# taz.de -- Fernsehfilm „Ein Jahr nach morgen“: Wegschauen geht nicht
       
       > Aelrun Goette macht Filme, die zum Hinsehen zwingen. In „Ein Jahr nach
       > morgen“ offenbart ein Amoklauf die Sprachlosigkeit der bürgerlichen
       > Mitte.
       
 (IMG) Bild: Die 16-jährige Luca (Gloria Endres Oliveira) hat mit dem Jagdgewehr ihres Vaters zwei Menschen erschossen.
       
       Haltung. Dieses Wort fällt oft. Und es ist so viel mehr als diese paar
       Buchstaben. Für Aelrun Goette ist es ein innerer Kompass, der ihr erlaubt,
       ihre Grenzen immer wieder neu zu definieren und in Abgründe zu blicken,
       ohne sich zu verlieren.
       
       „Wie weit gehe ich und wo ist der Punkt, den ich nicht überschreite? Wie
       lange ist es Abenteuer und ab wann wird es Verrat?“ Diese Fragen stellt
       sich die Regisseurin häufig. Die Antworten kommen aus dem Bauch.
       
       Dieser Kompass erlaubt ihr, ihre Art Filme zu schreiben und zu drehen, so
       unerschrocken wie kaum jemand sonst in Deutschland, die Schauspieler auf
       ihre Weise zu führen, ihre Arbeit bei den Sendern zu verteidigen. Er hilft
       ihr, hineinzugehen in menschliche Abgründe, die für sie das Spannendste
       überhaupt sind. Heraus kommt dann so etwas wie ihr neuer Film „Ein Jahr
       nach morgen“.
       
       ## Fragen ohne Antworten
       
       „Morgen“ ist der Tag des Amoklaufs der 16-jährigen Luca (Gloria Endres de
       Oliveira). Das Mädchen aus gutbürgerlicher Familie erschießt an ihrer
       Schule zwei Menschen. Ein Jahr danach beginnt nun der Prozess und die
       Kamera begleitet Lucas Mutter, ihren besten Freund, die Familie der
       Lehrerin, die getötet wurde, dabei, wie sie stumm-schreiend nach dem Warum
       suchen. Fragen stellt Aelrun Goettes Film viele, Antworten gibt er keine.
       Das ist ebenso klug wie schwer auszuhalten. Der Zuschauer beginnt, alle
       irgendwie zu verstehen, aber auch die Schuld jedes Einzelnen zu sehen.
       
       „Ein Jahr nach morgen“ ist ein Film über die bürgerliche Mitte
       Deutschlands, in der die Menschen sich weiter und weiter voneinander
       entfernen. „Diese Sprachlosigkeit hat mich am meisten interessiert“, sagt
       die Filmemacherin. „Jugendliche leben immer stärker in ihren
       Parallelwelten, gerade im Internet. Es ist beunruhigend, was Kinder alles
       vor ihren Eltern verbergen und was die auch gar nicht sehen wollen.“ Die
       Idee von Facebook etwa sei es, ein Bild von sich aufzubauen, nicht, sich
       mitzuteilen. „Es geht um das Design eines Lebens, das man gerne führen
       möchte. Aber nicht um das Leben, wie man es führt. Man zeigt sich nicht“,
       sagt Goette. Keiner gibt Ängste zu, Schwächen, das Unperfekte. Nicht wenige
       zerbrechen daran.
       
       Sie erzählt von Mädchen, die sie bei der Recherche kennengelernt hat, die
       sich in die Arme ritzen, um überhaupt etwas zu spüren. Von Schülern, die
       sich morgens schon zukiffen, um den Alltag durchzustehen. Wenn sie solche
       Wunden in einer Gesellschaft auftut, wenn sie merkt, da stimmt etwas nicht,
       aber keiner schaut so recht hin – dann hat Aelrun Goette ein Thema
       gefunden. Dann taucht sie komplett ein. Dann gibt es zwei Versionen ihres
       Lebens. Eines mit ihren beiden Töchtern, fünf und neun, zu Hause in
       Berlin-Prenzlauer Berg, eines am Drehort und in der Wohnung, die sie für
       diese Zeit anmietet.
       
       Ein drittes und viertes Leben hätte sie auch noch gern, aber leider habe
       der Tag nur 24 Stunden, sagt Aelrun Goette und lacht. Sie sitzt in
       Prenzlauer Berg im Café „November“, der Tag passt zum Name, kalt und grau.
       Wen auch immer man sich vorgestellt hat, nachdem man ihre Filme gesehen
       hat, diese Frau war es nicht. Blondes langes Haar, zitronenfarbenes Shirt,
       Parka, angerissene Jeans – jung und modisch. Aelrun Goette strahlt, sie
       berlinert fröhlich, sie spricht sehr klar über Haltung und Verantwortung
       etwa, und behält dabei eine Leichtigkeit, die fern von oberflächlich ist.
       Sie ist offen und zugleich sehr bestimmt in dem, was sie bereit ist,
       preiszugeben.
       
       Im Jahr 1966 wurde sie in Ostberlin geboren, den Name Aelrun hatte ihre
       Mutter mal in der Zeitung gelesen. Die starb, als Aelrun 14 war, eine
       Freundin der Mutter nahm sie zu sich. Bis zu ihrem ersten Dokumentarfilm
       1997 war ihr Lebenslauf kunterbunt: Sie arbeitete in der Psychiatrie und
       als Fotomodell, war Vollzugsbeamtin in der JVA Berlin-Plötzensee sowie
       Kostüm- und Bühnenbildnerin. Sie studierte Philosophie und spielte in der
       Daily Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ mit. Schließlich studierte sie
       Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Babelsberg.
       Dann kam „Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“, die Dokumentation
       über eine 15-Jährige, die mit anderen Mädchen eine 13-Jährige zu Tode
       quälte. Aelrun Goette hatte ihre Protagonistin im Gefängnis kennengelernt.
       
       ## Prämierte Zumutungen
       
       Es ist der erste einer Reihe von Dokumentar- wie Spielfilmen, viele davon
       preisgekrönt, mit denen Aelrun Goette zum Hinsehen zwingt. Zum Aushalten.
       Zum Nachdenken. Über die junge Frau, die in Frankfurt (Oder) ihre zwei
       Söhne in der Wohnung allein und somit verdursten lässt („Die Kinder sind
       tot“), über die Mechanismen der Bundeswehr („Feldtagebuch – Allein unter
       Männern“), über Sterbehilfe („Tatort“) und Jugendliche im Hartz-IV-Milieu
       („Keine Angst“). Von einem guten Film erwartet sie, dass er den Zuschauer
       „am Ende irgendwie ausspuckt und weiter beschäftigt. Das kann eine Komödie
       genauso wie ein Fantasyfilm sein.“
       
       Woher kommt diese Unerschrockenheit davor, in Abgründe zu blicken? „Ich
       halte mich für durchaus hasenfüßig. Manchmal jedenfalls“, sagt Aelrun
       Goette. Aber im Umgang mit Menschen dauere es eine Weile, bis sie Angst
       bekomme. Dann konfrontiert sie sich damit. Denn sie habe unfassbares Glück,
       diese Geschichten erzählen zu können und zu dürfen. „Das bringt auch die
       Verantwortung mit, tiefer zu gehen.“ Ihre Jugend in der DDR, ihr Engagement
       in der Friedensbewegung, spielen eine Rolle bei ihren Überzeugungen. Der
       Druck, unter dem sie als Teenager gestanden habe, sei sehr groß gewesen.
       „Dadurch habe ich eine Form von Widerstand erlernt. Und ich bin zwar nicht
       freiwillig, aber umso nachhaltiger vom Gedanken des Kollektivs geprägt.“
       
       Den Extremformen der Individualisierung im Westen steht sie manchmal ratlos
       gegenüber. Wenn man sich zusammen auf was einigen würde, wäre es doch viel
       besser. Aber im Westen werde oft ewig geredet und am Ende komme nichts
       dabei raus. Sie kann Kompromisse eingehen, aber auch sehr klar sagen: So
       wird es jetzt gemacht. Weil es ihre Verantwortung ist. Die Schauspieler
       schwärmen von der Zeit und dem Raum, den Goette ihnen lässt, von
       konstruktiven Diskussionen und: der klaren Haltung.
       
       Sie schwärmt von Schauspielern, die bereit sind, „ihr Innerstes
       aufzuklappen“. Für deren Schutzraum ist sie verantwortlich. Das empfindet
       sie als eines der großen Geschenke ihres Berufs. Dafür kämpft sie und für
       entsprechende Produktionsbedingungen. Sie kann auch unbequem. „Die
       Verantwortung für die filmische Aussage trage am Ende ich. Also muss ich
       die anderen überzeugen. Aber dann kriege ich auch auf die Mütze, wenn es
       schief läuft. Es wird zu oft die Verantwortung abgeschoben, auf andere, auf
       die Umstände. Das ist so langweilig wie tödlich.“
       
       ## Dort, wo ihr lebt
       
       Gerade Kreative neigten manchmal zu schnell zur Selbstzensur: Das will eh
       keiner haben. „Ich glaube, der Zuschauer ist durchaus bereit, sich dem
       auszusetzen“, sagt Goette. Deshalb versucht sie, die Leute beim Sender zu
       überzeugen. Damit mache sie gute Erfahrungen. Für sich selbst lernt sie
       durch ihre Filme immer wieder, „auf meine Welt zu gucken und zu sagen:
       Verstehe, warum ihr uns so seht, und wie sich das anfühlt; dort, wo ihr
       lebt.“
       
       Wie der Männerbund Bundeswehr funktioniert, erfährt sie so – und am eigenen
       Leib, wie Armut sich anfühlt, wie es riecht, wie laut es ist, wie die
       Aggression pocht. Denn für „Die Kinder sind tot“ lebte sie selbst in einem
       Plattenbau in Frankfurt (Oder). Sie braucht diese Seitenwechsel. Gerade in
       Prenzlauer Berg dicke man sonst schnell ein und denke, der Rest der Welt
       sei genauso.
       
       Davor bewahren Aelrun Goette die Themen, die ihr zulaufen, die plötzlich da
       sind und sie nicht mehr loslassen. Gerade ist es ihre Zeit im Osten, die
       sie beschäftigt und die sie so ganz anders erlebt hat, als das mediale Bild
       es heute zeigt. „Wir müssen auch mal was über das Lachen erzählen, über den
       fröhlichen Widerstand und das Schrägsein“, sagt sie. Wann war es Abenteuer,
       wann Verrat – die Orientierungsfragen für den inneren Kompass, für die
       Haltung, gelten auch hier.
       
       ## „Ein Jahr nach morgen“, 26.09.2012, 20:15 Uhr, ARD
       
       26 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniela Zinser
       
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