# taz.de -- Debatte Armut: Gebot der Gerechtigkeit
       
       > Mehr Bildung und höhere Transfers allein werden die soziale Schere nicht
       > schließen. Es braucht mehr, um Umverteilung nach oben zu stoppen.
       
 (IMG) Bild: Die soziale Schere öffnet sich immer weiter, die Debatte darüber kommt langsam in Fahrt.
       
       Die Zahlen könnten eindeutiger kaum sein: In den 1990er Jahren haben die
       Mitglieder der obersten 10 Prozent unserer Gesellschaft rund 6-mal so viel
       verdient wie die untersten 10 Prozent. Heute liegt dieses Verhältnis bei 8
       zu 1. In Deutschland noch stärker konzentriert sind die Vermögen: In den
       letzten zehn Jahren ist nur der Vermögensanteil der oberen 10 Prozent der
       Bevölkerung gewachsen, und zwar auf zwei Drittel des Gesamtvermögens.
       
       Die gesellschaftliche Debatte über Reaktionen auf die sich immer weiter
       öffnende soziale Schwere gewinnt nun an Fahrt, doch zu wenig werden dabei
       die Veränderungen in der Wirtschaft berücksichtigt.
       
       Sehr präsent in der Diskussion ist die Tatsache, dass in den letzten
       Jahrzehnten die ausgleichende Wirkung des deutschen Steuersystems reduziert
       wurde. Diese Entwicklung kann und muss man korrigieren. Das ist auch die
       finanzielle Voraussetzung dafür, über öffentliche Güter und Transfers
       gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen zu können.
       
       Eine zweite, weniger beachtete Ursache der Ungleichheit liegt allerdings
       darin, dass sich die Markteinkommen selbst auseinanderentwickelt haben.
       Selbst bei konstanter ausgleichender Wirkung des Abgaben- und
       Transfersystems hätte es also eine Zunahme der Ungleichheit gegeben.
       
       ## Druck auf die Löhne
       
       In vielen Untersuchungen wurde die Tendenz zur sozialen Vererbung im
       deutschen Bildungssystem diagnostiziert. In der Korrektur dieses Phänomens
       muss deshalb ein politischer Schwerpunkt liegen.
       
       Doch die Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte kann den zu beobachtenden
       deutlichen Zuwachs an Ungleichheit nicht allein erklären. Hier lohnt ein
       Blick auf drei miteinander verbundene Entwicklungen in der Wirtschaft.
       
       Die erste ist die Europäisierung und Globalisierung, die – wenig
       überraschend – einen Druck auf die Löhne in bestimmten Sektoren ausgeübt
       hat. Sie geht einher mit einer Machtverschiebung am Arbeitsmarkt: In den
       letzten zehn Jahren ist der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen in
       Deutschland um 8 Prozent gesunken. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen sind
       innerhalb dieses Zeitraums also entsprechend gestiegen. Da Kapitaleinnahmen
       deutlich ungleicher verteilt sind als die Löhne der abhängig Beschäftigten,
       sorgt diese Entwicklung für eine Zunahme der Einkommensungleichheit. Wir
       brauchen deshalb einen gesetzlichen Mindestlohn, aber auch die Stärkung der
       Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen. Hinzukommen muss die
       Sicherstellung sozialer Mindeststandards im internationalen Handel.
       
       ## Kostgänger der Realwirtschaft
       
       Die zweite Entwicklung besteht in dem enormen Bedeutungszuwachs des
       Finanzsektors: Wenn der Finanzsektor zu groß wird, wird er vom
       Dienstleister der Realwirtschaft zum Kostgänger. Ein immer höherer Anteil
       der Gewinne einer Volkswirtschaft fällt dann bei wenigen Finanzinstituten
       an.
       
       So stieg der Anteil der Finanzbranche an den gesamten Unternehmensgewinnen
       in den USA von etwa 10 Prozent in den 1980er Jahren auf über 40 Prozent,
       obwohl nicht einmal 5 Prozent der Erwerbstätigen in der Finanzbranche
       arbeiten. Die Deregulierung der Finanzmärkte hat die Entstehung einer
       Kreditblase ermöglicht. Dieser steht ein entsprechender Aufbau von
       Geldvermögen gegenüber, weil jeder Schuldtitel des einen notwendigerweise
       ein Vermögenswert eines anderen ist. So sind Finanzkrisen zugleich
       Schulden- und Vermögenskrisen – und deswegen immer auch ursächlich
       verbunden mit einer Konzentration von Vermögen.
       
       Bürgerinnen und Bürger verlieren jährlich wegen schlechter Regulierung des
       Finanzmarkts 20 bis 30 Milliarden Euro ihrer Ersparnisse. Menschen aus der
       Mittelschicht, denen eine Schrottimmobilie aufgeschwatzt wurde, geraten in
       die Überschuldung. Doch Finanzinstitute haben an diesen Fällen verdient. So
       wirken entfesselte Finanzmärkte wie eine Umverteilungsmaschine – von unten
       nach oben. Bildungsausgaben und Transfers werden die Zunahme der
       Ungleichheit nur verhindern können, wenn auch diese Umverteilungsmaschine
       gestoppt wird.
       
       Die dritte Entwicklung ist eine in vielen Branchen zu beobachtende
       Marktkonzentration bei wenigen Unternehmen. Wichtige Märkte wie
       Wirtschaftsprüfung, Stromversorgung oder Pharma werden von wenigen großen
       Unternehmen dominiert. Machtkonzentration führt sowohl zu
       ungerechtfertigten Zusatzgewinnen als auch zu einem überproportionalen
       Einfluss auf die Politik: In vielen Branchen ist es leichter, über eine
       Gesetzesänderung die Gewinne zu erhöhen als durch zusätzliche Leistung im
       Sinne des Kunden.
       
       ## Strengere Regeln für Lobbyisten
       
       Besonders krass stellt es sich wiederum bei den Banken dar, die „too big to
       fail“ sind. Aufgrund ihrer impliziten Staatsgarantie erhalten sie ein
       besseres Rating und können sich günstiger refinanzieren als kleinere
       Wettbewerber. Laut einer Studie der Bank of England werden so weltweit die
       28 größten Banken mit jährlich 250 Milliarden Dollar subventioniert. Allein
       für die Deutsche Bank wird der jährliche Vorteil auf 1,6 bis 2,1 Milliarden
       Euro geschätzt.
       
       Zum Vergleich: Die Erbschaftsteuer korrigiert die Ungleichheit in einer
       Größenordnung von etwa 4 Milliarden Euro jährlich. Ich sehe deshalb eine
       besondere Aufgabe der Wirtschaftspolitik in der Korrektur der
       Verteilungsverhältnisse. Wir brauchen eine starke Wettbewerbspolitik, die
       Marktkonzentration über Fusionskontrolle und Entflechtungsgesetz
       verhindert, aber auch strengere Regeln gegen Lobbyeinfluss und
       Sonderrenditen.
       
       Die Verringerung von Ungleichheit ist bei alledem nicht nur ein Gebot der
       Gerechtigkeit. Sie ist, wie selbst vielen Vermögenden inzwischen klar wird,
       auch notwendige Voraussetzung einer stabilen Wirtschaft. Denn wenn die
       Schuldner ihre Kredite nicht mehr bedienen können, wenn der Renditeanspruch
       des Finanzsektors auf die Realwirtschaft zu groß wird, geraten die
       Vermögenswerte ins Rutschen.
       
       Wollen wir eine nächste Finanzkrise verhindern, dann bedarf es einer
       Wirtschaftspolitik, die diese Effekte verhindert.
       
       8 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerhard Schick
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Abstufung Deutschlands droht: Musterschüler mit ungewisser Zukunft
       
       Die Finanzmärkte reagieren kaum auf die Verwarnung Deutschlands durch die
       Ratingagentur Moody's. Höhere Zinsen drohen nicht. Was soll das dann?
       
 (DIR) Debatte Freiheitsbegriff: Der Kampf um Freiheit
       
       Die Konservativen haben den Freiheitsbegriff geklaut. Die Progressiven
       haben es ihnen nicht eben schwer gemacht. Nun sollten sie ihn sich jetzt
       schleunigst zurückholen.