# taz.de -- Sozialrechtlerin über Langzeitarbeitslose: „Ein gigantischer Niedriglohnsektor“
       
       > Die Sozialrechtlerin Helga Spindler spricht über die Pläne des
       > Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für Langzeiterwerbslose und sinnvolle
       > Arbeitsmarktkonzepte.
       
 (IMG) Bild: Damit Langzeitarbeitslose wieder ins Arbeitsleben finden, hat der Paritätische Wohlfahrtsverband ein Konzept entwickelt.
       
       taz: Frau Spindler, im letzten Jahr hat die Bundesregierung die Gelder für
       1-Euro-Jobs massiv zusammengestrichen. Jetzt haben der Paritätische
       Wohlfahrtsverband und der FDP-Abgeordnete Pascal Kober ein Konzept
       vorgelegt, wonach der zweite Arbeitsmarkt mit bis zu 200.000 zusätzlichen
       Stellen für Langzeiterwerbslose wieder massiv ausgeweitet werden soll. Ist
       das ein Versuch der Arbeitslosenindustrie, Boden zurückzugewinnen? 
       
       Helga Spindler: Zumindest haben Wohlfahrtsverbände mehrere Seelen in ihrer
       Brust. Eine Reihe ihrer Mitglieder sind in der Beschäftigungsförderung
       tätig, sie leiden unter der aktuellen Arbeitsmarktpolitik. Die Verbände
       müssen für ihre Mitglieder neue Finanzierungsmöglichkeiten erschließen.
       Aber mit diesem Konzept ist der Paritätische auf dem Holzweg.
       
       Warum? 
       
       Bisher liegt ja nicht viel mehr als ein zweiseitiges Papier vor. Das lässt
       viele Fragen offen, spricht aber dennoch schon von „Werbung für das Konzept
       im politischen Raum“. Nicht mal die Lohnhöhe ist derzeit geklärt. In einer
       Beispielrechnung ist von Finanzierungsmitteln für einen Lohn von 1.100 Euro
       die Rede, bestehend aus Regelsatz, Unterkunftskosten, Kranken- und
       Pflegeversicherung des Arbeitslosen sowie 220 Euro Arbeitgeberanteil. Ob
       davon netto mehr als der Regelsatz übrig bleibt und wie viele Stunden
       gearbeitet werden soll, ist völlig offen. Nur in einer Fußnote merkt der
       Paritätische an, dass er eigentlich eine Bezahlung nach Tarif will. Der
       FDP-Vertreter offenbar nicht. Damit ließe sich ein gigantischer
       Niedriglohnsektor schaffen, zumal in nicht gemeinnützige Firmen in den
       ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden soll. Das bisherige Kriterium, dass
       Jobs im zweiten Arbeitsmarkt nur zusätzlich sein und reguläre Stellen nicht
       ersetzen dürfen, würde abgeschafft.
       
       Wer kommt für die Jobs infrage? 
       
       Damit wären wir beim nächsten Problem, den Vermittlungskriterien. In dem
       Konzept ist von Arbeitslosen die Rede, die sich „aufgrund von Handicaps
       beim Ein- oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schwertun“. Das legt ein
       Menschenbild nahe, das Langzeitarbeitslose als eine Art sozial Behinderte
       begreift. Bislang unterscheidet sich der Schwerbehinderte vom
       Arbeitslosengeld-II-Empfänger aber dadurch, dass er seinen Arbeitsplatz
       frei wählen kann und leistungsgerecht bezahlt werden muss. Der Arbeitslose,
       der wie ein Behinderter klassifiziert wird, hat diese Rechte nicht. Ihm
       wird etwas aufgedrängt, dann kann er als billige Arbeitskraft eingesetzt
       werden.
       
       In Chemnitz hat der psychologische Dienst der Arbeitsagentur kürzlich einen
       Erwerbslosen als psychisch krank klassifiziert, sodass ihm eine Umschulung
       verweigert werden konnte. Hintergrund sind gekürzte Gelder für Maßnahmen.
       In Zukunft könnten Erwerbslose als gehandicapt klassifiziert werden, damit
       sie solche Jobs annehmen müssen. 
       
       Dass manipuliert wird, wenn erst mal die Gelder fließen, lässt sich nicht
       ausschließen. Ich halte angesichts der sich häufenden Vorfälle eine unter
       Sanktionsdrohung erzwungene psychologische Begutachtung für fragwürdig.
       
       Wie erfolgreich wird der Paritätische mit seinem Konzept sein? 
       
       Ich bin mir nicht sicher. Zumindest die Grünen haben kürzlich ein Konzept
       vorgelegt, das in eine ähnliche Richtung geht. Sie sagen nichts über die
       Lohnhöhe, wollen aber die Vermittlung vom Grad der Leistungsminderung
       abhängig machen. Zu deren Ermittlung sollen wieder der psychologische
       Dienst oder eine Kommission herangezogen werden. Liegen drei Kriterien von
       Vermittlungshemmnissen vor, kann der Job dauerhaft zu 100 Prozent gefördert
       werden. Damit wäre auch die bisherige zeitliche Befristung solcher Jobs
       weg.
       
       Meiner Beobachtung nach gibt es derzeit zwei getrennte Debatten. Die eine
       ist die offizielle, wonach Arbeitslosen Chancen angeboten werden, die sie
       aber oft nicht wollen. Und dann ist da die Sicht von Erwerbslosen. Sie
       sagen, wir werden in Jobs auf dem zweiten Arbeitsmarkt gezwungen, die uns
       nichts nutzen und nur dazu dienen, Beschäftigungsfirmen am Leben zu
       erhalten. Dringt diese Sicht noch zu den Beschäftigungsträgern vor? 
       
       Nicht mehr. Die Beschäftigungsfirmen haben sich ganz auf ihre Auftraggeber
       von der Bundesagentur für Arbeit eingestellt. Die will kurzfristige Erfolge
       und schickt gnadenlos in Kurse und geförderte Jobs, auch wenn die Leute
       nicht zu der Beschäftigungsfirma passen. Die Erwerbslosen selbst haben
       keine Möglichkeit, wirklich gehört zu werden. Unter der Situation leiden
       jene Beschäftigungsträger am meisten, die noch einen gewissen Anspruch
       haben und die Leute individuell unterstützen wollen.
       
       Warum? 
       
       Wer eine solche Unterstützung für Erwerbslose leisten will, muss sich auf
       die Menschen einstellen können und braucht ein bisschen Zeit. Und darf
       nicht aufgrund gewünschter kurzfristiger Vermittlungserfolge nur das
       Einfachste bieten dürfen. Die kleinen Beschäftigungsträger müssen jetzt
       genauso um ihre Zuwendungen fürchten wie die großen kommunalen
       Beschäftigungsgesellschaften, die sich schon lange darauf eingestellt
       haben, für die Kommunen Grundarbeiten kostengünstig zu erledigen. Entweder
       machen die Unternehmen, die bislang vernünftige Konzepte hatten, die
       Vorgaben der Bundesagentur mit – oder sie gehen in Insolvenz.
       
       Was wäre denn ein sinnvolles Konzept für den zweiten Arbeitsmarkt? 
       
       Parallel zu allen Bereichen, die der zweite Arbeitsmarkt ständig bedient,
       müsste systematisch reguläre Dauerbeschäftigung aufgebaut werden. Das ginge
       mit einem Quotensystem: Wenn heute ein Beschäftigungsträger 80 Prozent des
       Garten- und Landschaftsbaus einer Stadt übernimmt, sollte mit der Zeit eine
       Quote erreicht werden, dass es etwa nur noch 30 Prozent sind. Unter noch
       strengeren Quotenvorgaben könnte ich mir auch die Vermittlung in
       Helferberufe in der Privatwirtschaft vorstellen. Aber dafür enthält das
       Papier keine Missbrauchssperre.
       
       4 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Reeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Arbeitsmarkt
 (DIR) Paritätischer Wohlfahrtsverband
 (DIR) Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Subventionierte Arbeitsplätze: Rot-Grün plant für den Wahlsieg
       
       Rot-Grün will bei einem Wahlsieg 2013 öffentlich geförderte Beschäftigungen
       für Langzeitarbeitslose ausbauen. Das könnte 210 Millionen Euro kosten.
       
 (DIR) Umfrage über Arbeitslose: Und ewig funktioniert das Vorurteil
       
       Mehr als die Hälfte der Bundesbürger glaubt immer noch, Arbeitslose seien
       faul. Das zeigt eine neue Umfrage. Mit der Realität hat das jedoch wenig zu
       tun.
       
 (DIR) Armut und Reichtum: Mehr Jobs, größere Ungleichheit
       
       Die Ergebnisse des Berichts der Bundesregierung liegen vor: Trotz positiver
       Entwicklungen ist das Armutsrisiko ist seit 2005 gleich hoch geblieben.