# taz.de -- Erinnerungen an Helmut Kohl: Die Liebe in Zeiten der Kohl-Ära
       
       > Vier tazler wagen einen Blick zurück: Vor 30 Jahren versprach Kohl die
       > „geistig-moralische“ Wende. Am Gefühlsleben der Deutschen ging das nicht
       > spurlos vorbei.
       
 (IMG) Bild: Kohl mit einem Glas Äppelwoi: Sein Schatten schwebte fast zwei Jahrzehnte über allem.
       
       Schwarz steht mir gut Am 19. März 1990 kaufte ich mir ein schwarzes Hemd
       aus Seide. Ich kaufte es mir wegen Helmut Kohl. Und das kam so.
       
       Tags zuvor hatten die DDR-Bürger die Abgeordneten der Volkskammer gewählt.
       Es war ihre erste und letzte demokratische Wahl. Niederschmetterndes
       Ergebnis war, dass die Ostler von der CDU regiert werden wollten. 40,8
       Prozent für die Partei jenes Mannes, den ich nur spöttisch belächelt hatte.
       Ich meine, wir hatten ja gerade das Politbüro überstanden – warum sollten
       wir uns so was wie Uncooles wie Helmut Kohl herbeiwählen?
       
       An diesem Tag musste ich kapieren, dass ich mich getäuscht hatte in meinen
       Landsleuten. Und so tat ich etwas, was mir bis heute dunkle Stunden
       versüßt: Ich kaufte mir was zum Anziehen. Im Exquisit in der Leipziger
       Straße, quasi im Schatten des Springer-Hochhauses, erwarb ich dieses
       schwarze Hemd.
       
       Ich wollte Trauer tragen. Trauer um diese ganzen Quatsch – Ideen von einem
       dritten Weg, einer sich selbst erneuernden DDR. Trauer um das, offenbar nur
       herbeihalluzinierte, innere Einverständnis mit meinen Mitbürgern. Ich hatte
       ihren Wunsch nach Teilhabe am fetten Leben dramatisch unterschätzt.
       
       Ich trug mein schwarzes Hemd. Es stand mir wirklich gut. Ich trug es auch,
       als ich wenig später einen Westmann kennenlernte. Er fand auch, dass mir
       Schwarz steht. Er sagt das hin und wieder noch heute. In dieser Frage sind
       wir uns also einig. Worüber wir uns nie einigen konnten, ist die Frage über
       die Liebe zu einem Land. Über den Wunsch nach Zugehörigkeit.
       
       Der Westmann war mit Helmut Kohl aufgewachsen, er kannte nichts anderes.
       Und er hasste es. Ich war mit der Idee aufgewachsen, dass es gut für den
       Gefühlshaushalt ist, irgendwo dazuzugehören. Aber zu Kohls Land? Das ging
       gar nicht. Wir stritten über Prägung und Fügung, über erlernte und erfühlte
       Liebe. Und seltsamerweise spielte dieser dicke Kohl immer wieder eine
       wichtige Rolle in diesen Streits. Acht Jahre später wurde Kohl abgewählt.
       Zuerst hoffte ich. Aber bald resignierte ich endgültig, was die Liebe zu
       einem Land angeht. Diese Ernüchterung und eine dezente Freude an schwarzer
       Kleidung verdanke ich: Helmut Kohl.
       
       ANJA MAIER 
       
       *** 
       
       Die Peinlichkeit der späten Geburt Wer in den 80ern jung war, hatte ein
       Problem mit Deutschland. Ich jedenfalls kannte keine Menschen, die das
       nicht hatten. Mein Problem jedoch war noch größer, als einfach zu denken,
       dies sei ein Kack-Staat. Ich schämte mich seiner.
       
       Die Vorstellung, dass Menschen in anderen Ländern die „Schwarzwaldklinik“
       sahen und darüber den modrigen Gestank der Heimatduselei und
       anachronistischer Rollenbilder wahrnahmen, ließ mich den Kopf einziehen.
       Ich, die ich im Ausland als modern wahrgenommen werden wollte, schleppte
       dieses ultrapeinliche Deutschlandbild im Rücken mit mir mit.
       
       War ich in Schweden als 15- Jährige für die Nazi-Gräuel verantwortlich
       gemacht worden, kam ich nun aus einem Land, das durch Leistung
       Aufmerksamkeit erhielt, dessen Leistungsträger jedoch wie aus einer
       Blödelshow wirkten.
       
       An der Macht war einer, der in einem hinterwäldlerischen Dialekt nuschelte
       und den Eindruck machte, schon als junger Mensch alt gewesen zu sein. Ein
       Briefmarkensammler, ein Vogelkundler. Mit Boris Becker hatte ein
       rosafarbener Teigling Wimbledon gewonnen, mit Steffi Graf eine vom Ehrgeiz
       Zerfressene, deren Einsatz bei „Wetten dass ..?“ war, ihrer Gegnerin,
       sollte sie unterliegen, einen Blumenstrauß zu überreichen. Obendrein war
       das, was die Neue Deutsche Welle bis nach London bekannt gemacht hatte –
       dass sie wild, avantgardistisch, Kunst war –, zersetzt worden von
       Schlagerfuzzis, die es lustig fanden, einen Knutschfleck zu besingen. Und
       die Leute – ihnen gefiel es. So wie alles, das nicht wehtat.
       
       Deutschland war in diesen Jahren ein Schrebergarten und es wurde mit jedem
       Jahr Kohl bräsiger. Es war eine Stätte des Kleingeistes und des
       Kleinbürgers. Als dann das andere Deutschland übernommen wurde, lebte die
       Scham neu auf. Diese Gier, diese Berechnung, diese Tücke. Eigentlich lebt
       diese Scham noch heute. Wenn mir Menschen aus der DDR begegnen, deren
       Landschaft immer noch nicht blüht, möchte ich sagen: Mir ist das wirklich
       unangenehm. Es tut mir aufrichtig leid. Aber ehrlich gesagt: Ich kann
       nichts dafür.
       
       SILKE BURMESTER 
       
       *** 
       
       Kein Kuss für den Rebellen Helmut Kohl war daran schuld. Daran, dass die
       90er Jahre eine Zumutung waren. Helmut Kohl, das war personifizierte
       Alternativlosigkeit, Ursache eines kolossalen Desinteresses am
       Weltgeschehen. Vielleicht war er auch nur Symptom oder eine Metapher
       dessen, was man Politikverdrossenheit nannte.
       
       Ich bin zu allem Überfluss in diesem Jahrzehnt geschlechtsreif geworden.
       Landschwabe, Interesse an Politik. Politik war langweilig, öde, doof, die
       Sache von grauen Männern in dunklen Anzügen, das war Tagessschau-
       taaa-ta-ta-taaa. Wer ein Mädchen wollte, der durfte sich nicht für solchen
       Kram interessieren.
       
       Wenn uns graubärtige 68er Lehrer auf Klassenfahrt als späte Rache am
       Establishment Kippen drehen beibrachten, dann erzählten sie nebenher von
       Dutschke, RAF und dass Sex irgendwie was mit krassen Demos und mit USA und
       Vietnam und Imperialismus-scheiße-Finden zu tun hatte. In den 90ern
       erzählten wir Witze über Saumagen und Trabbis. Wer ein Mädchen wollte, der
       musste kicken, Gitarre spielen oder eine veritable Bravo-Hits-Sammlung
       vorweisen und vor allem nie, nie über Politik reden.
       
       Kohl war seit Anbeginn meines Denkens an der Macht und bedeckte meine Welt
       wie grauer, ungesalzener Haferschleim. Als ich 1993 zum ersten Mal mit
       einem Mädchen allein im Kino war, Harrison Ford in „Auf der Flucht“,
       zeigten sie im Werbeblock diese Anti-Ozonloch-Werbung von Greenpeace. Sie
       spielte ungefähr im Jahr 2012: Die Welt ist total verbrannt, ein paar
       Kinder spielen in Schutzanzügen unter gleißender Sonne Fußball. Zum Schluss
       eine donnergrollende Warnung: „FCKW hat einen Namen: Dupont“. „So weit wird
       es kommen, wenn wir Kohl nicht abwählen“, erläuterte ich meiner
       Verabredung. Sie schnippste Popcorn auf Erwachsene, Harrison Ford stürzte
       einen Wasserfall hinab, Film aus. Die Lichter gingen an, wir hatten nicht
       geknutscht. Sie meldete sich nie wieder. Politik war einfach out.
       
       1998 war jedenfalls das erste Mal, dass ein Mädchen nicht entsetzt aus
       meinem Zimmer rannte, als sie mein Lieblingsposter sah. Es zeigte Kohl im
       Schneidersitz und darunter stand: „Buddhismus bizarr: Kohl droht mit
       Wiedergeburt“. Das Mädchen war wundervoll, sie kiffte, nahm gelegentlich
       LSD und erkannte, wie furchtbar dieser Gedanke war.
       
       INGO ARZT 
       
       *** 
       
       Zum Sendeschluss das Deutschlandlied 
       
       Sage niemand, der Mann hätte keinen Sinn für Ironie: Da hatte Helmut Kohl
       zum Amtsantritt die geistig-moralische Wende in (West-)Deutschland
       versprochen. Und stattdes- sen nur zwei Jahre später das Privatfernsehen
       geliefert.
       
       Irgendwie hatten die Öffentlich-Rechtlichen zumindest etwas geahnt: Latent
       unter Links-Verdacht stehende Kinderserien wie „Krempoli“ oder das
       „Feuerrote Spielmobil“ liefen aus. Dafür bekamen Erwachsene jetzt ihr Fett
       in Serie weg: Den Ölkrisen-Szenarien der 1970er folgte ab 1981 in der ARD
       „Dallas“ und lieferte das erste Mal nur mäßig durch die familiären Irrungen
       der Ewings überdeckten Neoliberalismus ins Wohnzimmer.
       
       Anfang der 80er war das westdeutsche Fernsehen dabei immerhin noch ziemlich
       breit aufgestellt: Es gab intellektuellen Talk mit einem umgeschulten
       WDR-Juristen namens Alfred Biolek, doch die Rückmeldungen, die die ARD auf
       Rainer Werner Fassbinders 13-Teiler „Berlin Alexanderplatz“ bekam – „zu
       dunkel!“ – zeugte schon von kommender Schlichtheit.
       
       Und dann ging es Schlag auf Schlag: Das „Traumschiff“ stach 1981 in See,
       1985 kam Professor Brinkmann mit seiner „Schwarzwaldklinik“ hinzu und
       zeigte, dass auch die heile Welt der Reichen und Schönen ihre Tücken hat.
       Worauf sich der Fernsehbürger wohlig in seinem Sessel zusammenrollte, froh
       war, dass er solche Probleme nicht hatte – und allem Fortschrittlichen eine
       Absage erteilte.
       
       Edgar Reitz konnte zwar noch „Heimat“ drehen, doch insgesamt war das
       TV-Angebot einSpiegel des Systems: blass, kalt, einfallslos kam es daher.
       „Wetten dass ..?“ und die „Lindenstraße“ sollten auf lange Sicht die letzte
       große Innovation im deutschen Fernsehen bleiben. Und ARD wie ZDF spielten
       plötzlich zum Sendeschluss das Deutschlandlied.
       
       Ab 1984 waren sie plötzlich da, die Privaten. Bei RTL wackelten zwar noch
       die Kulissen, aber auch die Brüste in „Tutti Frutti“. Fernsehen war jetzt
       garantiert kein aufklärerisches Medium mehr, sondern gab sich auf seltsam
       biedere Art „verrucht“, und der verklemmte Kulturpessimismus diskutierte
       über Hugo Egon Balders Zoten, während bei Sat.1 unterm Dirndl gejodelt
       wurde. Derlei Resteverwertung aus den Programmspeichern von Kirch & Co.
       hätte auch den Ewings imponiert.
       
       STEFFEN GRIMBERG
       
       30 Sep 2012
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kolumne Kriegsreporterin: „Gala“ unabhängig? Hihi!
       
       Syrien, Polschmelze, Bootsflüchtlinge – das ist abgestandener Bubble Tea.
       Wichtiger: Dramen um Pudel, Walser, „ttt“ und „Stern“.
       
 (DIR) Kommentar Helmut Kohl: Zu viel Versöhnung
       
       Während seiner Kanzlerschaft war Helmut Kohl oft das Ziel irrationaler
       linker Kritik. Jetzt wird er immer milder betrachtet. Das war und ist
       falsch.
       
 (DIR) Kommentar Kohl: Die Kohl-Merkel-Festspiele
       
       Für die Seele der Union: Der Rummel um Altkanzler Helmut Kohl soll die
       zerstrittenen Truppen der Christdemokraten einen.
       
 (DIR) 30 Jahre „geistig-moralische“ Wende: Unser Papa Kohl
       
       Helmut Kohl wird gehasst oder geliebt. Für viele Deutsche ist der
       Dauerkanzler bis heute die Projektionsfläche kindlicher Sehnsüchte nach
       einer Vaterfigur.