# taz.de -- Kolumne Blagen: Go West!
       
       > Die letzte Kolumne der Autorin Anja Maier: Denn ihre Einssechzigblondine
       > hat es ganz knapp geschafft.
       
       Ich hatte mir was Hübsches angezogen. Also hübsch in dem Maße, wie man es
       von einer Mittvierzigerin gerade noch erwarten kann. Auch der Vater hatte
       sich in seinen besten Anzug geworfen und die einzige Krawatte umgewürgt,
       die er besitzt. Die Schwester der Einssechzigblondine erschien im edlen
       Kostüm. Und die Abiturientin selbst?
       
       Schneite verkatert zwei Stunden vor ultimo ins Haus, duschte, lackierte
       sich alle zwanzig Nägel, malte ihr Alabastergesicht an, plättete sich das
       Haar und schmiss sich in ihr Abiballkleid sowie gesundheitsgefährdende
       Fünfzehn-Zentimeter-Stilettos. Und sie sah – trotz Schlafdefizits – einfach
       sensationell aus. So sind sie, die jungen Dinger.
       
       Los ging’s zum Abiball! Hundert hochschulreife Kleinstädterinnen und
       Kleinstädter waren gekommen. Im Schlepptau ihre Familien. Hochsteckfrisuren
       und Kleider wie Baisers auf der Damenseite. Gelfrisuren, schmal
       geschnittene Anzüge und weiße Hemdbrüste bei den Herren. So musste das
       sein. Ich rückte meinen Stuhl ganz dicht an den Kindsvater heran, weil mein
       Kleid keine Taschentüchertasche hatte.
       
       Vor der Bühne nahmen die Abiturienten Platz. Klassik erklang, der
       Schulleiter hielt eine Rede, danach wurden tutorienweise die Zeugnisse
       ausgegeben. Die Sache zog sich. Von meinem Platz aus sah ich zur
       Einssechzigblondine hinüber. Sie war schön und guckte konzentriert nach
       vorn, ihr Zeugnis würde als eines der letzten vergeben werden. Ich schaute
       sie an und dachte daran, wie nervenzerfetzend die letzten Monate gewesen
       waren, wie sehr wir uns gestritten hatten über
       Prüfungen/Ordnung/Zukunft/Deutsch-Punkte/Schimmelstullen/Zukunft/Geld/Mathe
       -Punkte/Mülleimer/Zukunft/Abi … Das waren Monate der Ablösung gewesen,
       Monate letzter hitziger Reibungen und Claim-Absteckungen. Immer mal wieder
       war es richtig laut geworden, auch bitter. Für alle Beteiligten. Nun also:
       Abitur, Ende der Debatten.
       
       Als ich sie schließlich zurückkommen sah von der Bühne, das Zeugnis und
       eine gelbe Rose in der Hand, stellte es sich als sehr klug heraus, in der
       Nähe der Taschentüchertasche geblieben zu sein. Meine Einssechzigblondine
       hatte es tatsächlich noch hingekriegt mit ihrem Abi! Knapp, aber danach –
       das hatten mir Verwandte und Freunde versichert – „fragt später keiner“.
       Die Jahrgangsbesten hielten die Jahrgangsbestenrede. Dann: Klassik. Dann:
       der Schulchor. Absurderweise stimmten die Sänger den Pet-Shop-Boys-Hit von
       1993 „Go West!“ an – und das hier, kurz vor Polen! Schließlich Applaus,
       Ende.
       
       Ein großes Gedränge setzte ein. Die frisch beurkundeten Abiturienten
       strebten ihren Vätern und Müttern entgegen. Es wurde geherzt und geküsst,
       Handyfotos wurden geschossen, Blumensträuße und Geldkuverts wechselten die
       Besitzer. Irgendwo da, in diesem hundertfachen Gewimmel, musste unsere
       Einssechzigblondine stecken.
       
       Wo blieb sie? Der Vater und ich machten uns auf die Suche. Wir fanden sie
       dann am Getränkestand. In der Linken hielt sie eine Zigarette, ihr
       wertvolles Zeugnis lag auf dem Tresen. Die Einssechzigblondine lächelte ihr
       sensationell subersives Lächeln, sie öffnete die Arme und sagte: „Jetzt
       aber nicht heulen, Mama!“ Sehr komfortabel, dass wegen der Absätze ihre
       Schulter genau da war, wo ich mein Gesicht vergraben konnte. Und dann gab’s
       Schnaps und Küsse. Unsere Zeit ist um.
       
       2 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
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