# taz.de -- Niederländisch-israelisches Theater: Persönlicher Nahostkonflikt
       
       > Wo beginnt Antisemitismus, wo Nationalismus? Das sind die Themen des
       > jungen niederländisch-israelischen Theatermachers Ilay den Boer.
       
 (IMG) Bild: Vater und Sohn auf der Bühne: Gert und Ilay den Boer.
       
       Eine dunkle Bühne, im Hintergrund eine Art Schrankwand, schwarz gestrichen,
       einige Türen darin offen. Zwischen ein paar herumliegenden Requisiten – ein
       hakenkreuzbeschmierter Grabstein, eine halb verbrannte Israelfahne, einige
       Neonazi-Pappkameraden – steht Ilay den Boer und zwingt seinen Vater, ihm
       die Worte „fucking dirty jew“ entgegenzubrüllen; er zieht seine Kleider aus
       und überschüttet sich mit kaltem Wasser.
       
       Weil genau das eine Gruppe von Jungen mit ihm gemacht hatte, damals im
       Winter, als Ilay gerade 14 war. Und weil sein Vater seine Wut und seine
       Angst nicht verstanden hatte.
       
       Die seelische Narbe gibt den Handlungsrahmen für das Bühnenstück vor, die
       Auseinandersetzung mit dem Jüdischsein das Konzept: Der 26-Jährige den Boer
       macht sie an seiner Familiengeschichte fest und breitet diese vor dem
       Publikum aus, manchmal lustig, meist beklemmend; oft emotional und immer
       anders. Sechs Teile soll den Boers Performancereihe „The Promised Feast“,
       das „gelobte Festmahl“, einmal umfassen.
       
       Zum Auftakt der Reihe im Jahr 2008 war der Titel wörtlich zu nehmen, als er
       im Stück „Bon Appetit“ seine eigene Bar-Mizwa inszenierte, die Zuschauer
       mit einem Abendessen inklusive Wein bewirtete und ihnen Rollen zuwies: die
       grantelige Großmutter, der trinkfeste Onkel, die Teenie-Cousine.
       
       ## Seine Bar-Mizwa
       
       Er sinnierte über seine Jugend, den seltsamen Nichtbezug zu seinen beiden
       Heimaten, Israel und den Niederlanden. Er ließ Gäste aus Briefen seiner
       israelischen Mutter vorlesen und tauschte sich mit ihnen aus, über Politik,
       Religion, Krieg. Über seine Enttäuschung, als er feststellte, dass sich das
       Lied, das er zum Motto seiner Bar-Mizwa gemacht hatte, weil er dachte, es
       würde eine Friedensbotschaft transportieren, sich genauso gut von
       militärischen Hardlinern in Israel instrumentalisieren ließ.
       
       Es ist die große Politik im Kleinen, der Nahostkonflikt innerhalb der
       eigenen Familie, dem der in Jerusalem geborene und in den Niederlanden
       aufgewachsene den Boer auf die Spur geht.
       
       Im zweiten Teil des Zyklus nahm er die Zuschauer mit auf eine Busreise –
       jene Reise, die eigentlich eine Flucht war und die seine Großmutter vom
       Ghetto in Litauen ins neu gegründete Israel führte. Den Boer versucht in
       seiner Rolle als Mitreisender nachzuvollziehen, wie aus ihr die hartleibige
       Zionistin werden konnte, die er kennen gelernt hatte. Und als er es
       tatsächlich zu verstehen begann – ebenso wie ein Teil des eher
       linksgerichteten Publikums, das „plötzlich Verständnis für hardcore-rechte
       Positionen aufbrachte“, wie er sagt –, drehte den Boers Freundin, die die
       Großmutter spielte, das Stück kurzerhand um.
       
       Sie sagte, dass sie gar nicht in dieses Land wolle, dass dieser Krieg nicht
       sein Krieg sei, dass sie die Verbindung zwischen israelischen Nationalismus
       und Auschwitz nicht begreife. Da sei das Publikum schockiert gewesen: War
       das jetzt nicht antisemitisch, ein bisschen zumindest?
       
       ## Der Eimer Wasser
       
       Und ist es nicht ganz zweifellos antisemitisch, einen jüdischen Jungen zu
       beleidigen und zu schikanieren? Ilay und sein Vater Gert kicken sich auf
       der Bühne einen Fußball zu; Ilay war in seiner Jugend ein
       vielversprechendes Torwarttalent. Bis zu dem Eimer Wasser. Danach hörte er
       auf zu spielen, trotz der Versuche des – nichtjüdischen – Vaters, ihn mit
       der Erklärung zu beruhigen, die Jungen, die ihn da so erniedrigt hatten,
       seien keine Antisemiten, nur „shitheads“.
       
       Ilay drohe in seiner Wut auf sie genauso zu werden wie jene Leute, die er
       verachte, wirft er ihm vor, und die so locker und witzig gestartete, aber
       längst gekippte Performance bleibt an der Frage hängen, wo Antisemitismus
       beginnt, ohne sie beantworten zu können oder dies auch nur zu wollen.
       
       In den Niederlanden hat Ilay den Boer Auszeichnungen für seine Stücke
       bekommen, er ist nach Brüssel, Zürich, Paris, Lyon damit eingeladen worden,
       in Deutschland zeigte er in Oldenburg, Ludwigsburg, Braunschweig und Essen
       Teile seines Zyklus.
       
       Es wirkt wie eine schon beinahe schmerzhafte Mischung aus Seelenstriptease
       und Selbsterfahrung, der sich der junge Theatermacher jedes Jahr ein
       bisschen mehr hingibt, aber den Boer weiß die Linie zwischen Performance
       und Privatem sehr genau zu ziehen. Es sei keine Selbsttherapie, die er
       betreibe; wäre eine solche nötig, würde er sich eher in Behandlung begeben,
       lacht er: „Ich mache bloß Theater.“
       
       ## Schauspiel und authentische Erzählung
       
       Theater, bei dem den Boer die Zuschauer nahe an sich und seine Familie
       heranlässt. Es sind Schauspiele, natürlich; aber es sind zugleich
       authentische Erzählungen, die weitgehend ohne dazuerfundene Elemente
       auskommen: Die Fotos, die er zeigt, sind echt, ebenso die Briefe, aus denen
       er vorliest und vorlesen lässt.
       
       Gert, der Ilay nach der Szene mit dem Wassereimer auf der Bühne liebevoll
       abtrocknet und um Verzeihung bittet, ist tatsächlich sein Vater; im fünften
       Teil, der im Juli Premiere hat, wirkt sein Bruder Anan mit, ein Musiker mit
       Drogenproblemen in Tel Aviv. Es geht dabei um Eskapismus, über das
       Weglaufen vor der eigenen Identität, über das die beiden hart
       aneinandergeraten.
       
       Antisemitismus, Zionismus, Krieg und Nation: Es ist ein großer Brocken, an
       den sich den Boer heranwagt, und einer, zu dem er keine Auflösung
       mitliefert, wie denn auch. Am Ende der Performancereihe soll kein Statement
       stehen, keine vorgefertigte Botschaft transportiert werden: „Mein einziges
       Ziel ist, kein Urteil abzugeben“, sagt den Boer.
       
       „Ich möchte nur sechs unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen
       bieten“, auf ein Thema, das sich ohnehin jedem Ausrufezeichen entzieht und
       das sich aufgrund seiner Emotionalität vielleicht auch nur emotional
       anfassen lässt, fernab der theoretisierenden Feuilletondebatten um
       Grass-Gedichte und Sarrazin-Eugenik. „Das Publikum durchschütteln“, wie er
       sagt: „Das ist die Macht, die das Theater hat.“
       
       Teil 5, „Broer“ (Brüder) wird am 7. Juli auf dem Amsterdamer „Over het
       IJ“-Festival uraufgeführt.
       
       8 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Maik Nolte
       
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