# taz.de -- 279 Meter Fernsehturm: Der große weiße Bruder
       
       > Endlich mal eine Stelle, an der nichts passiert, in einer Stadt, die
       > alles zu verwerten sucht: Hamburgs Fernsehturm steht seit Jahren leer. Er
       > symbolisiert die Abwesenheit von Nützlichkeitsdenken und
       > Geschäftsmäßigkeit - und ist umso dringender erhaltenswert
       
 (IMG) Bild: Den Fortschrittsglauben, den er einmal verkörperte, haben die meisten von uns längst verloren: Hamburgs Fernsehturm
       
       HAMBURG taz | Es gibt viele Institutionen in dieser Stadt, die sich darum
       kümmern, dass der sprichwörtliche Rubel rollt, dass alle arbeiten und alles
       arbeitet: die Handelskammer, die FDP, das Hamburger Abendblatt, der Hotel-
       und Gaststättenverband, der Bund der Steuerzahler. Ihnen allen ist er ein
       Dorn im Fleisch: Wer nichts tut, soll auch nicht essen – und hat auch kein
       Recht, hier rumzustehen. Und er, er arbeitet nicht. Macht schon seit elf
       Jahren nix. Er verdient kein Geld, sondern kostet bloß. Wenn er könnte, wie
       er will, würde er vielleicht Pfandflaschen sammeln: Der Telemichel,
       offiziell Heinrich-Hertz-Turm, Hamburgs kleiner, langer, weißer, lieber,
       einsamer Fernsehturm.
       
       Keine Sau auf der Aussichtsplattform, vielleicht ein paar Tauben, aber das
       ist von unten schwer einzuschätzen. Das Drehrestaurant dreht sich schon
       lange nicht mehr, der Fahrstuhl fährt eh nicht – nichts los, auf 279 Metern
       Länge. Vorm Abriss retten ihn seine schiere Größe und der Denkmalschutz.
       Eigentümerin des Turms ist die Deutsche Telekom, würde sie darin die neuen
       Brandschutzbestimmungen umsetzen, würde das über zehn Millionen Euro
       kosten. Als Ole von Beust, CDU, noch Erster Bürgermeister war, erklärte der
       den Telemichel zur „Chefsache“, aber es ist nichts passiert. Nun ist im
       Rathaus ein neuer Chef da, und nichts passiert. Das ist schön. Endlich mal
       eine Stelle, an der nichts passiert. Im längsten Karton der Stadt – Ruhe.
       
       Der Telemichel ist wie der Finger eines Schülers, der sich aufgeregt
       meldet, und, als der Lehrer ihn endlich drannimmt, bleich wird und sagt:
       „Jetzt hab ich die Antwort vergessen.“ Er ist wie ein Pilz im Wald, der
       ungenießbar ist, aber alle anderen überragt. Wie ein Leuchtturm ohne
       Wasser. Ein ausgestreckter Mittelfinger über der Stadt, ein Mahnmal der
       Sinnlosigkeit, ja: ein Turm zu Babel – doch wo ist Babel? Ein langes
       Barthaar. Ein Stachel im Fleisch des Pfeffersacks. Der weiße Turm beim
       Schach, dem die anderen Figuren abhanden gekommen sind, vor allem die Dame.
       
       Ist kein Casino drin, kein McDonalds-Schnellrestaurant, kein
       Mövenpick-Hotel, so wie beim benachbarten alten Wasserturm. Keine Boutique,
       keine „Balzac Coffee“-Filiale, kein Budnikowski-Markt, kein „Dat Backhus“,
       noch nicht mal, wir sind in Hamburg, ein Puff. Nicht mal besetzen will ihn
       irgendwer: In der Debatte um fehlenden Wohnraum kommt er nicht vor. Ein
       Widerspruch in sich: Sinnlos steht er da – Glücksfall in einer Stadt, die
       gar nicht nach Sinn sucht. Sondern einen Investor.
       
       Es gibt einen Verein, der sich dafür einsetzt, ihn wieder nutzbar zu
       machen. Bloß nicht! Es gibt soziale Netzwerke, die gute Ideen haben – nein,
       danke! Er bleibt, wie er ist. Es gibt Tage, da sieht man ihm seine
       Verlegenheit an: darüber, dass die Stadt oben Geld in ihn rein steckt, und
       unten nichts rauskommt. Muss er aber gar nicht. Kopf hoch, Alter!
       
       Manchmal sieht er toll aus, wenn die Sonne aufgeht, Flugzeuge dran
       vorbeifliegen, wobei: Gut sieht er eigentlich immer aus. Weiß und schlank,
       hoch, so fragil und steht doch sicher. Auf nur einem Bein. Und oben drauf
       komisches Antennenzeug.
       
       Es gibt Leute, die in seinem Schatten wohnen, im Karolinenviertel, und,
       anders als wir, im Suff immer nach Hause kommen. Auch doppelt ist er nicht
       zu übersehen, der große weiße Bruder. Wie wäre es, drumherum eine Moschee
       zu bauen – und von der Aussichtsplattform den Muezzin rufen zu lassen,
       morgens, wenn die Sonne aufgeht. Ganz ruhig: nur Spaß. Nur ein Spaß! Um
       Gottes Willen.
       
       Ein Kirchturm ist er trotzdem, ohne Kathedrale: Er huldigt einer Zeit der
       Fortschrittsgläubigkeit, des immer weiter, immer höher, immer mehr Technik.
       Ein Glaube, der die meisten von uns verlassen hat. Umso mehr ist der Turm
       ein Ausrufezeichen, das uns erinnert.
       
       Der Telemichel ist ein 68er, und steht, wie alle 68er, unter Denkmalschutz.
       Es gab mal den Versuch, ihn zu Werbezwecken zu nutzen – prallte ab. Ein
       dänischer Architekt wollte ihn mit einem Hotel umgeben, schließlich wurden
       ja auch schon Häuser um Bäume gebaut. Der Däne kam auf diese Idee, weil die
       hässliche Alte, Bild, des Turms baldigen Zusammenbruch hatte errechnen
       lassen: „In 30 Jahren beginnt er zu bröckeln“, behauptete das Horn der
       Apokalypse. Lassen wir es drauf ankommen! Er würde auf die Messe bröckeln
       und damit wären mehrere Fliegen mit einer Klappe … Noch steht er ohnehin
       wie eine Eins. Der größte Schwanz der Stadt.
       
       Der große Junge an der Rentzelstraße ist nur er selbst. Eigentlich geht das
       nicht in der Stadt, die sich derart der protestantischen Ethik und dem
       Geist des Kapitalismus mehr verschrieben hat. Die Protestanten glauben ja,
       dass ihr Erfolg hienieden ein Indiz ist für ihre Auserwähltheit und ein
       prima Plätzchen im Himmel. Dahin kommt der Telemichel nie, auch da sind
       sich die Protestanten sicher, mit all seiner Faulheit. Wir, die wir ebenso
       wenig Chancen auf den Protestantenhimmel haben, wissen: Muss er auch gar
       nicht. An manchen Tagen ist er schon drin.
       
       29 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Roger Repplinger
       
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 (DIR) Fernsehturm
       
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