# taz.de -- Lob des Taschenbuchs: Der demokratischste Datenträger
       
       > Sie haben Narben auf dem Rücken, sind rotweinbefleckt oder mit
       > Bleistift-Anmerkungen tätowiert: Taschenbücher. Genau deshalb gehört
       > ihnen die Zukunft.
       
 (IMG) Bild: Alt und hässlich – aber geliebt! Manchmal gerade deshalb: das Taschenbuch.
       
       Universitätsbibliotheken haben etwas Einschüchterndes. Es ist, als wären im
       Hintergrund fast alle Heere und Armeen längst geschlagener Schlachten
       vollständig und geordnet angetreten, damit aus ihren endlos stummen Reihen
       auf Zuruf ein einzelner Foliant hervortritt, der mir verrät, was er weiß
       und dessen Dienste ich zeitweilig in Anspruch nehmen darf.
       
       Trotzdem habe ich nicht in Harvard, auch nicht an der Sorbonne die
       beeindruckendsten Bibliotheken meines Lebens gesehen – sondern irgendwo in
       der Provence, an der Algarve, in Jordanien, Kaschmir, Goa oder meinetwegen
       Usedom. Es geht um die hartnäckigen, bunten und dreckigen Guerillatrupps
       aus wild zusammengewürfelten Taschenbüchern, die sich überall dort
       eingenistet haben, wo kein Mensch länger als eine Woche weilt.
       
       Es ist, als müsste man in abgeschiedenen Ferienhäusern nur ein wackeliges
       Regal anbringen, schon füllt es der Strom der Zeit mit Büchern aus aller
       Welt. Wissenswertes, Überflüssiges, Bebildertes, Philosophisches,
       Spannendes, Schwules, Langweiliges, Fantastisches, Tragisches und meistens
       Triviales, alles nebeneinander und nichts davon so wichtig, dass ein
       ursprünglicher Besitzer es für unverzichtbar gehalten hätte. Es sind die
       ausgesetzten, verlausten, räudigen Straßenköter unter den Büchern. Zähe
       Gestalten, denen es doch bald an den Kragen gehen soll.
       
       Es gibt einen schlichten Cartoon, der den Endpunkt einer Entwicklung, die
       uns seit Jahren als unausweichlich verkauft wird, besser abbildet als manch
       wissenschaftliche Abhandlung: Wir sehen zwei Männer beim Cognac in einem
       gediegenen Salon. Der Hausherr sitzt, Pfeife rauchend, im Ohrensessel vor
       dem Kamin, während der Besucher interessiert die deckenhohen Regale
       inspiziert. Sie sind wie leergefegt, verwaist auch die Leiter für die
       oberen Fächer, nur in einer Ecke stehen drei kümmerliche Geräte. „Kindle,
       Nook, Sony Reader“, stellt der Besucher anerkennend fest: „Ich muss schon
       sagen, eine beeindruckende Bibliothek haben Sie da!“
       
       ## Verweigerer versus „early adopter“
       
       Wann das „elektronische Buch“ das herkömmliche Buch ersetzen werde, heißt
       es, sei nur eine Frage der Zeit. Wer daran seine Zweifel hegt, gilt als
       gestriger Kauz. Überhaupt scheint es zu den Signaturen des Lebens in der
       Moderne zu gehören, ab einem gewissen Punkt eine technologische Entwicklung
       nicht mehr mitmachen zu wollen – sei es die CD, der MP3-Spieler oder die
       Klangwolke im Netz. Dem skeptischen Zauderer und Verweigerer steht der
       „early adopter“ gegenüber, also der Idiot, der erfreulicherweise sofort
       alles kauft.
       
       Anders aber als beim Ton, der sich von seinem empfindlichen Träger gelöst
       hat und seitdem in eine digitale Form transzendiert ist, ist der Buchstabe
       zwischen zwei Buchdeckeln ideal aufgehoben. Es gibt hier einfach keinen
       Handlungsbedarf, sosehr die Industrie auch daran interessiert sein mag,
       sich selbst und uns Konsumenten einen solchen zu suggerieren.
       
       So weit geht inzwischen diese Autosuggestion, dass selbst ein klassischer
       Verleger wie Joachim Unseld neulich in dieser Zeitung sagte: „Wir müssen
       die gedruckten Bücher edler machen, wertvoller, teurer. Das gebundene Buch
       wird zum Luxusgegenstand für Bibliophile werden. Auf der anderen Seite
       steht dann das digitalisierte E-Book, das zum reinen Gebrauch bestimmt
       ist.“ Das Taschenbuch, so Unseld, werde es dann womöglich nicht mehr geben.
       
       So spricht kein Leser. Sondern ein Kaufmann, der den Wenigen das Wertvolle
       und der Masse das Wertlose verkaufen will. Hier wird oft die Analogie zur
       Musikindustrie bemüht. Doch sie täuscht. Dort sitzen ehemals mächtige
       Unternehmen auf Bergen überteuerter CDs, während die Musik weitgehend
       kostenlos im Internet spielt. Geld wird nur noch von Audiophilen
       ausgegeben, die am Vinyl neben dem nostalgisch-ästhetischen Mehrwert die
       angebliche Klangwärme schätzen – obwohl heute alles, was noch analog auf
       Schallplatten gepresst wird, digitalen Quellen entnommen wurde.
       
       So reizvoll es sein kann, im Urlaub in Schweden die komplette Musiksammlung
       auf dem iPod dabeizuhaben, so sinnlos wäre diese Idee bezüglich der
       heimischen Büchersammlung – es sei denn, man läse gern jeweils nur eine per
       Zufallstaste ausgewählte Romanseite.
       
       ## So sinnlich wie eine Fernbedienung: E-Reader
       
       E-Reader sind, welches Modell man auch nimmt, ungefähr so sinnlich wie eine
       Fernbedienung. Überraschend leicht, überraschend matt und überraschend
       teuer. Die billigsten Modelle kosten mit knapp 30 Euro so viel wie die
       1.580 gebundene Seiten von Lew Tolstois „Krieg und Frieden“, die teuersten
       so viel wie der überdimensionale Reprint von Joan Blaeus „Atlas Maior“ aus
       dem Jahr 1665.
       
       Die einen Reader können dieses, die anderen das, und Akkus halten so
       irrsinnig lange, bis sie doch irgendwann leer sind – und man nicht
       weiterlesen kann. Weil sie leer sind, die Akkus. Diesen Umstand muss man
       gar nicht lange einsinken lassen, um sich der Lächerlichkeit des ganzen
       Prinzips bewusst zu werden. Es ist, als könne man nicht mehr Fahrrad
       fahren, weil der Tank leer ist.
       
       Mag sein, dass Verlage echter Bücher, dieser Endgeräte aus Papier, nur noch
       an geckenhafte Besitzer „beeindruckender Bibliotheken“ verkauft werden. Der
       Verleger Klaus Wagenbach hat dieses Szenario in der Zeit so umschrieben:
       „Ein mir besonders lieber Traum ist die Vorstellung eines neugierigen
       Lesers mit einem Buch in der Hand: rotes Leinen, mit aufgeklebtem farbigem
       Schild und buntem Vorsatz, fadengebunden, fein gedruckt, wohlriechend.
       Dieser Leser, diese Leserin schnüffelt, blättert, prüft den Raum für
       Eselsohr und Anstreichungen, genießt die kleine haptische Sensation, macht
       einen Freudenhüpfer – und beginnt zu lesen.“
       
       ## Süßlich-schwärmerische Blütenstaubzimmerscheiße
       
       Mit dem Lesen hört Wagenbachs Traum bezeichnenderweise dann auf, wenn das
       Vergnügen des gewöhnlichen Lesers erst beginnt. Es ist solcher
       süßlich-schwärmerischen Blütenstaubzimmerscheiße zu verdanken, dass
       neuerdings noch der sprödeste literarische Magerquark als „das schönste
       deutsche Buch 2012“ vermarktet werden kann. Weil sein leinener Umschlag
       eine „haptische Sensation“ sei und da so hübsche Zeichnungen drinne sind.
       
       Damit ist nichts gewonnen. Nein, die absehbare Zukunft wird auch weiterhin
       dem demokratischsten aller analogen Datenträger für das Medium „Schrift“
       gehören, dem Taschenbuch. Taschenbücher sind nicht Mauerblümchen, sondern
       die Krönung einer mehr als 500-jährigen Kulturgeschichte. Einfach, weil sie
       etwas aushalten.
       
       Für Verzärtelungen haben sie nichts übrig. Die meisten Taschenbücher haben
       lange Narben auf dem Rücken, dort, wo sie einst aufgeschlagen in Deckung
       gehen mussten und erst Wochen später wieder in die Hand genommen wurden.
       Andere tragen gleichmütig das stigmatisierende Brandzeichen
       „Unverkäufliches Mängelexemplar“ oder tiefe Schleifspuren, weil sie über
       sandigen Parkettboden robben mussten.
       
       Manchen ist sogar eine Seite amputiert, meistens vorne, wo mit einem
       beherzten „Ratsch!“ eine eiternde Widmung getilgt wurde, ohne gleich das
       ganze Buch zu opfern. Wenige sprechen fremde Sprachen oder prahlen mit
       altgriechischen Passagen. Vereinzelt gibt es fürchterlich entstellte
       Exemplare, weil sie in die grausamsten aller Hände geraten sind, denen
       eines Kindes. Kränklich gelbe schmale Bücher gibt es mit Druckstellen dort,
       wo jahrelang ein Tischbein ruhte.
       
       Echte Veteranen sind mit Bleistift-Anmerkungen tätowiert oder tragen,
       vergilbt und sorgsam gefaltet, ihre eigenen Empfehlungsschreiben in Form
       ausgeschnittener Feuilleton-Artikel mit sich herum. Stolzgewellt tragen die
       Seebären unter ihnen von Wasserdampf versehrte Seiten, Andenken an
       Wasserschlachten in der Badewanne. Säufer zeigen halbrunde Rotweinflecken,
       wo längst zerbrochene Gläser abgestellt wurden, und Lüstlinge matte Flecken
       da, wo die „Stellen“ sind. Und alle haben sie watteweich abgewetzte
       Rundungen, wo zuvor scharfe Ecken waren.
       
       Sollten wirklich eines fernen Tages die Roboter übernehmen, werden diese
       bunten Kameraden gemeinsam in den Untergrund gehen und dort weiterkämpfen.
       Sie sind bereit. Sie sind unschlagbar. Denn sie werden geliebt.
       
       5 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Arno Frank
       
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