# taz.de -- Kriminalgeschichten: Blut und Modder
       
       > Sie sind überall: im Fernsehen, im Kino, im Radio, im Feuilleton und in
       > den Buchhandlungen. Sind Krimis die neue Pest?
       
 (IMG) Bild: Der Fake-Schweden-Krimi: „Der Sturm“.
       
       Gefühlt begegnen sie einem überall. „Krimi“ im TV, im Kino, im Radio.
       Stapelweise Krimis in den Buchhandlungen und anlässlich des
       Fake-Schweden-Krimis „Der Sturm“ auch noch in den Feuilletons. Krimis sind
       die Pest.
       
       Ist Deutschland krimibesessen? Ausgerechnet Deutschland, in dem das Genre
       jahrzehntelang heimlich unter der Bettdecke gelesen und allenfalls mit der
       sekundärliterarischen Kohlenzange angefasst wurden? Obwohl man in den
       letzten zehn Jahren immer dachte, irgendwann müsse diese Krimi-Blase
       platzen, geht ihre markt- und medienbeherrschende Dominanz immer weiter.
       
       Ob nun jedes dritte oder doch schon jedes zweite verkaufte belletristische
       Buch ein Krimi ist, ist egal. Man würde ja gern steile Thesen wagen, wonach
       die Deutschen endlich Mord & Verbrechen als ihr Lieblingsthema outen oder
       ihre Lektüre offen nicht mehr an hochliterarischen Kanons ausrichten; oder
       wonach sie gar erkannt hätten, dass Mord & Verbrechen derart zentrale
       Themen unserer Zeit sind, dass man, soll Kunst einen Sitz im Leben haben,
       an ihrer künstlerischen Be- und Verarbeitung nicht so leicht vorbeikommt.
       
       ## Crime sells, crime pays
       
       Aber ach, Krimi passiert global, spezifisch deutsch ist da nicht viel;
       nicht jede Lektüreentscheidung ist reflektiert, Mord & Verbrechen sind
       nicht nur zentrale Themen, sondern oft nichts als schnöde ökonomische
       Kalküle auf den Medienmärkten, the brand of the decade, eine Marke: Crime
       sells, crime pays – darüber allerdings kann man durchaus nachdenken.
       
       Wäre „Krimi“ also eine Art Supermeganarrativ, das „Universalgenre“ für alle
       Medien, für alle Niveaus und für alle Themen, ästhetisch,
       erkenntnistheoretisch und auch noch Entertaining? Ästhetotainment? Können
       wir mit einigen Chancen, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, über
       Mehrfachtäter, die Amis im Irak, den Überwachungsstaat, die Eurokrise, den
       Kampf um die Ressourcen, über Kinderschänder, Neurosen, den Krieg der
       Geschlechter oder das Bedürfnis nach Heimat nur noch reden, wenn diese
       „Themen“ in Mordsgeschichten verpackt sind?
       
       Oder wenn wir über die ästhetischen Implikationen für die Kunst unserer
       Tage nachdenken: Alles nur noch eine Ästhetik des Tötens, Poetik des
       Schlachtens, Prosa, Lyrik und Dramatik des Mordens, Grammatik des Todes und
       Syntax der Blutströme?
       
       Wie beklemmend reduktionistisch also, wenn es so ein Supernarrativ
       tatsächlich gäbe. An dieser Stelle zumindest Entwarnung. „Krimi“ ist bloß
       eine Art Schirm, unter dem unterschiedliche Narrative gedeihen, die
       notfalls gar keine substanziellen Gemeinsamkeiten haben.
       
       ## Circus maximus mit Kunstblut
       
       Extrem abstrahiert, gibt es vielleicht drei Hauptnarrative. Narrativ eins:
       Ein Mord (Offizialdelikt und Schicksal) stört eine Ordnung, die
       Ordnungsmacht oder einer ihrer Beauftragten klärt auf, und die Ordnung ist
       zumindest kurzfristig wiederhergestellt. Alle sind zufrieden und beruhigt,
       der Mord hatte einen Sinn, vor allem wenn man miträtseln darf, wer’s denn
       nun war.
       
       Narrativ zwei: Verbrechen werden vom Bösen begangen. „Das Böse“ ist
       meistens serial killer, tötet aus Daffke, ist clever, diabolisch und
       hightechmäßig prima aufgestellt. Dieses „Böse“ hat mit irgendwelchen
       Realitäten nur sehr vermittelt zu tun, bedient unsere Angstlust. Märchen
       unserer Zeit, Aggressionsabfuhr, Circus maximus mit Kunstblut,
       Stellvertreterterror im Wohnzimmer. Oder so.
       
       Narrativ drei: Mord und Verbrechen gehören zum Grundbestand menschlichen
       Verhaltens, ihre ästhetische Reflexion war lange auf bestimmte
       ritualisierte Formen festgeschrieben – Tragödie, Ballade, klassischer
       Kriminalroman mit Sinnangebot (siehe Narrativ eins), hat sich aber im Laufe
       des 20. Jahrhunderts peu à peu von „Form“ emanzipiert (übrigens war und ist
       „Krimi“ keine literarische Form, sondern höchstens ein Set von
       Erzählkonventionen) und trägt dem Umstand Rechnung, dass Mord und
       Verbrechen ubiquitär, konstitutiv für Gesellschaften und keinesfalls
       randständig sind.
       
       Letzteres ist das ästhetisch-literarisch-erkenntnistheoretisch interessante
       Narrativ, weil es die Durchdringung aller zwischenmenschlichen Sortierungen
       von privat bis öffentlich, von familiär bis global mit sehr unschönen
       Aspekten immer wieder betont. Zumal es dabei an die kommunikativen
       Potenziale „populärer Kultur“ anschließt, um nicht in die „elitäre“ Falle
       zu geraten.
       
       Die Dialektik „populärer Kultur“ ist im Falle Kriminalliteratur besonders
       paradox und ironisch: Während das dritte Narrativ dafür sorgt, dass sich
       Kriminalliteratur besonders in Lateinamerika (von Borges bis Padura,
       Fonseca und Taibo), Afrika (von Helon Habila bis Deon Meyer, Malla Nunn und
       Andrew Brown), Australien (Peter Temple) und zunehmend auch in Asien eher
       organisch in die jeweilige Regionalliteratur eingefügt hat und Teil der
       öffentlichen Debatten ist, sind bei uns die Narrative eins und zwei weitaus
       erfolgreicher, gemessen an Verkaufszahlen und Marktkompatibilität.
       
       ## Das kann ich auch!
       
       Letztendlich zieht sich ein E/U-Schisma durch die Leserschaft (auch wenn
       sie andererseits die Vielfalt von Kriminalliteratur zu schätzen weiß; die
       Schnittmengen sind unklar). Wer einen Roman von Don Winslow liest, wird mit
       einem mediokren Regio-Krimi kaum etwas anfangen können. Das allerdings ist
       dann kein Alleinstellungsmerkmal für Krimi, an der Stelle er ein
       stinknormaler Mitspieler im literarischen Feld.
       
       Vermutlich ist der ganze Krimi-Hype ein geschäftlich lukratives, ästhetisch
       prekäres Missverständnis: Krimis gelten als unterhaltsame, niemanden
       überfordernde, allgemein verständliche Dinger, die Voyeurismus (Blut und
       Modder), Wunschdenken (alles wird gut), Paranoia (die Welt ist schlecht,
       und die da oben sind es erst recht), Ambition (das kann ich auch,
       vergleiche „Der Sturm), also edle Regungen und niedere Instinkte bedienen.
       Als Marke sind sie all das.
       
       Wenn sie Ideen produzieren und transportieren, sind sie all das nicht,
       sondern faszinierende Literatur. Manchmal sind sie beides. Deswegen hat die
       Auseinandersetzung mit ihnen oft schizophrene Züge. Wir mögen das.
       
       29 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Wörtche
       
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