# taz.de -- Sachbuch über Wittenberges Schrumpfen: Zitadellenfamilien nehmen Abschied
       
       > Wittenberge steht synonym für die Folgen von Deindustralisierung und
       > Fragmentierung. Ein Sachbuch über schrumpfende Regionen nimmt die Stadt
       > in den Fokus.
       
 (IMG) Bild: Leerstand als Regelfall: Wittenberge.
       
       Es ist wie eine Obduktion: Von außen und innen wird ein sehr genauer Blick
       geworfen, jede Veränderung wird präzise freigelegt, beschrieben und
       dokumentiert. Auf dem Obduktionstisch liegt eine Stadt: Wittenberge. Die
       Einwohnerzahl der ehemaligen Industriestadt im ostdeutschen Landkreis
       Prignitz an der Elbe hat sich nach 1990 nahezu halbiert, auf 19.000.
       Seitdem sind 7.500 Arbeitsplätze verloren gegangen, die Stadt kämpft um
       ihre Existenz.
       
       Es gibt kein Krankenhaus mehr, am Gymnasium wird so gut wie jeder Schüler
       genommen, Location Scouts freuen sich über morbide Filmkulissen. Soziologen
       sprechen von Unbehaustheit, ungesicherten Zwischenräumen, prekären
       Randlagen, belasteten Beziehungen. Was macht solch eine Abwärtsentwicklung
       mit einem Ort und den Menschen?
       
       Über kein sozialwissenschaftliches Projekt der letzen achtzig Jahre ist so
       viel berichtet worden wie das, das Soziologen, Ethnologen und
       Theaterschaffende von 2007 bis 2010 in Wittenberge durchgeführt haben.
       Unter dem sperrigen Namen „Social Capital im Umbruch europäischer
       Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen“ sind sie durch
       Interviews und Beobachtungen „ins Innere einer sich rapide verändernden
       Stadtgesellschaft“ vorgedrungen.
       
       Sie wollten herausfinden, wie die Menschen mit dem Wechsel vom Sozialismus
       zum Kapitalismus umgehen, welche Überlebensstrategien sie entwickeln,
       welche Bedeutung Familie, Gemeinschaft, Selbsthilfe und charismatische
       Personen haben. In mehreren lokalen Foren wurden die Ergebnisse
       vorgestellt. Vier Theaterstücke wurden über Wittenberge geschrieben, die am
       Berliner Maxim-Gorki-Theater aufgeführt wurden, eins auch im Kultur- und
       Festspielhaus Wittenberge.
       
       ## Von Rumänien bis Pirmasens
       
       In dem 2011 erschienenen Buch „ÜberLeben im Umbruch“ wurde das Experiment
       beschrieben. Nun ist im Christoph Links Verlag das Buch „Wittenberge ist
       überall“ erschienen, das das „Überleben in schrumpfenden Regionen“ auf Orte
       in Rumänien, der Türkei, Norwegen, Schweden, Belgien und auf Pirmasens in
       Rheinland-Pfalz ausweitet. Allen ist gemeinsam, dass sie ihren
       „industriellen Kern“ verloren haben.
       
       Die Forschungen in Wittenberge haben die Soziologen „eine genauere
       Bestimmung des Konzepts der sozialen Fragmentierung“ gelehrt, schreibt der
       Soziologe Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung, der
       „ÜberLeben im Umbruch“ mit herausgegeben hat und einer der Autoren in
       „Wittenberge ist überall“ ist. „Sie geschieht nicht nur zwischen Regionen
       und Agglomerationen, sondern innerhalb eines Ortes von heute 19.000
       Einwohnern.“
       
       Während die lokale Elite aus Bürgermeister, Sozialverwaltung und
       Vorzeigeunternehmen immer neue Expertisen für Projekte erstellen lässt, um
       die Abwanderung doch noch zu stoppen, scheint die Bevölkerung davon
       unberührt. Herausgeber Andreas Willisch schreibt über die Perspektiven:
       „Vielleicht müssen die Wittenberger selbst entscheiden, ob sie eine
       Autobahn brauchen oder alle ihre Dächer mit Solaranlagen bestücken und für
       die Wärme selbst sorgen wollen.“ Eine öffentliche Diskussion würde, „egal
       wie eine solche Entscheidung ausfiele“, die Bürgergesellschaft stärken,
       „weil Perspektiven aktiv verhandelt würden“.
       
       Am Ende des Buches erklärt ein Glossar regionale Besonderheiten der
       beschriebenen Orte. Es reicht von der „Avantgarde des Rückzugs“ bis zu
       „Zitadellenfamilien“, die sich vom städtischen und nachbarschaftlichen
       Leben abgewendet haben.
       
       Die Soziologen haben über Wittenberge, dessen Nähmaschinenwerk einst das
       modernste Europas war, Erstaunliches herausgefunden: „Es ist der Abschied
       von der Bonner Republik, erzählt aus der Perspektive einer Stadt, die diese
       Bonner Republik nie kannte und dennoch exemplarisch für ihre Verabschiedung
       steht.“
       
       Andreas Willisch (Hg.): „Wittenberge ist überall. Überleben in
       schrumpfenden Regionen“. Ch. Links Verlag, Berlin 2012, 328 Seiten, 19,90
       Euro
       
       12 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Bollwahn
       
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