# taz.de -- Erinnerung: "Behandelt wie in totalitären Staaten"
       
       > Anstaltskleidung, Akkordarbeit und Androhung von Gewalt: Als Jugendlicher
       > kam Otto Behnck in ein Erziehungsheim in Schleswig-Holstein.
       
 (IMG) Bild: Otto Behnck gelingt es, die Zeit im Landesfürsorgeheim Glückstadt "als Erfahrung" zu bewerten.
       
       Otto Behnck hat einen kräftigen Händedruck. Überhaupt strahlt er eine
       solide Entschlossenheit aus, die durch die gelegentliche Zurückhaltung noch
       verstärkt wird. Dann verschränkt er die Arme vor der Brust, schaut einen
       länger an und lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Das Wetter da draußen,
       die Kälte, die Nässe, das gefällt ihm. Otto Behnck hat am Anfang der Kieler
       Fußgängerzone, dort, wo jetzt Kinder Schlittschuh laufen, einen
       Verkaufsstand: Hausschuhe, Handschuhe, Mützen. Was er anbietet, geht gut.
       Richtig gut.
       
       Einzelhandelskaufmann hat Behnck, Jahrgang 1951, über Umwege gelernt und
       sich gleich danach selbstständig gemacht mit seinem Stand. 1972 war das,
       nach seiner Volljährigkeit, als es wieder aufwärts ging. Denn Otto Behnck
       war Heimkind. Oder wäre es richtiger zu sagen: Er ist Heimkind? Behnck holt
       tief Luft. „Was ich erlebt habe, das ist heute keine Belastung mehr“, sagt
       er. „Ich sehe das immer mehr als Erfahrung.“
       
       Anders als viele andere kam Behnck nicht als kleines Kind ins Heim, um dann
       von Einrichtung zu Einrichtung durchgereicht zu werden, sondern mit 18.
       Heute würde man sagen: als junger Erwachsener. Damals gab es zu Hause immer
       wieder Ärger, er wollte sich nicht schlagen lassen und nicht gängeln
       lassen. Er unterbrach seine Lehre, trampte mit einem Schulfreund einen
       Sommer lang durch Dänemark, haute einfach ab. Wieder zurück, kam Behnck in
       einer Wohngemeinschaft unter. Als er kurz bei seinen Eltern vorbeischaute,
       eigentlich gleich weiter wollte nach West-Berlin, holten die die Polizei.
       
       Mit dem örtlichen Jugendamt hatten seine Eltern verabredet, der noch nicht
       Volljährige solle in einer Einrichtung der freiwilligen Erziehungshilfe
       unterkommen – stattdessen landete er im Landesfürsorgeheim Glückstadt, mehr
       Knast als Heim, und die meisten Heime waren damals schon schlimm genug.
       Seinen Eltern, denen klar wurde, in welche Situation sie ihn gebracht
       hatten, gelang es schließlich, den Sohn mit Hilfe eines Anwalts wieder
       herauszuholen.
       
       Da hatte Behnck schon in grauer Anstaltskleidung im Akkord für umliegende
       Firmen Netze geknüpft, in Einzelhaft gesessen: im Keller, im Bunker.
       „Einmal kamen die Erzieher in den Schlafsaal gestürmt, einer hatte so einen
       Totschläger in der Hand, schlug auf mich ein und brüllte ’Du Hund! Du Hund!
       Du Hund!‘“, erzählt er. „Können Sie sich das vorstellen? Ich hatte doch
       nichts getan. Ich hatte nicht mal Punkte in Flensburg.“
       
       Heute sitzt Otto Behnck in der schleswig-holsteinischen Kommission, die in
       Kiel die Umsetzung des „Fonds Heimerziehung in der Bundesrepublik
       Deutschland in den Jahren 1949–1975“ begleitet, als Vertreter der Opfer, an
       einem Tisch mit den Vertretern der beiden großen Kirchen, des Landes und
       der Stadt. 120 Millionen Euro stehen dem Fonds bundesweit zur Verfügung.
       Als Anfang der 1990er Jahre damit begonnen wurde, über das Schicksal der
       Heimkinder zu berichten, nahm Behnck Kontakt zu ehemaligen Mitzöglingen
       auf, gründete einen kleinen Verein.
       
       Im Landesarchiv in Schleswig lagerten damals 7.000 Akten über Glückstadt,
       die sie einsehen konnten. Allzu oft existieren keine Unterlagen –
       rechtzeitig vernichtet, aus Datenschutzgründen. „Wir sind keine Historiker,
       wir sind keine Wissenschaftler und auch keine Juristen“, sagt Behnck – „wir
       sind einfach mit unserem Menschenverstand vorgegangen.“ Es sei eine
       hilfreiche Zeit gewesen: „Die Jahre, wo ich das aufgearbeitet habe, das ist
       meine Therapie gewesen.“
       
       Er war auch eingeladen, dem Runden Tisch in Berlin, wo über eine
       Entschädigung der Heimkinder verhandelt wird, über seine Zeit in Glückstadt
       zu berichten: Stand vor der Tür, wurde aufgerufen – und ging nicht rein.
       „Ich behaupte immer, ich bin ein tougher Kerl“, erinnert er sich. „Aber da
       habe ich geweint, da ging nichts mehr.“
       
       Das sei nun, bitte, nicht misszuverstehen, sagt Behnck: Die allermeisten,
       die sich mit dem Schicksal der Heimkinder beschäftigt haben, hätten einen
       guten Job gemacht. Seien immer sehr bemüht, den richtigen Ton zu treffen.
       Aber etwas Entscheidendes fehle nach wie vor, sagt er und pocht mit dem
       Finger auf die Tischplatte, als wolle er ihn durchbohren: „Warum sagt man
       nicht klipp und klar, dass man gegen unsere Menschenrechte verstoßen hat?
       Dass man uns behandelt hat, wie man sonst nur Menschen in totalitären
       Staaten behandelt?“ Behnck wiegt den Kopf, ahmt mit seiner Stimme nach, was
       er stets zur Antwort erhält: „Dann sagt man mir ’Ja, euch ist großes
       Unrecht angetan worden, keine Frage, das erkennen wir auch an – aber ein
       Unrechtsstaat ist die Bundesrepublik nicht gewesen‘.“
       
       Er lacht kurz auf: „Mit allen soll ich mich übrigens Duzen“, mit den
       Wissenschaftlern, den Politikern, mit den Kirchenleuten. Nicht, dass er da
       grundsätzlich etwas dagegen hätte – und doch: Es bleibe eine grundsätzliche
       Distanz zwischen all den Experten und Politikern und Verwaltungsleuten
       einerseits und einem Heimkind wie Otto Behnck andererseits.
       
       „Nächstes Beispiel“, braust er noch einmal auf: „Warum spricht man nicht
       klar und deutlich von Zwangsarbeit, die wir leisten mussten? Aber dann
       heißt es: ’Ja, schon, ihr seid zur Arbeit gezwungen worden, aber
       Zwangsarbeit ist das nicht gewesen‘.“ Die Firmen, die damals von den
       Heimzöglingen profitiert haben, mussten übrigens nichts in den Fonds
       einzahlen.
       
       Wie viele Heimkinder haben sich denn nun gemeldet, um sich beraten zu
       lassen, um im nächsten Schritt Ansprüche anzumelden? Otto Behnck kennt die
       Zahlen aus Schleswig-Holstein, natürlich. Er holt einen Schnellhefter
       hervor, blättert und liest vor: 265 Personen hätten sich bisher an die
       Kieler Anlaufstelle gewandt, an Rentenausgleich seien 979.200 Euro
       ausgezahlt worden, für Folgeschäden 606.111 Euro und 32 Cent.
       
       21 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frank Keil
       
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