# taz.de -- Soziales: "Sie rutscht in die Armut, er macht Karriere"
       
       > Armut ist vor allem ein Problem von Frauen, sagen die Beraterinnen der
       > Bildungsstätte "Raupe und Schmetterling". Und die Situation verschärft
       > sich.
       
 (IMG) Bild: Kinder Alleinerziehender sind besonders von Armut bedroht.
       
       taz: Frau Keukert, Frau Mennenga, von Armut betroffen sind viele Menschen
       in Berlin – Sie sprechen aber von Frauenarmut. Warum? 
       
       Pia Keukert: Armut stellt sich bei Frauen nicht nur anders da, sie kommt
       auch häufiger vor als bei Männern. Und sie nimmt zu.
       
       Warum? 
       
       Bernhild Mennenga: Das sind zunächst altbekannte Gründe: Frauen verdienen
       im Durchschnitt weniger, haben öfter Lücken im Erwerbsleben oder sich auf
       die Versorgung durch einen Ehepartner verlassen, der diesen Vertrag
       irgendwann auflöst.
       
       Keukert: Dazu kommen aktuelle Entwicklungen wie das neue Unterhaltsrecht
       nach Scheidungen, das Frauen schnell in Armut rutschen lässt. Und die
       Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen, die sich vor allem auf
       Frauen auswirkt.
       
       Wie kommt das? 
       
       Keukert: Viele Bereiche, in denen Frauen arbeiten, erleben eine
       Dequalifikation. Früher feste Arbeitsplätze etwa im Handel, aber auch im
       Sozialbereich, in der Pflege, werden zu Minijobs oder Honorartätigkeiten
       mit Niedriglohn. Und viele Frauen sind aus verschiedenen Gründen auch
       bereit, weit unter ihrer Qualifikation zu arbeiten. Dabei sind die meisten
       längst gut ausgebildet – oft haben sie bessere Abschlüsse als Männer. Das
       spiegelt sich aber auf dem Arbeitsmarkt nicht wider.
       
       Mennenga: Vor allem, wenn Kinder da sind, sind Frauen oft bereit, jeden Job
       zu machen.
       
       Keukert: Und dann schnappt die Teilzeitfalle zu: Frauen, die einmal in
       Teilzeit arbeiten, haben kaum noch eine Chance, je wieder in
       Vollzeitbeschäftigung zu kommen – das gilt besonders für die, die über 40
       sind. Sie landen in Arbeitsverhältnissen, die nicht existenzsichernd sind.
       Und bleiben da.
       
       Wieso ist der Wiedereinstieg denn so schwer: Fehlt es an Kinderbetreuung? 
       
       Keukert: Nein, Berlin ist das beste Beispiel dafür, dass das nicht in
       erster Linie an fehlenden Kitaplätzen liegt. Es liegt an Arbeitgebern, die
       keine Möglichkeiten für passende Vereinbarkeitsmodelle bieten.
       
       Mennenga: Und an Kindsvätern, die nicht mitziehen.
       
       Haben Sie Beispiele? 
       
       Mennenga: Wir hatten eine Frau hier in der Beratung, die als
       Fachverkäuferin Vollzeit bei einem Lebensmitteleinzelhändler gearbeitet hat
       – einem hochpreisigen, nicht die als Arbeitgeber schon verrufenen
       Billigmarken. Nach der Pause für ihr drittes Kind stand sie plötzlich als
       Alleinerziehende da – aber auch schon mit einem Kitaplatz für das jüngste
       Kind, der Betreuung von 7 bis 18 Uhr bot. Sie hätte damit die frühe und die
       mittlere Schicht im Geschäft abdecken können. Trotzdem hat ihr Arbeitgeber
       sie aufgefordert, einen Auflösungsvertrag zu unterschreiben – weil sie eben
       nicht für alle Schichten zur Verfügung stünde.
       
       Keukert: Und ein Beispiel für den anderen Fall: Wir beraten eine gut
       ausgebildete junge Frau hier, die bis zur Geburt ihres Kindes den gleichen
       Job gemacht hat wie der Kindsvater, bei der gleichen Qualifikation. Nach
       der Geburt blieb sie zu Hause, er arbeitete weiter. Nach der Trennung hat
       sie sich als Beraterin selbstständig gemacht, weil sie den alten
       Vollzeitjob, bei dem sie oft reisen musste, nicht mehr stemmen konnte. Sie
       konnte aber ständig Aufträge nicht pünktlich erfüllen, weil der Mann sich
       weigerte, sich um das Kind zu kümmern. Sie rutscht also in die Armut, er
       macht weiter Karriere – bei gleicher Ausgangslage.
       
       „Raupe und Schmetterling“ berät Frauen nun seit 30 Jahren in Sachen Beruf
       und Weiterbildung – sind wir Frauen denn gar nicht schlauer, nicht
       selbstbewusster geworden? 
       
       Keukert: Bei vielen gerade der jüngeren Frauen, die zu uns kommen, muss man
       eigentlich sagen: Sie haben alles richtig gemacht. Sie sind hervorragend
       ausgebildet, haben kluge Karrierestrategien verfolgt. Trotzdem merken sie,
       dass sie oft nicht erreichen, was männliche Kollegen erreichen. Und dann
       kommt die Familienphase.
       
       Mennenga: Ich finde es immer noch unglaublich, was Frauen für eine
       Leidensfähigkeit haben, was sie zu ertragen bereit sind, wenn sie Kinder
       haben. Sie tun fast alles dafür, dass es den Kindern gut geht und sie nicht
       zum Amt gehen müssen. Das führt dazu, dass sie bereit sind, schlecht
       bezahlte und die miesesten Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Und sie
       leiden aktuell auch besonders unter den immensen Mietsteigerungen.
       
       Warum das? 
       
       Mennenga: Weil sie der Kinder wegen alles dafür tun, nicht umziehen zu
       müssen, weg aus dem vertrauten Umfeld der Kinder. Dann sind viele Frauen
       bereit, Mieterhöhungen, die über dem liegen, was die Jobcenter bezahlen,
       aus eigener Tasche zuzuschießen. Und dann droht den Hartz-IV-Empfängerinnen
       oder Aufstockerinnen die Schuldenfalle. Wir haben hier Frauen, die schon
       alles, was sie an Wertvollem besaßen, zu Geld gemacht, verkauft haben – um
       ihre Kosten decken zu können.
       
       Was müsste geschehen, damit sich da etwas ändert? 
       
       Mennega: Erst mal die sofortige Abschaffung aller Minijobs durch Umwandlung
       in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse.
       
       Keukert: Und es müsste eine Neubewertung, eine Aufwertung bestimmter
       Arbeitsfelder geben. die sich auch in der Entlohnung bemerkbar macht. Wenn
       die Gehälter von Frauenarbeitsplätzen besser werden, wird sich auch die
       Frage, wer nach der Geburt von Kindern zu Hause bleibt, anders stellen.
       
       Mennenga: Zudem plädiere ich für einen Individualanspruch gegenüber dem
       Jobcenter, also die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften.
       
       Warum das? 
       
       Mennenga: Im Moment ist es so: Zieht eine alleinerziehende
       ALG-II-Empfängerin oder Aufstockerin mit einem gut verdienenden Mann
       zusammen, zahlt das Jobcenter ihr nichts mehr – auch nicht für die Kinder.
       Dabei würde kein Gericht der Welt ihr das Recht zusprechen, von dem Mann
       für sich oder ihre Kinder Unterhalt einzufordern. Er muss nicht für sie
       zahlen. Sie hat dann also gar kein eigenes Einkommen mehr.
       
       Keukert: Frauen müssen lernen, ihre eigene unabhängige Existenzsicherung
       auch dann in den Vordergrund zu stellen, wenn sie Kinder haben. In der
       Regel arbeiten Frauen ja viel mehr als Männer. Nur werden sie dafür nicht
       entlohnt. Die Politik und die Medien stellen häufig die Erfolgsgeschichten
       in den Vordergrund von Frauen, die Familie und Beruf perfekt vereinen. Sie
       sagen nicht dazu, was diese Frauen monatlich verdienen, was sie in
       entsprechende Unterstützung investieren können. Das löst auch Scham aus.
       Frauen vergleichen diese Beispiele mit ihrer Situation und denken, sie
       hätten versagt. Viele trauen sich dann irgendwann gar nicht mehr, sich auf
       die Jobs zu bewerben, für die sie eigentlich die Qualifikation haben.
       
       Wie helfen Sie den Frauen? 
       
       Mennenga: Wir bieten zum einen ganz konkrete Beratung und Hilfe beim Umgang
       mit dem Jobcenter, beim Wiedereinstieg in den Job, bei der Suche nach
       Weiterbildungen.
       
       Keukert: Und wir machen Workshops zu Themen wie Selbstwert, Zielbestimmung,
       Kompetenzbilanz. Allein das Bewusstwerden eigener Kompetenzen und das
       Feedback einer Gruppe können schon etwas in Bewegung setzen.
       
       Werden Sie denn für Ihre Arbeit anständig bezahlt? 
       
       Keukert: Alle Mitarbeiterinnen von Frauenberatungsstellen in Berlin werden
       nicht tarifgerecht bezahlt. Auch das zeigt, welchen Stellenwert die Politik
       dem Thema beimisst.
       
       4 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alke Wierth
       
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