# taz.de -- Entdeckung des Higgs-Teilchens: „Der liebe Gott hält noch mehr bereit“
       
       > Steht uns eine supersymmetrische Spiegelwelt ins Haus? Der Fund des
       > Higgs-Teilchens könnte Vorläufer eines neuen physikalischen Kontinents
       > sein, sagt Physiker Thomas Naumann.
       
 (IMG) Bild: Ist das die supersymmetrische Spiegelwelt? Nein, nur das US-Kernforschungszentrum Fermilab.
       
       taz: Herr Naumann, hat die Menschheit mit der Entdeckung des
       Higgs-Teilchens Gott in die Karten geschaut? 
       
       Thomas Naumann: Auf eine poetische Art und Weise ist das sicherlich
       richtig. Aber als Naturwissenschaftlicher würde ich den Alten, wie Einstein
       Gott nannte, besser mal draußen lassen. Das war eine gewaltige technische
       Leistung, die man nüchtern bewerten muss.
       
       Dann ganz nüchtern: Ist das jetzt die epochale Entdeckung, auf die alle
       gewartet haben? 
       
       Da wird zwar ein großer Presserummel veranstaltet, ich bin aber eher
       zurückhaltend. Vergleichen Sie das mit der Expedition des Christoph
       Kolumbus. Die spanische Krone hat ihn losgeschickt, um den westlichen
       Seeweg nach Indien zu finden. Er hat seine Mission nicht erfüllt, sondern
       ein paar Inseln vor einem völlig neuen Kontinent entdeckt. Auch wir haben
       jetzt die Vorläufer eines völlig neuen physikalischen Kontinents entdeckt.
       
       Wie sieht der aus? 
       
       Wir haben über 50 Jahre das Standardmodell der Elementarteilchenphysik
       entwickelt. Das enthält die Bausteine der Welt und wie sie miteinander
       wechselwirken. Das Modell funktionierte mathematisch perfekt. Allerdings
       enthielt es logische Widersprüche. 1964 haben sechs Herrschaften, unter
       anderem Higgs, eine Lösung für dieses Problem gefunden: Es gibt etwas, das
       weder ein Baustein der Welt ist noch ein Kraftteilchen. Es ist ein Feld,
       das das ganze Universum erfüllt und allen Teilchen Widerstand bietet. Ein
       Abfallprodukt seiner Existenz ist das Teilchen, das wir jetzt
       möglicherweise entdeckt haben.
       
       Und dazu muss man 20 Jahre an einer Milliarden Euro teuren Maschine bauen? 
       
       Um dem Alten in die Karten zu schauen, schon. Im 19. Jahrhundert konnte man
       noch mit Konservendose und Bindfaden forschen. Wir untersuchen nun
       Phänomene, die sich eine Zehnmilliardstelsekunde nach dem Urknall
       abspielten, als Teilchen und Naturkräfte aus einem extrem heißen Universum
       quasi ausfroren.
       
       Werden sich Physiker in 200 Jahren über das, was wir da glauben gefunden zu
       haben, totlachen? 
       
       Zunächst sagt die Statistik: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen
       Messfehler haben, ist eins zu eine Million. Aber physikalische Statistik
       kann einem auch Streiche spielen. Wissenschaft ist keine Frage von Ja oder
       Nein, richtig oder falsch. Da muss die Presse eventuell ein Jahrelanges
       Jein ertragen. Aber wir glauben praktisch alle, dass der liebe Gott für uns
       nicht nur dieses eine Higgs-Teilchen bereithält. Wir erwarten, dass sich
       eine völlig neue Phänomenologie öffnet. Es könnte eine sogenannte
       supersymmetrische Spiegelwelt geben, mit Parallelteilchen zu allen
       Teilchen, die wir kennen.
       
       Sie sprechen von Antimaterie. Debattieren sie die philosophische
       Implikationen? 
       
       Nein, Antimaterie ist Alltag. Da muss ich nicht philosophieren, damit
       kalibriere ich schon heute meinen Detektor. Wenn wir in den Himmel blicken,
       dann können wir 90 Prozent dessen, was es gibt, weder sehen noch messen.
       Weil das Universum von dunkler Materie gefüllt ist, die wir nicht
       wahrnehmen können. Teilchen, die diese dunkle Materie bilden, suchen wir
       ebenfalls.
       
       Und das Higgs öffnet das Fenster in diese Erkenntniswelt? 
       
       Wir haben nur angefangen, unseren großen Stau an Theorien aufzulösen. Das
       ist nur der Beginn einer aufregenden Forschung. Wir müssen das Signal jetzt
       weiter bestätigen, da gibt es heimtückische Fallen, das ist Knochenarbeit
       von tausenden von Physikern. Dann müssen wir beweisen, dass sich dieses
       Teilchen verhält wie ein Higgs-Teilchen, das kann allerdings noch Jahre
       dauern.
       
       Kann man irgendwie abschätzen, was für technologische Möglichkeiten das
       eröffnet? 
       
       Das ist schwer. Als Michael Faraday Mitte des 19. Jahrhundert die Induktion
       entdeckte, hat das absolut keinen Menschen interessiert und verstanden hat
       es kaum jemand. Tatsächlich war sie die Grundlage der Elektrotechnik. Ein
       paar Jahre später hat Siemens Berlin elektrifiziert.
       
       „Gottesteilchen“ drückt eine fast religiöse Erwartung aus. Wie gehen sie
       damit um? 
       
       Das lehne ich ab. Viel mehr interessiert mich dabei die Einstein’-sche
       Frage: Hätte Gott die Welt auch anders erschaffen können?
       
       Und, hätte er? 
       
       Ja, sicher. Im Rahmen der Superstringtheorie kommen wir zu dem Schluss,
       dass es 10 hoch 500 Paralleluniversen geben könnte. Das ist eine 10 mit 500
       Nullen. Wir leben nur zufällig in einer lokal begrenzten Blase, in der wir
       13,6 Milliarden Lichtjahre überblicken. Weiter können wir nicht gucken. Das
       wahrscheinlichste und ästhetischste Universum ist eines, in dem sich
       Materie und Antimaterie gegenseitig vernichtet haben. Das wäre dann eine
       leere Lichtblase. Wir sitzen in einem perversen Sonderfall. Vermutlich,
       weil es eine spontane Symmetriebrechung im Higgs-Feld gab. Nur deshalb gibt
       es Teilchen, Atome, Chemie, Biologie und schließlich so was Komisches wie
       eine Menschheit, die über all das nachdenkt.
       
       Wann betrinken sich Physiker eigentlich? Heute? 
       
       Heute gab es Junge-Mädchen-Gekreische und Standing Ovations. Unsere
       Entdeckung ist ein wichtiger Meilenstein. Da kann man schon mal innehalten.
       
       4 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
       
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