# taz.de -- Streit der Woche: „Der Wähler erwartet die Lüge“
       
       > Müssen Politiker in Wahlkämpfen immer die Wahrheit sagen? Die
       > CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl sagt ja. Kabarettist Mathias Richling
       > hingegen will sogar belogen werden.
       
 (IMG) Bild: Ob US-Präsidentschaftskandidat Mitt Romney seinen potenziellen Wählern immer die Wahrheit sagt?
       
       „Politiker sollen immer die Wahrheit sagen – nur gibt es keine absolute
       Wahrheit. Schon gar nicht in der Politik“, schreibt die
       CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl im „Streit der Woche“ der aktuellen
       sonntaz. Zwar sollten Politiker ihrer Ansicht nach immer die Wahrheit
       sagen, aber ein und dieselbe Information könne eben zu ganz
       unterschiedlichen Bewertungen führen.
       
       Wöhrl verweist auf Henry David Thoreau, der einmal schrieb: „Zur Wahrheit
       gehören immer zwei – einer, der sie sagt, und einer, der sie versteht.“
       Wöhrl ergänzt: „Die Wahrheit ist selten so oder so, meistens ist sie so und
       so.“ Die sonntaz hatte gefragt, ob Politiker im Wahlkampf immer die
       Wahrheit sagen müssen.
       
       Der Kabarettist Mathias Richling beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den
       Höhen und Tiefen der Politik. Seine Antwort fällt dementsprechend klar aus:
       „Der Wähler erwartet gerade im Wahlkampf die Lüge. Schon,weil sich unser
       ganzer Staat auf der Lüge aufbaut: Alle haben ein Recht auf Arbeit, alle
       Menschen sind gleich, jeder hat ein informationelles Selbstbestimmungsrecht
       – was hat das für einen Wahrheitsgehalt“, fragt Richling.
       
       Seiner Meinung nach bestehe die Kunst vor allem in der Verfeinerung der
       Lüge. Richling erinnert an den Bundestagswahlkampf 2005, als Angela Merkel
       eben nicht gesagt habe, sie würde nach der Wahl keine Erhöhung der
       Mehrwertsteuer umsetzen, sondern künftig statt 16 Prozent 18 Prozent
       einführen. „Nach der Wahl waren es dann aber 19. Es war so haarscharf
       verlogen, dass man es als Wahrheit gelten lassen und dennoch nicht
       behaupten konnte, man wäre enttäuscht worden, weil man keine Lügen mehr
       aufgetischt bekommen hätte“, schreibt Richling in der sonntaz.
       
       Glenn Kessler schreibt bei der Washington Post die Kolumne „The Fact
       Checker“. Er ist darauf spezialisiert, den Wahrheitsgehalt der Äußerungen
       von Politikern genau zu prüfen. Aussagen bewertet er auf einer Skala von
       einem bis vier Pinocchios. Drei bis vier Pinocchios, also die eklatantesten
       Falschaussagen, sollten die Politiker vermeiden, schreibt Kessler, weil
       dann die Lüge offen zu Tage trete.
       
       ## Komplett ehrlicher Politiker ist unrealistisch
       
       Ein komplett ehrlicher, wahrhaftiger Politiker sei aber wohl unrealistisch.
       Wähler sollten Politiker aber für Falschaussagen zur Rechenschaft ziehen
       und diejenigen belohnen, die auch harte Wahrheiten aussprechen. Das könne
       das Verhalten von Politikern dauerhaft verändern, schreibt Kessler in der
       sonntaz.
       
       Werner Dieball trainiert als professioneller Coach unter anderem Manager,
       Führungskräfte und Politiker in den Bereichen Rhetorik, Körpersprache und
       Kommunikationswirkung. Ob der Wunsch besteht, dass Politiker die Wahrheit
       sagen, bezweifelt er: „Ein Politiker, der bei der inflationären Zahl von
       Rede- und TV-Auftritten im Wahlkampf schonungslos die Wahrheit ausspricht,
       ist nicht medienkompatibel und damit für die Mehrheit der Bürger unwählbar.
       Die Folgen seien jedoch häufig austauschbare, weichgespülte
       Politlaienschauspieler, die verunsichert um die Wette lächelten und sich
       dann in einer Art „emotionale Käseglocke“ wiederfänden.
       
       Auch Stimme, Körper- und Sprache würden kurzfristig auf Wahlkampfmodus
       getrimmt werden und der Inszenierung mehr wert gelegt zu werden als auf den
       Inhalt. „Die Wahrheit und damit auch die Persönlichkeit, bleiben dabei oft
       auf der Strecke.“
       
       Carmen Dege promoviert derzeit in Politischer Theorie an der Yale
       University. Sie sagt: „Was immer der Politiker entäußert, ist zunächst
       nicht Wahrheit oder Lüge, es ist Meinung.“ Wenn alles, was gesagt wird,
       wahr wäre, würde der Bürger seines mündigen Urteils beraubt werden. Er wäre
       nicht mehr in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, sondern nur noch jemand,
       der aus kaum unterscheidbaren Angeboten wählen muss. Bereits Platon habe
       Politikern das Recht zum Lügen eingeräumt, wenn sie dies im Interesse des
       Staates täten. „Aus dieser Perspektive ist die Lüge nicht mehr nach ihrem
       Verhältnis zur Wahrheit zu befragen, sondern welchen Schichten oder
       Interessengruppen sie diene oder schade.
       
       Die sonntaz-Frage „Müssen Politiker im Wahlkampf immer die Wahrheit sagen?“
       beantwortet außerdem Jürgen Weibler, Inhaber des Lehrstuhls für
       Betriebswirtschaft an der Fernuniversität Hagen, Gesine Palmer,
       Religionsphilosophin und Autorin politischer Reden, Udo Röbel, ehemaliger
       Bild-Chefredakteur und Krimiautor und Uwe Roos, Coach, der die Streitfrage
       auf der taz-Facebook-Seite kommentierte – in der aktuellen Ausgabe der
       sonntaz.
       
       13 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ceyhan Genç
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Streit der Woche: Muss man die Wahrheit sagen?
       
       Im Wahlkampf werden Versprechen gemacht. Viele werden gebrochen. Kann man
       Politiker an ihren Worten messen? Oder ist das unfair?