# taz.de -- Geräuschkulisse in Schulen: Lärm stört beim Lernen
       
       > Kinder und Lehrer leiden unter dem Lärm in den Klassenzimmern. Eine
       > Grundschule zeigt, wie man architektonisch und pädagogisch leiser werden
       > kann.
       
 (IMG) Bild: Einmal eingeschult, beginnt der Lärm.
       
       BERLIN taz | Um 8.30 Uhr ist es noch still bei den Füchsen der
       Nürtingen-Schule. Im Schuhschrank stehen 25 Paar pinkfarbene Filzpantoffeln
       neben Crocs und Klettpuschen. An den Wänden hängen Origami-Bilder.
       
       Die Fuchs-Klasse 123 F lernt jahrgangsübergreifend – acht Erstklässler,
       zehn Zweitklässler und sieben Drittklässler bilden eine Klasse an der
       Montessori-orientierten Grundschule in Berlin-Kreuzberg. Kinder mit
       verschlafenem Blick schlüpfen aus den Straßenschuhen in die Puschen.
       Zwanzig Stimmchen flirren durch den Raum, als Susanne Bähr eintritt.
       
       Die Kinder scharen sich um ihre Klassenlehrerin. Und dann geht’s los: „Frau
       Bähr, schreiben wir heute den Mathetest?, „Frau Bähr, machen wir
       Weitsprung?“, „Und wenn es regnet, gehen wird dann trotzdem raus zum
       Sport?" - „Eins nach dem anderen“, sagt Susanne Bähr.
       
       In den letzten zwanzig Jahren ist es in den Schulen lauter geworden. Viel
       lauter. Die meisten Unterrichtsräume sind immer noch darauf ausgelegt, dass
       der Lehrer die zentrale Geräuschquelle ist. Aber durch moderne
       Unterrichtsformen wie Gruppenarbeit, jahrgangsübergreifendes Lernen oder
       Freiarbeit entsteht ein Geräuschteppich, der sehr nervenaufreibend sein
       kann.
       
       ## Klassenlärm führt zu Schlafstörungen
       
       „Außerdem ist der effektivste Schallabsorber des 19. Jahrhunderts nicht
       mehr im Einsatz.“ Der Arbeitswissenschaftler Gerhart Tiesler vom Bremer
       Institut für interdisziplinäre Schulforschung meint damit – den Rohrstock.
       Er steht als Symbol für die unbedingte Autorität des Lehrers. Die gilt
       schon lange nicht mehr. Zum Glück.
       
       „Schulen, die heute Kinder unterschiedlicher Altersklassen, sprachlicher
       Herkunft und mit und ohne Behinderung unter einen Hut bringen sollen,
       müssen sich verändern“, sagt Tiesler.
       
       Das heißt: Auch die Klassenzimmer und Flure müssen akustisch besser werden.
       Die durchschnittliche Lautstärke in deutschen Klassenzimmern beträgt 65 bis
       70 Dezibel – das ist ungefähr so laut wie ein Staubsauger in einem Meter
       Entfernung. Das ist zwar nicht gehörschädigend, doch die diffusen Geräusche
       im Schulalltag führen auf Dauer zu Konzentrations- und Schlafstörungen.
       
       Und sie behindern das Lernen der Kinder erheblich. Laut dem
       Arbeitswissenschaftler Tiesler schneiden Grundschüler bei Gedächtnisübungen
       rund 25 Prozent schlechter ab, wenn es im Hintergrund unruhig ist. In
       schlimmen Fällen könne konstanter Lärm sogar den Herzkreislauf stören.
       
       Diese Auswirkungen seien zwar genug bekannt und leicht nachweisbar. Das
       Problem, so Tiesler: Nur wenige Schulen gehen das Lärmproblem konsequent
       an. „Dabei ist die gefühlte Ohnmacht ein Irrtum, die Qualität des
       Unterrichts leidet oft unnötig.“
       
       ## Die Kinder wollten eine Dschungel-Schule
       
       Im Klassenraum der 123F ist es trotz der vielen durcheinander wirbelnden
       Stimmen nicht laut. Die Nürtingen-Grundschule, ein rotes Backsteingebäude
       der Jahrhundertwende, wurde vor fünf Jahren umgebaut und saniert – mit dem
       Ziel, reformpädagogische Ansätze und Raumakustik bestmöglich zu verbinden.
       
       Katharina Sütterlin hat 2007 den Umbau mit angestoßen. Ihr Sohn war dort
       Schüler, und die Architektin hatte das Gefühl, dass die Schule offen für
       Veränderungen war. „Die Schule war damals im Umbruch, viele Lehrer haben
       sich für das Montessori-Konzept interessiert.“ So reichte sie einen
       Bauvorschlag ein, sammelte Geld – und bekam Fördermittel in Höhe von
       500.000 Euro von der EU-Initiative „Soziale Stadt“.
       
       Die Nürtingen-Schule beteiligte Kinder und Lehrer direkt am Umbau. „Die
       Entscheidungen kamen nicht von oben, die Kinder durften mitbauen“, erinnert
       sich Sütterlin. Eine Dschungel-Schule „mit mehr Grün, mehr Pflanzen und
       mehr Platz“ wollten die 400 Kinder, berichtet sie. Die Flure sind deshalb
       schulterhoch moosgrün gestrichen.
       
       ## Faserplatten, Schaum und Gips machen die Schule ruhiger
       
       Und die insgesamt 16 Klassen sind so eingerichtet, wie Kinder und Lehrer es
       sich wünschen – mit Leseecken, Emporen, und Sitzkreisen, an denen die
       Kinder im Stehen, Liegen und im Sitzen arbeiten können.
       
       Alleine die Umgestaltung des Raumes hat die Lautstärke verringert. „Ich
       versuche gar nicht mehr, über die Stimmen der Kinder hinwegzureden“,
       beschreibt Bähr die Änderung des Unterrichts. „Ich muss ja nicht, wie im
       Frontalunterricht, alle auf einmal erreichen.“
       
       Stattdessen kann sie in der Einzelberatung der Freiarbeitsphase sehr leise
       sprechen. „Sobald ich lauter werde, werden auch die Kinder lauter – deshalb
       versuche ich das bewusst zu kontrollieren. Das würde meine Stimme sonst gar
       nicht aushalten“, sagt die Lehrerin.
       
       Durch Materialien wie Faserplatten, Schaum und Gips werden hallende Gebäude
       wie die Nürtingen-Grundschule ruhiger. In den Klassen und Fluren sind in
       Kopfhöhe und an den Decken Akustikabsorber befestigt – rechteckige weiße
       Platten, welche die Nachhallzeit eines Raums durchschnittlich halbieren
       können.
       
       ## „Ohne Akustik geht gar nichts“
       
       Die Nachhallzeit steht für den Zeitraum, in denen der Widerhall
       gesprochener Worte von Decken und Wänden dringt und nachfolgende Worte
       stört. Im Idealfall beträgt die Nachhallzeit höchstens eine halbe Sekunde –
       selbst dann erreichen Studien der Universität Edinburgh zufolge nur etwa 60
       Prozent der Lerninhalte das Schülerohr.
       
       Bernd Lehming, Experte für Klassenzimmerakustik bei der Deutschen
       Gesellschaft für Akustik, schätzt den Lärmdurchschnitt in Klassenzimmern
       ohne Lärmsanierung jedoch auf das Dreifache des Idealfalls. Zu hoch.
       
       Wie sehr die Akustik-Absorber den Nachhall in der Nürtingen-Grundschule
       verringern, hört man erst in den unsanierten Fluren. Ein Stockwerk höher
       über der Klasse 123F öffnet Architektin Sütterlin die Glastür zu einem
       Gang, der nicht umgebaut wurde.
       
       Sofort verändert sich die Lautstärke: Als Sütterlin in die Hände klatscht,
       wabert der Knall im Gang, jeder Schritt hallt nach. „Bei dem Projekt habe
       ich wirklich gelernt, dass ohne Akustik gar nichts geht“, sagt sie im
       Rückblick. Die Lautstärke in einem Klassenraum sinkt, physikalisch gesehen,
       durch die Akustik-Absorber um etwa 3 Dezibel.
       
       ## Um 13 Dezibel
       
       Doch zusätzlich reden auch die Schüler leiser, weil sie merken, dass sie
       nicht mehr so schreien müssen, sagt der Bremer Schulforscher Gerhart
       Tiesler. Insgesamt verringerte sich die Lautstärke in den
       Gruppenarbeitsphasen in Tieslers Untersuchungen um 13 Dezibel – das ist gut
       ein Fünftel des durchschnittlichen Schallpegels in Klassenräumen.
       
       „Die zusätzlichen zehn Dezibel bekommen sie bei einer Sanierung praktisch
       geschenkt, allein über eine Veränderung des Verhaltens“, sagt der Forscher.
       Doch auch die Pädagogik ist gefordert. Das heißt zum Beispiel, wie Tiesler
       beschreibt: Alle Schüler kennen die gemeinsam entwickelten Regeln gegen
       Lärm, es gibt feste Ruherituale wie Stuhlkreise oder Handzeichen, und jeder
       Lehrer verfährt gleich konsequent, wenn Schüler gegen die Regeln verstoßen.
       
       Die Grundschüler der Kreuzberger Nürtingen-Schule haben in ihrem
       Schülerparlament eine Hausordnung aufgestellt, die in der Tür der Klassen
       hängt. In der Klasse 123F gibt es verschiedene Zeichen für Ruhe. Nachdem
       die Kinder morgens alle angekommen sind, schlägt Susanne Bähr einen Gong
       und hebt ihren rechten Arm, streckt den Zeigefinger nach oben, den linken
       Zeigefinger legt sie auf den Mund.
       
       Die Schülerinnen und Schüler bleiben stocksteif stehen – als hätte jemand
       die Musik beim Stopptanz ausgestellt. Dann imitieren sie die Bewegung der
       Lehrerin; 25 Zeigefinger recken sich nach und nach in die Höhe. Die Klasse
       verstummt in wenigen Sekunden.
       
       ## Der Umbau eines Klassenraums kostet 3.000 Euro
       
       Erst als keiner mehr tuschelt, verteilt Susanne Bähr die Aufgaben: Drei
       Schülerinnen sollen in Stillarbeit Mathematik machen, andere sollen die
       Filzherzen, die Muttertagsgeschenke, zu Ende sticken. Die Mädchen Nihan,
       Rosalie und Minori setzen sich an die Gruppenarbeitstische – und schnappen
       sich drei blaue Bauarbeiter-Kopfhörer.
       
       Nihan aus der ersten Klasse rechnet. Mit dem Zeigefinger zählt sie die
       schwarzen Punkte auf den beiden Würfeln und brummelt leise die Antworten
       vor sich hin. Die Kopfhörer trägt sie nur, wenn sie es zu laut findet. „Der
       nervt auch manchmal – guck, das rutscht nach vorne“, zeigt Nihan.
       
       Warum bauen sich nicht alle Schulen ohrenschonend um? Weil es sich viele
       Kommunen einfach nicht leisten können – die schallgedämpfte Berliner
       Grundschule hat zum Beispiel 1,5 Millionen Euro gekostet. Davon ging ein
       Drittel in die Akustik.
       
       Die Sanierung eines üblichen Klassenraumes kostet bis 3.000 Euro, schätzt
       Akustiker Bernd Lehming. Weitere Schwierigkeit: Bundesmittel gibt es nicht,
       allenfalls in Ausnahmefällen.
       
       ## Auf dem Hof dürfen Kinder laut ein
       
       Um 10.20 Uhr klingelt es. Pause. Die Kinder ziehen wieder ihre
       Straßenschuhe an, im Regal liegen nun die Puschen und Pantoffeln kreuz und
       quer. Die Kinder eilen die Treppe herunter, durch die offene Tür dringt
       bereits Hofgeschrei – die Kinder spielen Fußball, zwei Jungs raufen beim
       Klettergerüst, einer ruft „Ey, du hast als Erstes ’Verpiss dich‘ gesagt.“
       
       Maria aus der Klasse 123F sucht im Gebüsch nach Schnecken. Sie ruft „Ich
       habe was gefunden“ – und zeigt auf den Stock in ihrer Hand, eine Schnecke
       klebt auf einem Ast. Maria rennt zu den Tischtennisplatten, wo eine Gruppe
       Kinder Schnecken beobachtet. 20 Schnecken tummeln sich auf einem Haufen und
       kriechen übereinander weg.
       
       „Ihhhhhh“, schreien die Kinder. Maria sagt: „Schau – auf dem Hof dürfen wir
       halt so laut sein, wie wir wollen.“
       
       6 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) K. Grass
 (DIR) F. Weber-Steinhaus
       
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