# taz.de -- Indische Literatur: Vom Leben in einer Limonadenflasche
       
       > Chandrahas Choudhury gehört zur jungen Generation von indischen
       > Intellektuellen, die global denkt und fühlt. Jetzt ist sein Debütroman
       > ins Deutsche übersetzt worden.
       
 (IMG) Bild: Das Kino ein Ort, wo auch der Zuschauer sich größer fühlt: Mural des kürzlich verstorbenen Bollywood-Stars Rajesh Khanna.
       
       Wie fühlt es sich an, ein Zwerg zu sein? Es ist ein ungewöhnliches
       Gedanken- und Gefühlsexperiment, das der indische Autor Chandrahas
       Choudhury in seinem charmanten Debütroman „Arzee the Dwarf“ anstellt.
       
       Für die deutsche Ausgabe ist man auf den niedlich-exotisierenden Titel „Der
       kleine König von Bombay“ verfallen. Ärgerlich, denn Arzee der Zwerg ist ein
       Protagonist, der es verdient hat, dass man ihn in seiner Kleinheit ernst
       nimmt.
       
       Wie kommt man überhaupt auf so eine Hauptfigur? „Mir ist eines Tages ein
       Kleinwüchsiger auf der Straße aufgefallen“, erzählt Choudhury, der zu einer
       Lesung nach Berlin gekommen ist. „Ein junger Mann, der eigentlich sehr gut
       aussah. Nur war er eben ein Zwerg.“ Da habe in seinem Kopf ein Prozess
       eingesetzt. Es sei der Wunsch entstanden, verstehen zu wollen, wie sich das
       anfühlen mag.
       
       „Ob nicht für jemanden, der so klein ist, es eine Art Verhöhnung des
       Schicksals sein muss, wenn man auch noch gut aussieht. Vielleicht will man
       ja gar kein schönes Gesicht haben? Vielleicht will man am liebsten
       überhaupt nicht angesehen werden?“
       
       ## Als Flasche verkleidet
       
       Arzee ist ein junger Mann, der als Filmvorführer in einem alten Kino in
       Bombay arbeitet. Es geht ihm soweit gut, abgesehen davon, dass er eine
       unglückliche Liebe mit sich herumschleppt, was der Roman aber erst so nach
       und nach aufdeckt.
       
       Zunächst ist es Unglück genug, als Arzee erfahren muss, dass das Kino
       geschlossen werden und er seinen Arbeitsplatz verlieren soll. Sein
       Bekannter Deepak, ein windiger Typ mit Verbindungen zur Mafia, vermittelt
       ihn in einen Job, bei dem Arzee als Flasche verkleidet für ein
       Limonadengetränk Werbung machen muss. Da er Schulden bei Deepak hat, kann
       er nicht ablehnen.
       
       Doch in der tiefsten Krise zeigt sich, wer echter Überlebenskünstler ist.
       Arzee erkennt, dass sich sogar aus dem miesen Werbeflaschenjob noch ein
       gewisses Vergnügen ziehen lässt, wenn er ihn denn gut macht. Und so wird
       der vorübergehend Gescheiterte allmählich zu einem Survival-Helden mit
       hohem Identifikationspotenzial. Man begleitet ihn durch die Talsohle seiner
       Niedergeschlagenheit.
       
       Und man ist dabei, wenn er wieder beginnt, Mut zu fassen. Dem zweifelhaften
       Deepak gegenüber entschieden aufzutreten. Freundschaft zu schließen, wenn
       auch nur von fern, mit der blinden Tochter seines Vorgesetzten Phiroz. Und
       sich generell nicht vom Leben unterkriegen zu lassen. Darin ist Arzee ein
       großartiges Vorbild, und dass er irgendwie zu klein ist, ist ein zwar
       wichtiger, aber eben doch nur ein Aspekt seiner Person, der die wirklich
       existenziellen Dinge nicht überlagert.
       
       Choudhurys Roman spielt in Bombay, aber das auf ebenso unprätentiöse Weise,
       wie die Hauptfigur kleinwüchsig ist. Auch die Stadt wird nicht ausgestellt.
       Arzee besucht weder den Strand noch andere Sightseeing-trächtige Orte,
       sondern lebt in dem überschaubaren Radius, in dem man eben lebt. Das alte
       Kino, ein Einkaufszentrum, die Wohnung von Arzee und seiner Mutter, die
       Chawls, wie in Indien die typischen vier- oder fünfstöckigen Mietskasernen
       genannt werden, in denen auch Phiroz und Deepak leben – das sind die Orte,
       von denen Arzees Existenz bestimmt wird. Kammerspielartig ist auch die
       Konzentration der Story auf recht wenige Charaktere. Die aber geben einen
       bunten Querschnitt der Gesellschaft wieder.
       
       ## Jeder Autor ist Übersetzer
       
       Welche Sprache würden all diese Leute im multikulturellen Bombay
       miteinander sprechen? Doch kein Englisch, wie in Choudhurys auf Englisch
       geschriebenem Roman? Der Autor grinst. Dann holt er zu einer längeren
       Erklärung aus. Arzee sei ein Hindi-Sprecher, erläutert er, beziehungsweise
       ein Sprecher jener Art von Hindi, wie es in Bombay gesprochen werde.
       
       Der Parse Phiroz und seine Tochter sprächen untereinander sicherlich
       Gujarati. Arzees Geschäftspartner Deepak sei – an der Art, wie dessen Frau
       sich kleide, und vielen anderen Kleinigkeiten – für indische Leser leicht
       als Marathi-Sprecher zu erkennen. „Jeder indische Autor ist beim Schreiben
       gleichzeitig Übersetzer. Es gibt viele linguistische Welten in Indien, und
       das Englische als Literatursprache bildet für sie alle einen Rahmen.“
       
       Choudhury selbst bezeichnet das Englische als seine Muttersprache. „Die
       Sprache meiner Eltern ist allerdings Oriya, das im Bundesstaat Orissa im
       östlichen Indien gesprochen wird.“ Aber dort habe er nur die ersten drei
       Jahre seines Lebens verbracht. „Ich spreche, schreibe und denke auf
       Englisch, so weit ich mich zurückerinnern kann“, sagt der 32-Jährige, der
       in Großbritannien und Indien Literaturwissenschaft studiert hat. Heute lebt
       er halb in Bombay, halb in Delhi. Seine Freundin, eine dänische Lyrikerin,
       wohnt in Kopenhagen.
       
       ## Allgemeinmenschliche Comédie humaine
       
       Vielleicht liegt es auch an dieser völlig selbstverständlichen
       Globalisiertheit einer jüngeren Autorengeneration, dass Choudhurys Roman so
       wenig auf das „Indische“ seiner Geschichte abhebt, sondern sie als
       allgemeinmenschliche Comédie humaine mit melodramatischem Einschlag
       erzählt, die zufällig in Bombay spielt. Durch das urbane indische Setting
       aber werden bestimmte Themen automatisch wichtig, wie etwa die Rolle der
       Religionszugehörigkeit als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal. Arzee
       verliert seine große Liebe nicht etwa aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit,
       sondern weil sie als Christin keinen Hindu zum Freund haben darf.
       
       Sehr oft sei er auch auf die Rolle des Kinos im Roman angesprochen worden,
       sagt Choudhury. Und dabei habe ihm eigentlich nichts ferner gelegen, als
       eine Hommage an das Bollywood-Kino abzuliefern. „Es gibt sehr wenige Bezüge
       zu realen Filmen im Roman. Das Kino ist hier vor allem ein Ort der Magie
       und der Träume. Und für Arzee ist es eine Art zweiter Körper. Ein Körper,
       der ihn größer macht.“
       
       Auf die Anmerkung, dass sein Roman so szenisch geschrieben sei, dass man
       ihn sich sehr gut als Film vorstellen könnte, antwortet er mit
       Kopfschütteln. „Das hat man mir schon oft gesagt“, sagt der Autor, und es
       freue ihn natürlich. „Aber kein einziger halbwegs bekannter indischer
       Schauspieler würde auf der Leinwand einen Kleinwüchsigen darstellen. Das
       ist völlig undenkbar.“
       
       ## Wenige ambitionierte Leser
       
       Chandrahas Choudhury ist froh, dass sein Roman nun auch im Ausland
       erscheint (die deutsche Ausgabe ist die erste Übersetzung). „Ja, man sollte
       denken, dass man in einem Land mit einer Milliarde Einwohner auch viele
       Bücher verkauft. Aber das ist leider nicht so“, sagt er. „Gut verkaufen
       sich vor allem Business-Titel. Ansonsten orientiert man sich an den
       Bestellerlisten. Es gibt nicht viele Leute, die man als ambitionierte Leser
       bezeichnen würde.“
       
       Nach genauen Verkaufszahlen seines von der indischen Kritik doch so sehr
       gelobten Romans gefragt, weicht er aus, murmelt schließlich etwas von ein
       paar tausend Exemplaren. Aber immerhin gebe es jetzt schon eine
       Taschenbuchausgabe. „Sich in Indien als Romanautor über Wasser zu halten,
       ist praktisch unmöglich.“ Daher schreibt Choudhury auch immer noch
       Literaturkritiken und Essays, jedoch nicht nur aus existenzieller
       Notwendigkeit, wie er sagt, sondern auch aus Überzeugung, und betreut die
       Literaturseite eines indischen Monatsmagazins.
       
       Als Redakteur legt er den Fokus auf Literatur, die in indischen Sprachen
       geschrieben und ins Englische übersetzt wurden. In die aktuelle Ausgabe von
       Caravan aber hat er die Besprechung einer Übersetzung von Andrei Platonow
       aufgenommen. Diese Offenheit ist Choudhury wichtig: „Es gibt keinen Grund,
       warum man sich entweder nur lokal oder nur global orientieren sollte. Man
       kann doch beides gleichzeitig tun.“
       
       ## Chandrahas Choudhury: „Der kleine König von Bombay“. Aus dem Englischen
       von Kathrin Razum. dtv, München 2012, 254 Seiten, 14,90 Euro
       
       1 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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