# taz.de -- Bundesrechnungshof kritisiert Notvorräte: Die Erbsenzähler
       
       > Für den Fall, dass Seuchen, Anschläge oder Naturkatastrophen das Land
       > heimsuchen, hortet der Bund Getreide, Reis und Erbsen. Der
       > Bundesrechnungshof findet das veraltet.
       
 (IMG) Bild: Wenn's eng wird, gibt's in der „Bundesreserve Getreide“ noch was zu zählen.
       
       BRANDENBURG taz | Die Reise in den Ausnahmezustand beginnt pünktlich um 7
       Uhr. Am Startpunkt, im Berliner Regierungsviertel, herrscht typisches
       Sommerwetter. Das heißt, es regnet. Ein strahlender Himmel wäre auch
       unpassend. Schließlich geht es bei dieser Besichtigungsfahrt um ernste
       Fragen. Darum, ob Deutschland im Katastrophenfall genug zu essen hat. Ob
       die Organisation der Notfallvorsorge für Millionen Menschen effizient und
       kostengünstig ist. Und um Erbsen.
       
       Auf dem Innenhof des Verbraucherschutzministeriums klettern drei müde
       Journalisten in einen Kleinbus. Nur dem schweigsamen Fahrer und
       Ministeriumssprecher Holger Eichele scheint die Uhrzeit nichts auszumachen.
       Als der Kleinbus vom Hof rollt, lehnt sich Eichele zurück und sagt: „Ach
       ja, und bitte erwähnen Sie nicht, wo genau das Lager ist. Schreiben Sie am
       besten bloß ’in Brandenburg‘.“
       
       Die Fahrt geht nach Norden zu einem Lager der „Bundesreserve Getreide“.
       Verteilt über mehr als einhundert Stätten in ganz Deutschland, bunkert der
       Staat Grundnahrungsmittel. Wo, soll niemand wissen. Plünderungsgefahr. Die
       Idee mit den Vorratslagern kam im Kalten Krieg auf, der Schock der
       Berlin-Blockade 1948/49 war noch frisch: Was, wenn der Russe die
       Lebensmittelversorgung unterbricht? Wenn Überschwemmungen, Seuchen oder
       Anschläge dazu zwingen, einen Landstrich schnell und aus der Nähe mit
       Nahrung zu versorgen? Dann muss es genug zu essen geben, um weite Teile der
       Bevölkerung zumindest für einige Wochen mit dem Nötigsten zu versorgen.
       Einst war die Idee gut, viele Menschen hatten keine Kühlschränke,
       Fertigmahlzeiten gab es noch nicht und erst recht keine
       24-Stunden-Supermärkte.
       
       Der Bus fährt durch Dörfer, deren einzige Straße konsequent „Dorfstraße“
       heißt. Am Weg stehen schlichte einstöckige Häuser mit grauem Spritzputz.
       Nicht schön, aber praktisch. Wie die Organisation der Notfallversorgung.
       
       ## Nahe einer Mühle
       
       Die „Bundesreserve Getreide“ besteht aus 500.000 Tonnen Weizen und 100.000
       Tonnen Hafer. Die Lager sollen möglichst in der Nähe von Mühlen gelegen
       sein, dort soll das Getreide zu Mehl verarbeitet werden. Daneben gibt es
       die „Zivile Notfallreserve“: Reis („Lang- und Rundkorn“), 25.000 Tonnen
       Erbsen, 20.000 Tonnen Linsen, dazu Kondensmilch und Vollmilchpulver. Die
       Kondensmilch selbst zu lagern wäre zu aufwendig, sie hält sich nicht so
       lange. Deshalb hat der Bund Verträge mit Molkereien geschlossen. Die müssen
       im Notfall 5.000 Tonnen Kondensmilch parat haben.
       
       Für alles andere gibt es die weit verstreut liegenden Lager. Zuständig für
       sie ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, kurz BLE. Sie
       ist dem Verbraucherschutzministerium (BMELV) untergeordnet. Kenner wie
       Ministeriumssprecher Eichele kürzen die Abkürzung BLE weiter ab, zu „Bleh“.
       
       Fast zwei Stunden dauert die Fahrt durch alte Alleen und Orte, deren Namen
       auf -itz oder -ow enden. Kurz vorm Ziel weiß selbst der Fahrer nicht
       weiter, doch ein alter Mann mit roter Ferrari-Mütze kennt den Weg. Dann
       rollt der Kleinbus auf ein ehemaliges NVA-Gelände. Die Auffahrt aus Beton,
       vier schlichte Lagerhallen aus rotem Backstein. Es ist still hier, nur das
       Geräusch eines in der Ferne vorbeifahrenden Zuges klingt herüber.
       
       Die Lagerstätten sollen weit vom Schuss sein und zugleich gut erreichbar,
       um beispielsweise Bewohner von Großstädten schnell zu versorgen. Die
       Internetseite der hiesigen Gemeinde listet unter dem Menüpunkt „Leben“
       Links auf: zu zwei Schulen, vier Kitas – und sechs Friedhöfen. Weizen und
       Hafer sind hier vermutlich sicher.
       
       In diesem Nichts empfängt Klaus Müller die seltenen Gäste. Müller ist
       Oberprüfer der „Bleh“, Referat 330, Aufsicht Prüfdienste. Leicht getönte
       Sonnenbrille, schmale Lippen, Kugelschreiber in der Brusttasche des
       Kurzarmhemds. Während der Anfang 50-Jährige seine Arbeit erklärt, hält er
       die Hände hinterm Rücken verschränkt. Der korrekte Mann sucht Lagerstätten,
       mietet sie an und kontrolliert, ob die Hallen trocken und kühl genug sind
       für Weizen oder Hafer. Gerade hat er einen Vertrag über die Lagerung von
       100.000 Tonnen Weizen und Roggen abgeschlossen. Müller spricht von
       „Interventionsgetreide“. Seit acht Jahren reist Müller dafür durchs Land,
       er sagt: „Mein Auto ist auch mein Büro.“
       
       Das Geheimnis, das hier lagert, ist denkbar unspektakulär. Müller führt in
       eine der Hallen. Das „Interventionsgetreide“ lagert in 50-Kilo-Säcken aus
       Jute, aufgeschichtet zu fast drei Meter hohen Stapeln. Müller stochert mit
       einem spitzen Stab in einem Sack. „Wat hamwa hier zu lieg’n?“ Graugrüne
       Körner prasseln in einen Plastikeimer. „Greifen Sie mal rein“, sagt er,
       „reinste Linsen erster Qualität. Zehn Jahre alt.“ Die Ware halte sich,
       korrekt gelagert, locker so lange Zeit.
       
       Thermometer messen die Temperatur im Innern des Stapels. Es gibt
       unangemeldete Kontrollen, alle zwei Jahre werden Proben der „gesackten
       Ware“ im Labor untersucht. Nach zehn Jahren wird es „gewälzt“, das heißt:
       Das alte Getreide wird an Großhändler verkauft, neues eingelagert. „Das
       wird hinterher eher seinen Weg in Fertigprodukte finden“, sagt Müller.
       
       ## 20 Cent pro Person
       
       Die hinzugekommenen Fotografen versuchen, das Beste aus der kargen Szenerie
       zu machen. Oberprüfer Müller posiert willig vor und auf den Stapeln mit
       insgesamt 1.300 Tonnen Linsen, sagt: „Nagetiere wären hier der Horror.“
       
       Rund 19 Millionen Euro kosten Kauf und Unterhalt der Notfallvorsorge jedes
       Jahr. Müller findet das günstig. „20 Cent pro Person. Das ist wie eine
       Haftpflichtversicherung. Man hofft, dass man sie nicht braucht, sonst wird
       man hochgestuft.“ Nur einmal mussten Lager tatsächlich auf einen Notfall
       reagieren. 1999 fuhren Lastwagen der Bundeswehr mehrere hundert Tonnen
       Linsen, Erbsen und Reis ins vom Bürgerkrieg versehrte Kosovo.
       
       Müllers Posieren und Werben haben ihren Grund. Der Oberprüfer will an
       diesem Morgen nicht nur erklären, was er tut. Er muss es rechtfertigen.
       Ende März wurde bekannt, was der Bundesrechnungshof von diesem Erbe des
       Kalten Krieges hält: so gut wie nichts. In einem Bericht an den
       Haushaltsausschuss des Bundestages kritisiert die Behörde, die Vorgaben für
       die Notfallvorsorge seien veraltet, teilweise würden sie schlicht
       ignoriert. Das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen für die Bevölkerung
       stimme nicht.
       
       Der Rechnungshof kritisierte auch, die Notvorräte berücksichtigten nicht
       die Bevölkerungsentwicklung oder aktuelles ernährungsphysiologisches
       Wissen. Außerdem seien die Rechtsvorschriften „uneinheitlich und
       unvollständig“. Es fehle ein Gesamtkonzept zur Krisenbewältigung: Was ist
       mit der Versorgung mit Trinkwasser und Energie, wie werden Verkehrswege
       gesichert?
       
       Im Notfall gebe es zwar getrocknete Weizenkeime, die müssten aber erst
       aufwändig gemahlen, das Mehl weiterverarbeitet werden. Mehl selbst hält
       sich nur ein Jahr lang. Laut einem Medienbericht haben Gesellschafter eines
       Mühlenwerks ausgerechnet, dass allein die Weiterverarbeitung der insgesamt
       140.000 Tonnen Hafer ein halbes Jahr dauern würde. Und was bringt all die
       getrocknete und gekühlte Sackware, wenn es am dringlichsten fehlt: an
       Trinkwasser? All dies, urteilt der Prüfbericht, gebe „Anlass zur Sorge,
       dass die Versorgung der Bevölkerung in einem großflächigen Krisenfall nicht
       gesichert werden kann“.
       
       ## Auf dem Stand der 50er
       
       Das allein wäre peinlich genug für Erbsenzähler Müller und seine
       Vorgesetzten. Noch peinlicher ist, dass die Bleh selbst seit Langem um die
       Mängel weiß. Für eine ausgewogene Ernährung mangele es, weil kein Fleisch
       gelagert wird, an Fetten und pflanzlichen Ölen. Nur: Diese Kritik äußerte
       sie vor 17 Jahren. Seither hat sich praktisch nichts verändert. Die
       Notfallvorsorge ist immer noch auf dem Wissensstand der Fünfziger.
       
       Auch sonst hat die Geheimsache Getreide einige Tücken. Müller gibt zu:
       „Dadurch, dass die Lager nicht bekannt sind, genehmigen die Behörden schon
       mal was“, das eigentlich nicht in deren Nähe liegen sollte. Tankstellen und
       andere potenziell umweltschädliche Anlagen. Nicht einmal die lokale Polizei
       wisse, ob es in ihrem Gebiet ein Lager gibt. Erst wenn ein Bundesland den
       Bund um Hilfe bittet, nennt die Bleh die Adresse einer Stätte.
       
       Die Fotografen wissen nicht mehr, was sie fotografieren sollen. Oberprüfer
       Müller ist fertig mit seinem Vortrag. Im Bus spricht Ministeriumssprecher
       Eichele vom „ergebnisoffenen Prozess“, der klären soll, was aus der
       Notfallvorsorge wird. Innen- und Verteidigungsministerium reden mit.
       Möglich sei beispielsweise, es wie bei der Kondensmilch zu halten, also
       Verträge mit Unternehmen zu schließen, die die Nahrung für den Notfall
       bereithalten.
       
       „Aber durch Verpflichtungen der Wirtschaft wird es nicht günstiger“, ruft
       Eichele nach hinten. Man könne auch Fertiggerichte einlagern. „Die Sachen
       bei der Bundeswehr damals waren zehn Jahre haltbar“, sagt der Enddreißiger.
       „Und schmeckten auch so.“ Eichele überlegt, sucht nach einem druckfähigen
       Satz: „Wichtig ist zu sagen: Wir machen uns die Entscheidung nicht leicht.“
       
       Haferschleim oder Fertignahrung. Der ergebnisoffene Prozess läuft bis Ende
       2013.
       
       1 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Matthias Lohre
       
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