# taz.de -- Comic „Lulu. Die nackte Frau“: „Mama, Mama nimm schnell ab“
       
       > Der Comic „Lulu“ handelt von einer mittelalten Frau, die sich verloren
       > hat. Er wäre eine gute Inspirationsquelle für die Familienministerin.
       
 (IMG) Bild: „Sie haben also drei Kinder? Und dann ein richtiger Vollzeitjob. Ja?“
       
       Sechzehn Jahre ist es her, dass Lulu als Chefsekretärin gearbeitet hat.
       Nachdem sie drei Kinder großgezogen hat, möchte sie nun wieder in ihren
       Beruf einsteigen. Eingeschüchtert sitzt die burschikose Vierzigjährige mit
       dem nachlässig gebundenen Pferdeschwanz im Bewerbungsgespräch vor einem
       gönnerhaften Chef. „Sie haben also drei Kinder? Und dann ein richtiger
       Vollzeitjob. Ja?“
       
       Es ist offensichtlich nicht die erste Absage, die Lulu erfahren muss. Zu
       alt, nicht attraktiv genug, zu lange erziehungsbedingt aus dem Beruf – der
       Ehemann ein latent aggressiver Alkoholiker, oder, wie seine älteste Tochter
       es formuliert, ein „Säufer und Schwachkopf“, der Lulu im Suff als fette
       Wachtel beschimpft: nach dem letzten Bewerbungsgespräch kehrt Lulu einfach
       nicht mehr nach Hause zurück.
       
       Der französische Comic-Zeichner Étienne Davodeau entwirft das sensible
       Porträt einer Frau, die sich verloren hat. Die Orientierungspunkte im Leben
       sind ihr abhanden gekommen. Davodeau, der sonst beinahe fotorealistische
       Hintergründe zeichnet, stellt Lulu in diesen Szenen der Verlorenheit in
       einen perspektivlosen weißblauen Raum. Die einzelnen Panels sind klein, sie
       vermitteln gleichzeitig den Eindruck von Enge und Leere, ein Ausweg aus der
       Situation ist nicht zu erkennen. Eine drückende Stille liegt über den
       Bildern. Nichts an Lulus Ausbruch ist dramatisch oder laut, selbst die
       blauen und beige-sandigen Farbtöne sind denkbar unaufgeregt.
       
       „Lulu. Die nackte Frau“ erzählt die Geschichte der erwachsenen Ausreißerin
       auf mehreren (Zeit-) Ebenen. Freunde Lulus haben sich in ihrem Haus
       getroffen, um das bruchstückhafte Wissen über ihren Verbleib
       zusammenzutragen. Es wird eine lange Nacht werden, in der ein Freund und
       die verständnisvolle sechzehnjährige Tochter von den Erlebnissen der
       Verschwundenen berichten. Es ist entsprechend der Blick von außen, der
       Lulus Tun kommentiert, während sie sich selbst einfach treiben lässt.
       
       ## Das Handy landet im Meer
       
       Sie fährt ohne Geld ans Meer, beginnt eine Affäre mit einem gerade
       haftentlassenen Mann und benimmt sich insgesamt eher, wie man es wohl von
       einem Teenager erwarten würde. Irgendwann landet auch das Mobiltelefon mit
       dem „Mama, Mama nimm schnell ab“-Klingelton im Meer. Eine Befreiung, die an
       ihrem Körper abzulesen ist.
       
       Lulus Schultern straffen sich, ausgelassen tobt sie über den Strand. In
       endlosen Spaziergängen streift sie scheinbar ziellos durch die Gegend, bis
       sie einen Entschluss fasst. Der Autor lässt seine Leser dabei lange über
       das Schicksal Lulus im Unklaren, immer wieder gibt es in der zwischen Orten
       und Zeiten hin- und herwechselnden Erzählung aber Hinweise, dass die
       versammelten Freunde vielleicht einer Toten gedenken. Auch dem Leser wird
       mithin eine gewisse Verunsicherung und Orientierungslosigkeit zugemutet.
       
       ## Die Geschichte einer mittelalten Frau
       
       So weit ist es also gekommen, dass ein Verlag es sogar in Deutschland wagen
       kann, einen Comic herauszubringen, der die Geschichte einer ganz und gar
       unauffälligen mittelalten Frau erzählt, die im Übrigen nie nackt zu sehen
       sein wird – und das im Stil des sozialen Realismus. Davodeaus Figuren sind
       in jeder Beziehung fast zu unspektakulär realistisch geraten, um so
       bemerkenswerter ist die Spannung, die er dennoch erzeugt.
       
       Sein alltägliches Drama spiegelt ohne Frage die Situation zahlloser Frauen,
       ob diese aber gewohnheitsmäßige Comic-Leserinnen sind, scheint doch eher zu
       optimistisch gedacht. In Frankreich hat Lulu aber immerhin schon so viel
       Aufmerksamkeit erregt, dass der Stoff gerade mit Karin Viard in der
       Hauptrolle verfilmt wurde. Ganz besonders möchten wir auch unserer plan-,
       fantasie- und tatenlosen Familienministerin die Lektüre dieser fein
       beobachteten Selbstsuche empfehlen. Als Inspirationsquelle für eine kluge
       Politik.
       
       ## „Die nackte Frau“. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter
       Verlag, Bielefeld 2012, 160 Seiten, 24,80 Euro
       
       16 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katja Lüthge
       
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