# taz.de -- Lutherpreis für Pussy Riot: Im Intimbereich des Glaubens
       
       > In Wittenberg zählt das Wort der Theologen – ob von Luther oder
       > Schorlemmer. Wie „unerschrocken“ darf es im Fall von Pussy Riot sein?
       
 (IMG) Bild: Stein des Anstoßes: Punk-Gebet von Pussy Riot in der Christus-Erlöser-Kathedrale im Februar.
       
       WITTENBERG taz | Warum noch Worte zu Pussy Riot? Friedrich Schorlemmer hat
       alles schon gesagt, doch sagt er es jetzt, ein wenig genervt, noch einmal:
       Nichts hält er von der Aktion in der Christus-Erlöser-Kathedrale, gewiss
       haben die jungen Frauen religiöse Gefühle verletzt, die Performance sei
       kein Gebet gewesen und preiswürdig sei diese Aktion auch nicht, schon gar
       nicht für eine Ehrung, die sich auf Martin Luther beruft. Aber damit keiner
       zweifelt: Die Strafe für diesen Auftritt sei völlig unangemessen, und ein
       Freund Wladimir Putins ist er ganz sicher nicht.
       
       Friedrich Schorlemmer sitzt in seiner Wohnung, hockt mehr auf der Kante als
       auf dem Stuhl und blickt bei seiner Philippika gelegentlich aus dem
       Fenster, wo das Laub in der Sonne leuchtet. Mal kneift er die Augen
       zusammen, mal reißt er sie auf, manche Sätze rattern aus seinem Mund,
       manche winden sich langsam heraus.
       
       Man kann das als affektiert bezeichnen, hier in Wittenberg immer ein
       bisschen so zu reden, als wäre jeder Satz in Bronze gegossen wie Luthers 95
       Thesen an der Tür der Schlosskirche. Friedrich Schorlemmer liegt dieser
       Gestus – als Pfarrer, Pazifist und Bürgerrechtler in der DDR und als
       Friedenspreisträger und „streitbarer Publizist“ im wiedervereinten
       Deutschland.
       
       Jetzt streitet der 68-Jährige mit der Stadtverwaltung von Wittenberg, dem
       Bürgermeister und dem Hauptausschuss, der am 13. September Pussy Riot für
       den Preis „Das unerschrockene Wort“, den alle zwei Jahre 16 deutsche
       Lutherstädte vergeben, nominiert hat.
       
       ## Ein Schrei, kein Gebet
       
       „Mein Hauptvorwurf an diese Pussys ist, dass sie nicht beten, sondern
       provozieren.“ Schorlemmer ist aufgestanden, mit verschränkten Armen macht
       er einen Schritt zum Kachelofen, wo der Doktorhut hängt, dreht sich wieder
       um, lässt sich fallen.
       
       „’Gott ist Dreck!‘ – ist das wirklich ein religiöser Refrain?“ Schorlemmer
       schüttelt den Kopf. „Das war kein Gebetsschrei, sondern ein Schrei nach
       Aufmerksamkeit. Dabei ist das Gebet der tiefste Ausdruck des Glaubens“,
       sinniert er. „Es ist etwas anderes, wenn Frauen in eine Kirche eindringen
       und rumhüpfen.“
       
       Aber gab es nicht auch Punkkonzerte in den Kirchen der DDR? Schorlemmer
       überlegt. „Wir haben ein anderes Kirchenverständnis. Bei uns kann man auch
       im Altarraum Grenzwertiges zeigen.“ Aber auch da gebe es Grenzen. „Bitte
       nicht so, dass man Menschen in ihren religiösen Gefühlen so verletzt.“
       
       Von Gotteslästerung und Blasphemie habe er hingegen nie gesprochen, wie ihm
       eine Zeitung angedichtet hat. „Das Wort Blasphemie verwende ich in diesem
       Zusammenhang nicht. Wegen des Blasphemievorwurfs sind schon Menschen
       verbrannt worden. Das Wort ist dadurch auch verbrannt.“ Schorlemmers Satz
       hallt wie ein Akkord nach.
       
       ## Der Glaube ist ein zartes Ding
       
       Und in welcher Kirche fand der Auftritt der Pussys statt! In der
       Christus-Erlöser-Kathedrale, die Stalin 1931 hat abreißen lassen. „Dass die
       wiederaufgebaut wurde, ist für die russische Seele von großer Bedeutung.“
       Kurzum – der Glaube ist ein zartes Ding. „Es gibt auch einen Intimbereich
       des Glaubens.“ Er legt dabei seine Hand bedächtig auf die ovale
       Tischplatte, als ob er diesen Gedanken versiegeln will. „Das Gebet ist die
       Grundspeise des Glaubens.“
       
       Plötzlich braust es wieder. „Als Fotzenaufstand, hat jemand gesagt, müsste
       das richtig übersetzt werden.“ Seltene Vokabeln aus dem Munde eines
       Pastors. Friedrich Schorlemmer hat sie in den letzten Tagen mehrfach
       gebraucht. Das „unerschrockene Wort“ setzt andere denkwürdige Wörter frei.
       Und was denken die orthodoxen Christen in Russland jetzt über die Stadt der
       Reformation? „Die kriegen den Lutherpreis von den Leuten in Wittenberg! Das
       fällt auf uns zurück. Ich fühle mich verarscht, um in dieser Sprache zu
       bleiben.“
       
       Im vorigen Jahr hat Schorlemmer die Laudatio auf Dmitrij Muratow gehalten,
       den Chefredakteur der Nowaja Gaseta aus Moskau, der den Preis „Das
       unerschrockene Wort“ für seine Redaktion entgegennahm. Fünf
       Redaktionsmitglieder sind wegen ihrer Recherchen ermordet worden, darunter
       2007 auch Anna Politkowskaja.
       
       Schorlemmer hat eine klangvolle Rede gehalten, hat Thomas Mann, Anna
       Achmatowa und Hilde Domin zitiert. Und natürlich Luther. Wer würde die
       Preisrede auf Pussy Riot halten? Schorlemmer fragt bloß: „Was soll Muratow
       denken?“
       
       ## „Ein verheerendes Signal“
       
       Dmitrij Muratov könnte schon im Bilde sein. Die Rossijskaja Gaseta, das
       Sprachrohr der russischen Regierung, berichtete von der Nominierung, dass
       Protestanten dagegen intervenieren, und zitiert den „bekannten deutschen
       Bürgerrechtler und Protestanten“ Schorlemmer: „Ein verheerendes Signal“.
       
       Horst Dübner wirkt auch nicht gerade glücklich. Am 13. September fand die
       erste Sitzung des Hauptausschusses nach der Sommerpause statt, erzählt der
       65-Jährige, der für die Linkspartei im Ausschuss sitzt. 24
       Tagesordnungspunkte hatten sich seit Juni aufgetürmt.
       
       Dübner empfängt im Büro der Linkspartei in der Pfaffengasse, die auf die
       Schlosskirche mit ihrer Thesentür zuläuft. Der Antrag besteht aus einem
       Satz: „Der Haupt- und Wirtschaftsausschuss beschließt, die russische
       Punkrock- Band ’Pussy Riot‘ als Vorschlag der Lutherstadt Wittenberg für
       den Preisträger 2013 für ’Das unerschrockene Wort’ zu nominieren.“
       Unterschrift Naumann, Oberbürgermeister.
       
       Neben Haushaltssatzung, Kindertagesstätten und dem Umzug der Städtischen
       Sammlungen sollte der Ausschuss zügig über Pussy Riot beraten. Dübner
       erinnert sich, dass mancher fragte: Haben wir noch Zeit? Nein, die
       Nominierungsfrist laufe ab. Es gab eine kurze Diskussion. Dübner hat das
       Ergebnis im Kopf. Fünf dafür, zwei dagegen, zwei Enthaltungen. Erledigt.
       
       ## Im Stadtrat rumort es
       
       Bei der Frage, ob mit Pussy Riot die Richtigen nominiert wurden, gebe es
       Für und Wider, sagt Horst Dübner diplomatisch. Die Mehrheit in seiner
       Fraktion sei der Meinung, dass es bessere Kandidaten gebe. Dübner selbst
       enthielt sich, den Beschluss trägt er mit.
       
       Andere sind weniger standfest. Im Stadtrat rumort es. Die „Allianz der
       Bürger“ will in der Stadtratsitzung am heutigen Mittwoch den Beschluss
       kippen. Die Stadt hat sich schon bei der Kommunalaufsicht erkundigt, ob die
       Nominierung rückgängig zu machen ist. Die habe abgewinkt. Alles korrekt,
       der Beschluss sei vollzogen.
       
       Horst Dübner bleibt gelassen, eines ist ihm klar: Es werde zukünftig einen
       anderen Weg geben, mit mehr Vorschlägen und einer längeren Diskussion. Eine
       Ausschreibung im Amtsblatt lädt nicht zur Beteiligung ein.
       
       Jetzt treffen auch Dübner die Blitze der Nominierungsgegner. Er überfliegt
       einen Brief: „Pussy Riot haben noch nichts geleistet … wussten, worauf sie
       sich einlassen … zwei Jahre – nicht zuviel und nicht zuwenig …“ Solche
       Schreiben stecken im Postkasten. Der Atheist Horst Dübner, letzter
       SED-Kreissekretär von Wittenberg, muss über so viel Ingrimm lächeln. Als ob
       die Seligkeit der Welt an einer Abstimmung im Hauptausschuss des
       50.000-Einwohner-Nestes hänge. Wittenberg ist nicht der Nabel der Welt.
       
       ## Das protestantische Rom
       
       Wittenberg ist immer noch das protestantische Rom und schickt sich 2017 an,
       500 Jahre Reformation zu feiern, ein evangelisches Glaubensfest mit Gästen
       aus allen christlichen Konfessionen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche gilt als
       äußerst schwieriger Kamerad.
       
       Mit dem Amtsantritt von Margot Käßmann hat sie vor drei Jahren alle
       Kontakte zur EKD eingefroren. Eine Frau als Gegenüber für den Patriarchen?
       Niemals. Dieses Problem hatte sich nach der Alkoholfahrt der
       EKD-Ratsvorsitzenden schnell erledigt. Doch jetzt vermengen sich Pussy Riot
       und Luther.
       
       EKD-Auslandsbischof Martin Schindehütte hat eine Botschaft an Metropolit
       Ilarion gesandt, den „Außenminister“ des Moskauer Patriarchats.
       Schindehütte schreibt, dass der Preis keine kirchliche Ehrung darstelle und
       dass die Nominierung von einem falschen Verständnis Luthers zeuge. Es liest
       sich wie eine größtmögliche Distanzierung von Wittenberg und seinem
       Vorschlag.
       
       Die evangelischen Amtsträger bemühen sich sehr um ihre Brüder aus Moskau,
       die sich über die Entweihung der Christus-Erlöser-Kathedrale in heiligem
       Zorn ergehen und ungerührt in deren Katakomben eine Autowaschanlage und
       eine chemische Reinigung betreiben.
       
       ## „Man muss sie vor dem Gefängnis retten“
       
       Solche Mysterien waren Luther ein Gräuel. „Es liegt nichts an mir, aber
       Gottes Wort will ich mit fröhlichem Herzen und frischem Mut verantworten,
       niemand angesehen, dazu mir Gott einen fröhlichen und unerschrockenen Geist
       gegeben hat“, steht an einem Balken in der Durchfahrt zum Lutherhaus
       geschrieben. Friedrich Schorlemmer kann dieses Lutherwort im Halbschlaf
       hersagen. Es hat sein Motto 2011 auch Chefredakteur Muratow mit auf den Weg
       gegeben.
       
       Der hat sich Sonntagabend aus Moskau gemeldet. Es war ein furchtbarer
       Auftritt, schreibt er, und wenn die Frauen nicht im Gefängnis säßen, wäre
       er nicht auf ihrer Seite. „Aber sie sitzen im Gefängnis!!! Wie könnte ich
       jetzt nicht empfehlen, die Frauen zu nominieren?“ Einer halben Stunde
       später schickt er hinterher: „Nicht ein Preis ist vonnöten, sondern etwas
       Wirkungsvolleres. Man muss sie vor dem Gefängnis retten.“ Es klingt wie ein
       Aufschrei.
       
       24 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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