# taz.de -- Doping im Radsport: Systematische Verarschung
       
       > Einmal betrogen, wird Radprofi Lance Armstrong selbst zu einem epochalen
       > Betrüger. Nun baut er selbst ein versiertes und effektives Dopingsystem
       > auf.
       
 (IMG) Bild: Im Schmollwinkel: Es ist einsam geworden um Lance Armstrong.
       
       Im Frühjahr 1994 muss etwas mit Lance Armstrong passiert sein. Der Texaner
       war zu dieser Zeit ein Klassikerspezialist. Er verlegte sich auf Rennen wie
       Paris–Roubaix, Lüttich–Bastogne–Lüttich oder die Flandernrundfahrt. Aber so
       sehr sich Armstrong auch anstrengte, die Fahrer vom italienischen Team
       Gewiss-Ballan waren stets schneller. Legendär ist der dreifache Triumph der
       Ballan-Profis Moreno Argentin, Giorgio Furlan und Jewgeni Berzin beim
       Flèche Wallonne, dem Wallonischen Pfeil.
       
       So etwas hatte die Radsportwelt noch nicht gesehen: Das Trio war dem Feld
       72 Kilometer vor dem Ziel spielerisch leicht enteilt. Es war, als säßen sie
       auf Mopeds. Keiner konnte sie einholen. Nur ein paar Tage später wurde
       Armstrong von Berzin bei Lüttich–Bastogne–Lüttich an der Nase herumgeführt.
       
       Armstrong kam sich „gefickt“ vor, gefickt von einer Sportgruppe, die allem
       Anschein nach professionelles Epo-Doping betrieb – unter der Aufsicht des
       Sportmediziners Michele Ferrari. Zu dieser Zeit begründete „Dottore Epo“
       seinen Ruf als Schnellmacher; später sollte Armstrong „Schumi“ zu dem
       Doktor sagen, weil der deutsche Rennfahrer Michael Schumacher seinerzeit in
       einem – Achtung, Namensgleichheit – Ferrari-Rennauto saß und WM-Titel
       sammelte.
       
       Dass in den frühen 90er Jahren etliche holländische Radprofis wegen
       unsachgemäßen Epo-Gebrauchs an Blutverklumpung gestorben waren, ließ den
       Ruf nach professioneller sportmedizinischer Betreuung lauter werden. Da kam
       ein Mann wie Ferrari gerade recht, war er doch der Meinung, von Epo gehe
       bei korrekter Dosierung keine große Gefahr aus: „Es ist genauso gefährlich,
       zehn Liter Orangensaft zu trinken“, sagte er der französischen Sportzeitung
       l’Equipe. Danach wurde er zwar von Gewiss-Ballan gefeuert, doch die große
       Zeit von Ferrari sollte erst noch kommen.
       
       Wer es sich leisten konnte, ließ sich von Ferrari „beraten“, gern auch
       konspirativ auf Autobahnraststätten. Dabei ging es nicht nur um
       Trainingspläne. Spätestens 1995 wendete sich auch Armstrong an ihn. Das
       geht aus Ermittlungsakten der US-Antidopingbehörde Usada hervor. Sie
       belegen auf mehreren hundert Seiten, wie ausgeklügelt der US-Amerikaner,
       heute 41, dopte.
       
       Im Kreis seiner Vertrauten hatte er offenbar keine Skrupel, Doping
       zuzugeben. Als er sich im Oktober 1996 nach Indianapolis zur
       Krebsbehandlung begeben musste, gab er im Indiana University Hospital im
       Beisein seines damaligen Freunds und Radsportkollegen Frankie Andreu und
       dessen späterer Frau Betsy und seines Vertrauten Chris Carmichael zu, Epo,
       Testosteron, Wachstumshormon, Kortison und Steroide genommen zu haben.
       
       Zwei Ärzte, Armstrongs damalige Freundin Lisa Shiels und Stephanie
       McIlvain, eine Vertreterin des Sponsors Oakley, waren auch anwesend. Betsy
       Andreu fiel aus allen Wolken. Sie rang Frankie Andreu das Versprechen ab,
       niemals zu verbotenen Mitteln zu greifen. Er sollte sich nicht daran
       halten, gleichwohl verzichtete er laut eigener Aussage stets auf eine
       Zusammenarbeit mit Michele Ferrari.
       
       ## „Gaming the system“
       
       Aber da gab es ja noch andere Sportärzte, die sich mit „dem flüssigen Gold“
       (Armstrong), vulgo Epo, auskannten, Pedro Celaya zum Beispiel, der 1997 zum
       Team US Postal kam, oder Luis Garcia del Moral aus Valencia, der 1999 von
       dem neuen Teamchef Johan Bruyneel eingeführt wurde. Del Moral wurde „El
       Gato“, die Katze, genannt.
       
       Er behandelte alle Teammitglieder von US Postal, später dann die von
       Discovery Channel: Tyler Hamilton und Floyd Landis, Kevin Livingston,
       George Hincapie oder Christian Vande Velde. Im Mittelpunkt der Manipulation
       stand das Blutdopingmittel Epo, das in den 90er Jahren subkutan gespritzt
       wurde, ins Gewebe also. Als es 2001 bessere Epo-Tests gab, wurde das Mittel
       in kleineren Dosen in die Vene injiziert. Dadurch war es kaum noch
       nachweisbar.
       
       Man griff seit dieser Zeit auch verstärkt zum Eigenblutdoping. Zu diesem
       Zweck wurde ein halber Liter Blut entnommen und Wochen später in das
       Kreislaufsystem zurückgegeben. Auch auf diesem Gebiet war Lance Armstrong,
       glaubt man den Aussagen seiner ehemaligen Teammitglieder, sehr versiert. Im
       Umlauf waren darüber hinaus Testosteronpflaster, Synacthen (greift in den
       Hormonstoffwechsel der Nebennierenrinde ein), ein spezielles „Öl“ (eine
       Mischung aus Olivenöl und dem Steroid Andriol, das unter die Zunge
       gespritzt wird) oder Actovegin (ein Mittel aus Kälberblut).
       
       Wer wie Michael Barry oder Tom Danielson als junger, relativ unbeleckter
       Rennfahrer in Armstrongs Rennstall kam, der wurde innerhalb von Monaten zum
       Dopingexperten. Mochten sie anfangs noch, wie es in der Szene heißt, nur
       mit pan y agua, mit Brot und Wasser, fahren, so kamen im Laufe der Zeit
       etliche chemische Substanzen hinzu. Sie wussten: Wenn sie mithalten
       wollten, dann war Doping unumgänglich. Es wurde halsbrecherisch schnell
       gefahren, die Tour de France des Jahres 2005 mit 41,65 Stundenkilometer
       Durchschnittsgeschwindigkeit. Der Sieger: Lance Armstrong.
       
       Epo, das gekühlt werden muss, wurde in Thermoskannen mitgeführt oder im
       Kühlschrank der Team-Vans gelagert. Kuriere versorgten die Fahrer, entweder
       der berüchtigte „Motoman“ oder Teambetreuer Pepe Marti, der vorzugsweise
       von Valencia nach Gerona und Nizza, Armstrongs Trainingsorten, fuhr. Wenn
       sich um die Einstichstelle an Armstrongs Oberarm ein Bluterguss gebildet
       hatte, dann wurde die Stelle auch schon mal überschminkt, damit beim
       Gesundheitscheck vor der Tour de France kein Verdacht aufkam.
       
       Die Fahrer waren sich ohnehin sehr sicher. Dopingkontrolleure verlachten
       sie. Angst hatten sie nicht. „Gaming the system“, nannte das Armstrong.
       Frei übersetzt: Verarschung der Öffentlichkeit. Auch das ging ohne
       Probleme, gab es doch genug Journalisten, die Armstrongs Behauptungen
       („Meine Weste ist weiß wie Schnee“) gern glaubten.
       
       ## „Ich habe viel Zeit und Geld, und ich kann dich kaputt machen“
       
       In der Szene der Pedaleure hielten ohnehin alle dicht, denn mehr oder
       weniger steckten sie ja mit drin im Dopingsumpf. Abweichler im Peloton
       wurden sogleich abgestraft, bedroht, eingeschüchtert. Das erledigte der
       1999 zum Patron des Pelotons aufgestiegene Armstrong gern selbst. Als der
       Franzose Christophe Bassons in einer täglichen Le-Parisien-Kolumne die
       Sauberkeit seiner Kollegen anzweifelte, legte ihm Armstrong auf einer
       Tour-Etappe nahe, das Rennen zu beenden. Einen Tag später verließ Bassons
       die Frankreichrundfahrt. Armstrong freilich setzte seine Epo-Touren munter
       fort, siegte ein ums andere Mal – „riding with two fingers up my nose“;
       während andere also um Luft rangen, ging Armstrong niemals die Puste aus.
       
       Und doch fraß sich der Verdacht wie ein Geschwür in das System Armstrong
       hinein. Kritische Journalisten, in Armstrongs Augen allenfalls „Zyniker,
       Skeptiker und Eiferer“, stellten bohrende Fragen, deckten die Episode im
       Krankenhaus von Indianapolis auf. Gegen Michele Ferrari wurde ermittelt.
       Armstrong geriet in den Fokus. Angeblich gab es sogar einen positiven
       Dopingtest auf Epo bei der Tour de Suisse im Jahre 2001.
       
       Wie Floyd Landis behauptet, habe sich Armstrong und sein sportlicher
       Leiter, Johan Bruyneel, in das UCI-Hauptquartier zu Hein Verbruggen nach
       Aigle in der Schweiz begeben, um den Befund zu vertuschen. Es sei dabei
       Geld geflossen, Schweigegeld. Auf einer Trainingsfahrt im Jahre 2002 soll
       Armstrong ihm, Floyd Landis, das gesteckt haben. Die UCI, insbesondere
       Verbruggen, den Armstrong freundschaftlich „Hein“ nannte, verwahrt sich
       gegen die Vorwürfe.
       
       Je brüchiger Armstrongs Lügengebilde wurde, desto aggressiver attackierte
       er vermeintliche Renegaten, etwa den italienischen Radprofi Filippo
       Simeoni, auch er ein Kunde von Dottore Epo. Doch weil Simeoni im Gegensatz
       zu Armstrong über den Betrug berichtete, ächtete ihn der Amerikaner. „Ich
       habe viel Zeit und Geld, und ich kann dich kaputt machen“, soll er ihm
       gedroht haben. Offenbar reichte Armstrongs Arm weit, denn Simeoni, obwohl
       2008 italienischer Meister, durfte mit seinem Team nicht am Giro d’Italia
       jenes Jahres teilnehmen – ein einmaliger Vorgang im italienischen Radsport.
       
       1999 gewann Lance Armstrong seine erste Tour de France. Sie war nach dem
       Festina-Dopingskandal überschrieben mit dem Slogan „Tour der Erneuerung“.
       Was für eine Irreführung! In Wirklichkeit begründete sie das höchst
       effektive Dopingsystem Armstrong. Doch bis heute leugnet er eine
       Beteiligung.
       
       „Bin ich getestet worden? Oh ja, sehr oft. Wurde jemals etwas gefunden? Oh
       nein, nie. Das sind die Fakten. Und das ist es, was die Menschen glauben.“
       So lautet sein Glaubensbekenntnis. Jetzt sind die Beweise aber so
       erdrückend, dass der US-Amerikaner damit nicht mehr durchkommt. Seine „Band
       of Brothers“, wie er sein Team einst nannte, ist zerfallen. Fast alle aus
       der Bruderschaft haben gegen den Patron ausgesagt. Es ist einsam geworden
       um Lance Armstrong.
       
       21 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Völker
       
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