# taz.de -- Die Wahrheit: Land der Verräter
       
       > Warum Spoilern die deutsche Wirtschaft gefährdet.
       
       Der Moment, in dem das Leben von Frank M. (32) zerfällt, ist der Moment, in
       dem er an einer Supermarktkasse steht und zwei Liter Milch auf das Band
       legt. Es ist kurz vor Ladenschluss, und zwei Jugendliche unterhalten sich
       über die Fernsehserie „Lost“. Noch ehe Frank M. begreift, diskutieren sie
       das Ende der letzten Staffel. Er hat keine Chance gegen den Spoiler. Danach
       fühlt er nur noch Leere. Die Milch wirft er gleich nach dem Verlassen des
       Supermarkts in den Müll.
       
       „Ich war doch erst in der Mitte der fünften Staffel angekommen, verstehen
       Sie?“, sagt er dem Reporter und zieht an seiner vierten Zigarette, „alles
       wurde mir genommen.“ Was nach jenem Tag im Supermarkt passierte, erzählt er
       langsam und stockend. Weil er sich nicht mehr aufraffen konnte, zur Arbeit
       zu gehen, wurde ihm drei Wochen später gekündigt.
       
       Tage später zog seine Freundin aus. Was ihm nun bleibt, ist Dosenbier, und
       die Hoffnung, die beiden Jugendlichen zu finden, die sein Leben zerstört
       haben. „Mir ist schleierhaft, warum ich sie nicht damals schon
       krankenhausreif geprügelt habe“, sagt er und nimmt noch einen Schluck Hansa
       Pils.
       
       Wenn deutsche Feuilletonisten über die neue Serienwelt schreiben, „Breaking
       Bad“, „The Wire“, „Mad Men“ oder „Dexter“, dann überschlagen sie sich vor
       Begeisterung. Diese komplexen Geschichten! Diese vielschichtigen
       Charaktere! Diese Möglichkeit, etwas auszuerzählen!
       
       Die Schattenseite aber ignorieren sie: Weil wir Serien zu unterschiedlichen
       Zeiten auf verschiedenen Medien gucken, im Fernsehen, auf DVD, als Stream,
       sind wir nicht wie früher, als dieser Typ diesen anderen Typen in der
       „Lindenstraße“ küsste, auf demselben Stand. Deshalb wächst die Gefahr, dass
       wir aus Versehen erfahren, wie Serien weitergehen oder, schlimmer noch:
       enden. In der Kantine, in der Bahn, in der Kneipe, bei Facebook.
       
       Nur allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, in welchem Umfang Spoiler
       eine Gesellschaft schädigen können. In der vergangenen Woche gab der
       Berufsverband Deutscher Psychologen bekannt, dass die posttraumatische
       Spoilerstörung die am stärksten wachsende Ursache für Depressionen ist.
       
       Noch erschreckender ist die Zahl, die die Bundesagentur für Arbeit gestern
       veröffentlicht hat. Demnach haben 27 Prozent der Arbeitnehmer sich schon
       mindestens einmal krankgemeldet, weil sie sich einen Spoiler eingefangen
       hatten. Tendenz steigend. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband klagt
       über Umsatzrückgänge, weil Leute aus Angst vor dem Verrat lieber zu Hause
       ihr Bier trinken.
       
       Langsam reagiert sogar die Politik. Bei der letzten
       Bildungsministerkonferenz wurde beschlossen, die Einführung des Schulfachs
       „Serienkompetenz“ in Angriff zu nehmen, um Jugendliche dafür zu
       sensibilisieren, nicht einfach überall ihr Serienwissen auszuplappern. Die
       CDU fordert mittlerweile drastische Strafen für wiederholtes Spoilern.
       „Sonst ist der Industriestandort Deutschland gefährdet“, heißt es in einer
       Mitteilung.
       
       Für Frank M. kommt das zu spät. Auch der dritte Psychologe konnte ihm nicht
       weiterhelfen. Wie er das Ende von „Lost“ eigentlich gefunden haben? Er
       winkt ab. „Ich hätte auch ohne Spoiler in Therapie gehen müssen.“
       
       3 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sebastian Dalkowski
       
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