# taz.de -- Theater: Im Struktursprengkörper
       
       > Tuncay Kulaoglu und Wagner Carvalho sind stilprägend für das
       > "postmigrantische" Theater. In der Nachfolge von Shermin Langhoff
       > übernehmen die beiden die Leitung des Ballhaus Naunystraße in Kreuzberg.
       
 (IMG) Bild: Wagner Carvalho, Shermin Langhoff und Tunçay Kulaoğlu.
       
       Doch, Wagner, das ist wirklich sein Vorname. Immer wieder muss er das
       erklären: dass er nicht „Herr Wagner“ ist, sondern „Herr Carvalho“. In
       Brasilien, wo Wagner Carvalho geboren wurde, ist das Namensrecht sehr
       liberal, entsprechend reich und fantasievoll ist das Spektrum. Gemeinsam
       mit Tuncay Kulaoglu wird Carvalho in der Nachfolge von Shermin Langhoff ab
       2013 die Intendanz im Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße übernehmen,
       Langhoff ihrerseits wird Intendantin des Maxim Gorki Theaters.
       
       Beide sind Jahrgang 1966 und dem Ballhaus Naunynstraße längst verbunden –
       Tuncay Kulaoglu von Anfang an als Chefdramaturg, Wagner Carvalho seit 2009,
       unter anderem als Kurator einer Performancereihe. Während Carvalho
       ausgebildeter Tänzer und Schauspieler ist, begreift sich Kulaoglu als
       Autodidakt. Doch dieser Begriff war im Ballhaus Naunynstraße schon immer
       ein Kampfbegriff. Denn er legte mit Nachdruck den Finger in die Wunde, dass
       es für Leute, die nicht aus der Mehrheitsgesellschaft stammen, so gut wie
       keine Zugänge zur Hochkultur gibt. Am wenigsten im Bereich Theater, wo man
       sich immer noch an den schwammigen Begriff einer deutschen Leitkultur
       klammert, einen Bildungskanon als Ausschlusskriterium missbraucht und
       Menschen, denen ihre migrantischen Wurzeln in Namen oder Erscheinungsbild
       eingeschrieben sind, schlicht die Mitwirkung verwehrt. Sowohl Kulaoglu als
       auch Carvalho können aus eigener Erfahrung berichten, wie sie in
       Stadttheatern trotz bester Referenzen einfach abgewimmelt wurden.
       
       ## Vorreiter Nürnberg
       
       Kulaoglu ist in Izmir geboren, verbrachte jedoch einen Großteil seiner
       Kindheit und Jugend in Nürnberg, wo seine Eltern seit den 1970er Jahren
       lebten. Mit der letzten Welle vor dem Anwerbestopp der Gastarbeiter waren
       sie aus der Türkei in die traditionsreiche Arbeiterstadt gekommen, die von
       1945 bis 2006 ununterbrochen SPD-regiert war. Was Multikulturalität und
       Integration betrifft, habe Nürnberg in der Bundesrepublik eine wichtige
       Vorreiterrolle gespielt, sagt Tuncay Kulaoglu. Im Wesentlichen sei das dem
       legendären Publizisten und Literaturwissenschaftler Hermann Glaser zu
       verdanken, in Nürnberg fast drei Jahrzehnte lang Kultur- und
       Schuldezernent. Neben dem Frankfurter Hilmar Hoffmann war Glaser eine der
       prägenden Figuren der Kulturpolitik in der alten BRD. Er erfand in den
       70ern die Kulturläden, mit denen gezielt Stadtteilkultur gefördert wurde.
       „Kultur für alle“, lautete das Credo, das den bürgerlichen Kulturbegriff
       weit öffnen und auch die Hochkultur von ihrem unerreichbaren Sockel
       herunterholen wollte. In diesem ermutigenden Klima lernte Kulaoglu in den
       1980er Jahren auch Shermin Langhoff kennen, die ebenfalls einen Großteil
       ihrer Kindheit in Nürnberg verbracht hatte. Gemeinsam waren beide dort 1992
       an der Gründung des ersten deutsch-türkischen Filmfests der Bundesrepublik
       beteiligt.
       
       Aus der deutsch-türkischen Filmszene werden Langhoff und Kulaoglu später
       auch die Regisseure für ihre ersten Theaterprojekte rekrutieren, Ayse Polat
       oder Neco Celik. Auch Kulaoglu begann in den Nürnberger Jahren als
       Autodidakt zunächst Kurzfilme zu drehen, arbeitete als Assistent des
       Filmregisseurs Thomas Arslan und begann, Drehbücher zu schreiben. Als
       Shermin Langhoff 2006 am Berliner HAU das erste „Beyond Belonging“-Festival
       kuratierte und das Label „Postmigrantische Kultur“ damit weit über Berlin
       hinaus geradezu erdrutschhaft bewusstseinsbildend wurde, war Kulaoglu als
       Ko-Kurator dabei. So fing es an.
       
       Kulaoglu war dann Dramaturg von Neco Celiks berühmter Inszenierung von
       „Schwarze Jungfrauen“, einem Stück von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
       über islamische Frauenbilder – eine Arbeit, mit der das sogenannte
       postmigrantische Theater zum ersten Mal die Mainstreamfeuilletons
       elektrisierte. Zusammen mit Nurkan Erpulat entwickelte Kulaoglu 2008 eine
       weitere berühmte Produktion der ersten Jahre, „Jenseits – Bist Du schwul
       oder bist Du Türke?“, die sehr subtil deutsche Klischees von türkischen
       Männern und türkische Männerbilder gegeneinander ausspielte und auszuhebeln
       verstand. Nurkan Erpulat war der erste Student türkischer Abstammung, der
       je an der Berliner Ernst-Busch-Schule aufgenommen worden war. Tuncay
       Kulaoglu blieb dann auch im Ballhaus Naunynstraße als Chefdramaturg
       derjenige, der hinter der durchsetzungsstarken Frontfrau Shermin Langhoff
       wichtige konzeptionelle Arbeit leistete.
       
       Wagner Carvalhos Theaterbegriff wurde wesentlich von seinem Aufwachsen in
       einer Militärdiktatur geprägt und zu einer Schule des Sehens und des
       Handelns geschärft. Zwei Jahre vor seiner Geburt hatte sich in Brasilien
       das Militär an die Macht geputscht, freie Wahlen gab es erst wieder 1989.
       Da war Wagner Carvalho Anfang zwanzig. Die subversive Kraft des Theaters
       hatte er erstmals als Zwölfjähriger kennengelernt, als er zu einer Gruppe
       oppositioneller Studenten der Lutas Populares stieß. Die Studenten der
       „Grupo Lupo“ initiierten Projekte anhand von Augusto Boals „Theater der
       Unterdrückten“. So nannte der legendäre brasilianische Theatermacher eine
       Methode, mit der auf dem Weg der Improvisation politisches Handeln erprobt
       werden sollte. Die Form war stark von Brechts Konzept des Epischen Theaters
       beeinflusst, das die Menschen durch Theater in die Lage versetzen wollte,
       die Vorgänge auf der Bühne ebenso klar zu analysieren wie die Vorgänge in
       der Welt.
       
       Damit sei das Theater ein wichtiges Mittel geworden, „mit der Wirklichkeit
       umzugehen, in der wir lebten“, sagt Carvalho. Mit Brecht sei man aber auch
       immer auf die Frage gestoßen worden: Was kann und soll Theater leisten? Und
       Brecht war es schließlich, auf dessen Spur Carvalho nach Deutschland kam.
       In seiner Geburtsstadt Belo Horizonte hatte er zuvor eine Tanz- und
       Schauspielausbildung abgeschlossen.
       
       Bereits seine allererste Berliner Performance in den frühen 1990er Jahren
       zeigte er am Ballhaus Naunynstraße, das damals noch eine eher unbedeutende
       freie Spielstätte war. Neben seiner Theaterarbeit studierte Carvalho an der
       FU Theaterwissenschaften und fand in seiner Professorin Erika
       Fischer-Lichte und bald auch in der früheren Intendantin des
       Hebbel-Theaters Nele Hertling wichtige Unterstützer. An Hertlings
       Hebbel-Theater rief er vor zehn Jahren schließlich das brasilianische
       Tanzfestival „Move Berlim“ ins Leben – auch um gegen die Südamerika-und
       Brasilien-Stereotype anzuarbeiten. Vor allem aber, weil für Carvalho Tanz
       und Performance Wege zu einer universalen Sprache eröffnen: zu einer
       Sprache, mit der man sich global verständigen und mit ganz neuen und
       radikal individualisierten Erzählweisen experimentieren kann.
       
       Diesem Impuls folgt auch die Projektreihe „In/Out“, die Carvalho 2009 in
       der Naunynstraße ins Leben rief und die in ihrer offenen Form durchaus als
       Gradmesser dafür gelten kann, wie er sich an diesem Ort in Zukunft auch
       konzeptionell einbringen wird: „Es geht hier ja nie allein um Kunst – auch
       der Prozess ist wichtig. Wie entstehen Themen, wer erzählt was und warum?“
       
       ## Neue Protagonisten
       
       „Es war von Anfang an unsere Frage: Warum kommt die Geschichte der
       Migration in der Mainstreamkultur nicht vor?“, sagt Tuncay Kulaoglu. „Warum
       gibt es keine Auseinandersetzung mit den neuen Konstruktionen kultureller
       Identität?“ Immer werde kulturelle Identität nur aus Sicht der
       Mehrheitsgesellschaft befragt. Dabei gebe es längst neue Protagonisten mit
       komplexen Geschichten, die aber im Theater nicht vorkämen. Bis auf wenige
       Ausnahmen – Kulaoglu nennt Nuran David Calis und Feridun Zaimoglu – gebe es
       hier kaum Künstler, die es jenseits des Ballhauses mit ihren Themen und
       Arbeiten in die Sichtbarkeit geschafft hätten. Dabei gebe es enormes
       kreatives Potenzial, „und dieses Potenzial zu bündeln, das war der
       kulturpolitische Kampf von Anfang an. Für uns hieß es nicht nur, wir machen
       Theater. Sondern: wir brechen die Strukturen auf.“
       
       Diesen Weg wollen Kulaoglu und Carvalho weiter gehen. Finanziell und
       strukturell gelte es, die Arbeit des Hauses langfristig auf eine solide
       Basis zu stellen. Man werde also keinesfalls das Ballhaus neu erfinden, wie
       es so oft bei Leitungswechseln geschehe. Dass mit Shermin Langhoff erstmals
       eine Frau mit migrantischen Wurzeln ein deutsches Stadttheater leite, sei
       ein Etappensieg, „Mission accomplished“ könne man aber erst sagen, wenn das
       Ballhaus Naunynstraße als kulturelle Schleuse und Struktursprengkörper
       überflüssig sei. „Wenn sich die Verhältnisse so fundamental geändert
       haben“, sagt Tuncay Kulaoglu, „dass die Zugänge zur Hochkultur offen für
       alle sind und alle auf allen Bühnen alles spielen dürfen.“ So lange heiße
       es hier „der Weg ist die Utopie“, sagt Wagner Carvalho und lacht. „Lieber
       zwischen tausend Stühlen sitzen als auf einem bequemen Sessel.“
       
       10 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Esther Slevogt
       
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