine Personalisierung zu
       bewirken, nicht gerecht wird. Und: Das Transparenzgebot wird verletzt, denn
       das ist für den Wähler nicht mehr durchschaubar.
       
       Wie ließe sich das Wahlrecht korrigieren? 
       
       Die radikalste Methode wäre: Man vergibt die Mandate nur noch nach
       Personenstimmen. Das wäre ein transparentes Verfahren. Das Problem wäre
       allerdings, dass Parteien, die ja personenunabhängig auch für Programme
       stehen, dabei im Grunde überflüssig würden. Eine weitere Möglichkeit wäre
       die niedersächsische Variante, in der erst die Personen- und dann die
       Listenmandate vergeben werden. Dann gäbe es allerdings weniger
       Personenmandate, das heißt: Die Wirkung der Personalisierung wäre nicht
       mehr so groß. Oder aber man setzt ein Quorum fest, indem man sagt: Ein
       Kandidat muss eine Mindestanzahl Stimmen erhalten, um ein Personenmandat zu
       erhalten. Das wäre transparenter für die Wähler, und das wäre auch ein
       Ansporn für die Kandidaten.
       
       Und was wäre mit der Möglichkeit, zurückzukehren zum alten Wahlsystem? 
       
       Nein, das wäre nicht gut, denn damit würde man ein Volksbegehren quasi
       rückgängig machen. Außerdem halte ich eine Personalisierung für sinnvoll,
       das sollte man unbedingt beibehalten. Aber das Wahlrecht sollte so
       verbessert werden, dass es transparent wird für die Wähler und dass sie
       wissen, was sie mit ihrer Stimme bewirken.
       
       29 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schnase
       
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