# taz.de -- Ein Norddeutscher in Tirol: Du hörst den Schnee
       
       > Seine Wangen rot, stämmige Statur, und er bleibt immer ruhig: der
       > Meissner-Wirt. Sven, ein Norddeutscher 1.720 Meter über dem Meer. Ein
       > Besuch.
       
 (IMG) Bild: Da hinten, endlich! Das Meissner-Haus.
       
       ELLBÖGEN taz | Der Meissner-Wirt wollte Schütze werden, also ging er runter
       ins Dorf, nach Ellbögen, das Viggartal hinab, an der Kapelle vorbei, im
       Herbst 2006 war das, er war neu in Tirol: Man mochte ihn, leutselig, wie er
       war. Er ging ins Gasthaus St. Peter. Nebenan die Kirche, der Friedhof, zwei
       Dutzend Gräber. Es gab Zipfer Bier, wie immer.
       
       „Ich will Schütze werden“, sagte der Meissner-Wirt.
       
       „Schütze?“, fragten die Leute aus dem Dorf.
       
       Sie riefen den Hauptmann der Schützenkompanie der Gemeinde. Die Kompanie
       nahm 1797 am Abwehrkampf gegen Napoleon teil, sie ist bekannt für ihre
       exakt geschossenen Ehrensalven.
       
       Sie standen an der Theke und fragten sich, ob es das jemals gegeben habe:
       ein Deutscher bei den Tiroler Schützen. Sie fanden keine Antwort und
       vertagten die Frage.
       
       Aber Sven, den Deutschen aus Göttingen, nannten sie fortan respektvoll den
       „Meissner-Wirt“.
       
       Am Morgen, ein Samstag im Dezember, Wolken in den Bergen, Schneetreiben,
       geht Sven in den Keller, Kartoffeln lagern dort, Zwiebeln, pasteurisiertes
       Bier. Heute kommen Gäste.
       
       Er holt Holz, heizt den Kaminofen an. Sven geht in die Stube. Was ihn in
       die Berge brachte, auf diese Hütte, auf 1.720 Meter über dem Meer?
       
       Erst der Zufall. Ausbildung zum Bankkaufmann, Sven ernährte sich von
       Pizzabringdiensten und McDonald’s, eine Bewerbung von vielen hatte Erfolg:
       Kreissparkasse Miesbach-Tegernsee, Voralpen. Man sieht Berge von dort,
       nicht die höchsten, aber immerhin. Sven begann, Bausparverträge zu
       verkaufen, was ein gutes Gefühl ist, im Moment des Verkaufs, aber es gibt
       Besseres.
       
       Dann das Buch. „In eisige Höhen“ von John Krakauer. Ein Tatsachenbericht
       über eine missglückte Expedition auf den Mount Everest. 1998 machte er
       einen Bergsteigerkurs in den Ötztaler Alpen. Dann die Hütten. Die erste
       steht zwischen zwei Gipfeln an einem Abgrund, die Tegernseer Hütte, 1.650
       Meter über dem Meer. Sven arbeitete als Küchenhilfe. Als er in die dritte
       Saison ging, im Frühjahr 2005, an einem Sonntag, schrieb er eine E-Mail an
       den Alpenverein: Ich suche nach einer Hütte, ganzjähriger Betrieb,
       unterhalb der Baumgrenze, nicht im Skigebiet. Seine Hütte. Das
       Meissner-Haus im Viggartal, südlich des Patscherkofel, Tirol. Ein Postbus,
       der in den Serpentinen wartet bei Gegenverkehr. Eine eigene Quelle.
       
       Im Winter hört man den Schnee fallen.
       
       2006 wurde Sven Pächter, er kam mit seiner Freundin Peggy.
       
       Silke saß, zu der Zeit noch, in der Marketingabteilung eines Museums in
       Düsseldorf, kurz nach Karneval 2008, und beschäftigte sich mit dem Phänomen
       „Blur-out“; mit Menschen, die Konferenzen einberufen, obwohl es nichts zu
       besprechen gibt. Sie sah eine Anzeige im Internet: „Aushilfe für alle
       Hüttenbereiche gesucht“, Meissner-Haus im Viggartal.
       
       „Ich will nach Tirol“, sagte Silke.
       
       Silke schickte eine Bewerbung, sie kündigte ihre Wohnung und nahm
       unbezahlten Urlaub.
       
       „Was machst du?“, fragten ihre Freunde, aber Silke hatte ein Urvertrauen
       wie zuletzt als Kind. Sven sah ein Foto von Silke. Silke sah ein Foto von
       Sven. Keine Gefahr, sich zu verlieben, dachte Silke. Sie täuschte sich.
       
       Sven steht in der Küche, Samstagabend, die Gäste sind da, Töpfe mit
       Rotkraut, Brühe für die Frittatensuppe, ein Topf mit Rindsgulasch, ein Topf
       mit Semmelknödeln. Er steckt ein Braten-Thermometer in einen Knödel. „71,5
       Grad Kerntemperatur“, sagt er. Auf seinem Fleecepulli ist ein Skifahrer
       eingestickt, Berge, Edelweiß. Seine Wangen rot, stämmige Statur, und er
       bleibt immer ruhig; die Gäste rufen, der Hund bellt.
       
       In der großen Stube, Holzvertäfelung aus Zirbenholz, ein Kaminofen aus
       Meißner Porzellan, wartet eine Geburtstagsgesellschaft, sie kamen am Abend
       mit Fackeln das Tal hinauf, die Hunde begannen zu bellen, an den Fenstern
       in der Stube drängten sich Herren vom Alpenverein aus Bayern und sahen die
       Lichter näher kommen; sie hatten über Lawinensuchgeräte diskutiert, den
       Lawinenairbag, den Lawinenball, den Lawinenschnorchel, sie hatten über die
       Möglichkeit gesprochen, in Lawinen zu überleben. Die gibt es, aber nicht
       immer.
       
       „Wennst sieben Meta verschütt bist, brauchst nimmer suchen, da brauchst an
       Bagger.“
       
       „Keine Chance.“
       
       „Sieben Meta Verschüttung gab’s nicht mal in Galtür.“
       
       „In zwei Minuten muss die Suppe raus“, sagt Silke, sie trägt ein Tablett
       mit leeren Gläsern durch den Flur. In der Küche sitzt Tochter Anna,
       zweieinhalb Jahre alt, Marmeladenbrot auf dem Teller. Bald bekommt sie eine
       Schwester.
       
       Ihr erster Sommer im Viggartal, 2008, Silke saß vor dem Haus, hörte die
       Dire Straits und schaute ins Tal. Sie ging über die Wiesen, sie sah die
       Landschaft und wollte sie einrahmen. Wenn sie in der Küche arbeitete,
       Salate vorbereiten, Kartoffeln schälen, konnte sie Dreitausender sehen, bei
       gutem Wetter. Einmal unterhielt sie sich mit Sven übers Reisen.
       
       „Wohin willst du?“, fragte Sven.
       
       „Nach Patagonien, Argentinien“, sagte Silke.
       
       Ihr erster Winter im Viggartal, 2008, Silke blieb mit dem Schneemobil
       stecken, auf halber Strecke zwischen Ellbögen und dem Meissner-Haus, zwei
       Stunden Fußweg, 700 Höhenmeter. Im Haus musste sie ihr Handy ganz nah ans
       Fenster legen, damit sie Empfang hatte, aber das ließ sie bald sein.
       
       Silke und Sven wurden ein Paar, Peggy ging, und im Mai 2010 heirateten sie
       in der Gemeindehalle, danach fuhren die Gäste in einer Wagenkolonne hoch
       zum Meissner-Haus, die Agrargemeinschaft hatte eine Sondergenehmigung
       erteilt. Die Band spielte die Scorpions, die Gäste tanzten.
       
       Am Bass der Wirt vom Gasthaus St. Peter, den sie den Tischler-Hans nennen.
       Um halb fünf ging Silke ins Bett, sie war im achten Monat schwanger.
       
       Sven serviert in der kleinen Stube Frittatensuppe, Rotkraut, Semmelknödel,
       Hirschgulasch für die Herren vom Alpenverein. In der Weihnachtskrippe
       fehlen Figuren.
       
       Er bringt Obstler: Auf einen lawinenfreien Skitourenauftakt! Die Herren vom
       Alpenverein heben die Gläser auf Höhe der Stirn: Auf einen lawinenfreien
       Skitourenauftakt!
       
       Wie haben sie sich verliebt?
       
       „Auf den ersten Blick“, sagt Silke. Sie geht durch die Küche, am Gasherd
       vorbei, an den Töpfen. Sven lehnt am Kühlschrank. Im April kommt der Föhn
       ins Viggartal, Schmelzwetter, der Weg ins Dorf vereist.
       
       An Ostern kommt das zweite Kind, eine Tochter. Silke wird für einige Zeit
       in einer Wohnung im Dorf wohnen, weil der Hubschrauber nur bei gutem Wetter
       zum Meissner-Haus fliegt und das Schneemobil nicht fahren kann auf Eis.
       
       Der Meissner-Wirt ist kein Schütze, noch immer nicht.
       
       21 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Dachsel
       
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